08.08.2021
„Middle East Union“? Eine Utopie zum Greifen nah
Logo des Festivals in Berlin. Bild: Middle East Union Festival
Logo des Festivals in Berlin. Bild: Middle East Union Festival

Das Festival „Middle East Union“ in Berlin liegt einer radikalen Vision zugrunde – die Schaffung einer nahöstlichen Vereinigung nach dem Vorbild der EU. Hier erklären die Kurator:innen, was sie dazu bewegt hat.

dis:orient e.V.  ist Medienpartner von The MIDDLE EAST UNION Festival.

„Berlin ist nicht nur eine Stadt. Es ist ein politisches Labor, das eine neue Art von Anfang durchsetzt”, schrieb der Forscher Amro Ali mit Bezug auf die Exilant:innen aus dem Nahen Osten, welche in Folge der andauernden Proteste und den damit einhergehenden staatlichen Repressionen ihre Heimat verlassen mussten. Dieser Satz trifft aber auch auf uns zu - die Israelis, die hier im migrantischen Berlin den Raum fanden, neue gemeinsame Visionen künstlerisch und politisch zu entwerfen. Kann aber dieser kreative Prozess Menschen aus dem ganzen Nahen-Osten zusammenbringen?

Selbst jetzt, während wir diesen Beitrag schreiben, fällt es uns schwer, die richtige Terminologie zu finden. Denn Begriffe wie „nahöstlich“ können den unterschiedlichen Communitys, auf die wir uns hier beziehen, kaum gerecht werden.

Wir haben uns dennoch für den Begriff „Naher Osten“ in unserem Festival-Titel entschieden, trotz der Schwierigkeiten, die es mit sich bringt, wenn man viele Identitäten und unterschiedliche Kulturen unter einem Namen oder einer Kategorie zusammenfasst. Wir aber wollen uns diesen Begriff aneignen, ihm eine inklusivere und nicht nur rein geografische Bedeutung verliehen, und somit bis nach Berlin mitsamt der hier lebenden Exil-Communitys erweitern.

Die EU als Vorbild für Westasien und Nordafrika?

Die Idee eine „Nahost-Union“ zu gründen – wenn auch vorläufig nur in Form eines Festivals – wurde aus unserem Aufenthalt als Migrant:innen innerhalb der Europäischen Union geboren. Angesichts der komplexen Geschichte des europäischen Kontinents, Jahrzehnte des Kolonialismus, zwei Weltkriege sowie den Völkermord an den europäischen Jüdinnen und Juden , kann die Europäische Union als ein gewisser Erfolg gewertet werden: Ländern, die durch Kriege voneinander getrennt wurden, gelang es, eine demokratische Einheit zu bilden, die sich um die Verbreitung liberaler Botschaften bemüht, seien sie nun sozialer, wirtschaftlicher oder politischer Natur.

Werden auch die Bewohner:innen des Nahen Ostens in der Lage sein, sich zusammenzutun und eine Nahost-Union zu errichten, welcher eine ähnliche Vision zugrunde legen würde, nämlich ein einheitlicher humaner, ökonomischer und sozialer Rahmen, unter dem sich die Nahoststaaten vereinen?

Koloniale Grenzziehungen und Kriegszüge haben den Nahen Osten in einen dauerhaften Krisenzustand versetzt. Erst kürzlich, im Mai diesen Jahres, fanden massenhafte Proteste gegen die Räumung von Familien in Ost-Jerusalem und anschließend auch Kämpfe zwischen der Hamas-Regierung in Gaza und dem Staat Israel statt. Die Unruhen, die dabei in gemischten jüdischen und palästinensischen Städten ausbrachen, zwangen uns erneut daran zu denken, wie untragbar die Lebensumstände in Israel-Palästina für alle Bewohner:innen sind. Abgesehen von diesem konkreten Fall, der uns, den Kurator:innen des Festivals, am Herzen liegt, gibt es zahlreiche weitere Konflikte und Bürgerkriege in der Region, deren Ausgang noch offen ist.

Das Festival strebt ein utopisches Ziel an: Es möchte eine Verbindung und Verknüpfung zwischen verschiedenen Identitäten und Regionen herstellen, die derzeit scheinbar nicht zu verbinden sind. Wir möchten fragen: Was wäre im Nahen Osten passiert, wenn er nicht jahrelang durch europäische Mächte besetzt gewesen wäre? Welche Bürgerkriege hätten vermieden werden können, wenn Gebiete nicht nach dem Wunsch europäischer Imperialisten entlang horizontaler, symmetrischer Trennlinien aufgeteilt wären? Grenzen, die ohne jegliche humane Logik quer durch Gemeinden, Familien und Kulturen verlaufen.

Im Rahmen unseres Festivals stellen wir uns die Fragen: Was kann die verschiedenen Communitys, die im Nahen Osten leben, verbinden und verknüpfen? Welche Vision streben wir für diese Region an? Welche Organisation können wir begründen, damit sie unsere Ziele vorantreibt, egal ob diese wirtschaftlich oder human sind oder die Zukunft des ganzen Planeten betreffen?

Mit unserem Festival wollen wir den Dialog über die folgende utopische Idee bestärken: Wie könnte die Nahost-Union aussehen, falls sie überhaupt jemals entstehen sollte? Wonach wird sie streben? Wie würden die natürlichen Ressourcen unter den Staaten der Region verteilt, die bereits jetzt an den Folgen der Klimakrise zusammenbrechen?

Welche Gesetzesänderungen könnten den Bedürfnissen aller Mitglieder der Union, einschließlich Frauen, LGBT-Menschen, Kinder und Geflüchteter, gerecht werden? Was könnten wir von der Europäischen Union lernen, und welche ihrer Schwachstellen sollten wir vermeiden? Welche Neuerungen könnten wir einbringen und was könnten wir der Europäischen Union vielleicht sogar geben, ja beibringen?

Diese Debatte muss stattfinden

Heute, während die globale menschliche Wirklichkeit unerträglich ist, uns Naturkatastrophen auf dem ganzen Planeten heimsuchen, ein schreckliches Virus wütet und die Südhalbkugel um Impfdosen bettelt; während internationale Migrationsbewegungen aus dem Süden und Osten in den Norden und Westen weiterhin tagtäglich viele Menschenleben fordern, wollten wir für einen Augenblick innehalten und einen Raum für Gespräch über neue Reflexionsmöglichkeiten schaffen.

Als Ausländer:innen sind wir uns der Problematik bewusst, die dieser Debatte vor dem deutschen anstatt unseres heimischen Publikums zugrunde liegt . Doch diese Debatte muss stattfinden und auf eigenen Füßen stehen, damit über die verborgene, vergessene und verdrängte Möglichkeit für die ganze Region, vereint hinter gemeinsamen höheren Zielen, gesprochen werden kann.

Wir laden alle Interessierten dazu ein, gemeinsam mit uns vom 12.-15. August 2021 einen ersten Schritt zu wagen und Utopien zu denken.

 

 

(Kurator) ist ein arabisch-jüdischer Dichter, Autor und Journalist, der in Berlin lebt. Zu seinen verschiedenen Schriften gehören sieben Gedichtbücher, Theaterstücke, Artikel, and eine Sammlung von Kurzgeschichten. Er war einer der Gründer der Gruppe “Poetic Hafla”, die Literatur-, Musik- und Kunst-Performance-Events mit einer Vielzahl von...
(Kuratorin) ist eine Schriftstellerin, deren Belletristik in Lilith, Jalta, Emrys Journal & The Washington Square Review erschien. Ihre Geschichte “The Kinneret” wurde für den Sue Lile Inman Fiction Prize ausgewählt. Sie erhielt Stipendien vom Vermont Studio Center und der McDowell Colony. Ihre Kurzgeschichtensammlung Moving On From Bliss (Tel...
Redigiert von Anna-Theresa Bachmann, Henriette Raddatz
Übersetzt von Filip Busau