29.10.2015
Nachbarn
"Vor Ort" - ein Refugee Welcome Center somewhere in Deutschland. Photo (Ausschnitt): Rasande Tyskar (CC-BY-NC 2.0).
"Vor Ort" - ein Refugee Welcome Center somewhere in Deutschland. Photo (Ausschnitt): Rasande Tyskar (CC-BY-NC 2.0).

Saskia Benter arbeitet im Asylheim Rathaus Wilmersdorf in Berlin. Auf diesen Seiten berichtet sie über Begegnungen mit Menschen, die ihr Einblick in ihr Leben gewähren - persönlich und in Fragmenten, während alles andere weiter läuft, und die Abgrenzung von „hier“ und „dort“, „wir“ und „ihr“ sich vielleicht langsam etwas aufzulösen beginnt.

Zum ersten, zweiten und dritten Beitrag geht es hier.

„Fünfmal wäre ich fast gestorben. Fünfmal war es echt knapp. Aber ich habe es immer geschafft. Ich war immer so weit, dass ich mich schon damit abgefunden habe. Und eine Sekunde später war ich abermals am Leben.“

Das wiederholt er immer wieder. Sein Gesicht liegt dabei sehr offen da und er sieht mich ganz erstaunt an: „Warst du nie kurz davor zu sterben?“

„Nein, ich glaube nicht,“ sage ich zögernd. „Ich bin einmal hingefallen als Kind und habe mir die Stirn an einem Stein aufgerissen. Das ging bis zum Knochen und musste genäht werden.“

„Hattest du Angst?“

„Daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber an die Taubheit nach dem Sturz, die Klarheit, mit der ich die Kinder um mich herum stehen sah, daran erinnere ich mich irgendwie. Meine aufgeschreckte Mutter, die mich zum Waschbecken trug und Wasser auf die offene Wunde laufen ließ. Ich verstand nicht, warum alle sich so viel bewegten und mich mit Furcht ansahen. Da sah ich mich kurz im Spiegel, den roten Kopf voll mit Blut und ich fing an zu weinen. Doch, ich glaube ab diesem Moment hatte ich Angst.“

„Ging es dir kurz nach dem Sturz gut, als du noch nicht begriffen hattest was los war?“ „Ich fühlte mich ruhig, ruhiger als die anderen.“ „Manchmal,“ sagte er dann vorsichtig, „vermisse ich diese Ruhe, wenn man akzeptiert, dass es gleich mit einem vorbei sein könnte. Diese Ruhe gehört einem ganz allein. Eine Sekunde danach ging es dann zwar immer weiter und es wurde wieder laut, aber das Gefühl bleibt.“

Adil ist ein junger Mann mit schweren Schultern und Händen, aber seine Augen heben ab.

Es ist seine zweite Flucht nach Deutschland. In den 1990er flüchtete er mit seinen Eltern schon einmal vor der Gewalt der Jugoslawienkriege. Als separatistische Gruppen im Kosovo dann einen Parallelstaat einführten, der sich nach dem Krieg für einige Zeit gewaltfrei hielt, kehrte seine Familie mit ihm zurück. Doch danach folgten wieder Waffengewalt, der Kosovokrieg der Nato, erneute Flucht.

Eine tiefgreifende Sprachlosigkeit legt sich auf meinen Mund, während ich Adil zuhöre. Er hatte nie genug Zeit, um Deutsch wirklich sprechen zu lernen und gleichzeitig viel zu oft fürchten müssen, Serbisch zu sprechen und als derjenige aufzufallen, der er ist.

„Als nach einer kurzen Ruhepause die Gewalt wieder eskalierte, konnte ich es nicht mehr ertragen, unschuldig zu sein. Jeden Tag lief ich auf die Straße und schmiss mich da rein, wo zwei sich schon prügelten. Aber keiner reagierte sich je so richtig an mir ab, vielleicht sah ich zu weich aus oder war zu jung. Auch wenn diese Dinge eigentlich immer als erstes an Bedeutung verlieren,“ erzählt er und wischt seine Worte wieder weg.

Die Art und Weise, wie wir Geschichte unterrichten, hier der Anfang eines Krieges, dort dessen Ende, entspricht nicht der Tatsache, dass Adil nicht einfach aufhörte, sondern weiterlebt. Aber Europa zieht abgeschlossene Geschichten vor.

So viele europäische Nachbarn reißen Zäune hoch, um das Feld abstecken zu können, in dem sie ihre Demokratie betreiben. Adil hat sich am Draht dieser Zäune die Finger und Hosen aufgerissen. Für mich ist es dagegen derzeit unerträglich auf abgezäunten Wiesen zu stehen – vielleicht weil ich nicht mit den Wunden leben muss, die der Draht hinterlässt.  

Saskia Benter arbeitet in der Geflüchtetenunterkunft Rathaus Wilmersdorf in Berlin.