31.12.2020
Neue Räume – Neue Bilder
Seit einigen Jahren gibt es deutlich mehr arabische Literatur in deutscher Übersetzung. Foto: pixabay
Seit einigen Jahren gibt es deutlich mehr arabische Literatur in deutscher Übersetzung. Foto: pixabay

In Deutschland leben immer mehr arabischsprachige Menschen. Wirkt sich das auch auf die Literaturszene hierzulande aus? Dis:orient sprach mit drei Akteurinnen aus dem Literaturbetrieb über die Etablierung arabischer Literatur in Deutschland.

Dieser Text ist Teil der Reihe Leipzig Postkolonial, die im Rahmen des Kooperationsseminars „Grenzen und Möglichkeiten journalistischer Berichterstattung aus postkolonialer Perspektive zu WANA (Westasien, Nordafrika)“ an der Universität Leipzig entstanden ist. Das Seminar fand im Sommersemester 2020 unter Leitung von dis:orient-Mitglied Leonie Nückell bereits zum zweiten Mal statt.

Auf die Frage nach der derzeitigen Auftragslage antwortet Leila Chammaa, die als Literaturübersetzerin aus dem Arabischen tätig ist: „Früher konnte man sich kaum über Wasser halten, weil keine Aufträge da waren. Heute gibt es jede Menge an Aufträgen.“ Auf dieselbe Frage antwortet Larissa Bender, die ebenfalls zu den anerkanntesten Übersetzer:innen aus dem Arabischen in Deutschland zählt,: „Wir vier bis fünf Übersetzer:innen hatten im Laufe der letzten Jahre immer mehr zu tun. Mittlerweile sind auch die Nachwuchsübersetzer:innen ausgelastet.“

Arabischsprachige Literatur spielt in Deutschland seit einigen Jahren eine immer größere Rolle. Ein wichtiger Unterschied zwischen früher und heute sei, so Leila Chammaa weiter, dass viele der übersetzten Autor:innen jetzt in Deutschland leben. Früher sei das nur selten der Fall gewesen.

In der Tat ist Literatur von arabischsprachigen Schriftsteller:innen mittlerweile ein fester Bestandteil der Literaturszene in Deutschland. Eine ungeheure Energie geht von diesen Autor:innen aus. Sie gründen Initiativen, führen Projekte, Veranstaltungen und Workshops durch, vernetzen sich, publizieren und trotzen besonderen Herausforderungen. Und sie haben Erfolg. Ihr Publikum wächst rasant und sie können, so Chammaa, „sowohl auf institutionelle als auch finanzielle Unterstützung zählen.“ Anfang der 1990er Jahre, als sie mit dem Übersetzen begann, sah die Lage noch ganz anders aus. „Damals gab es auch schon arabischsprachige Autor:innen in Deutschland, aber die waren Einzelkämpfer:innen. Es gab keine Szene im heutigen Sinne.“

Wachsendes Interesse seit Ende der 90er-Jahre

Kaouther Tabai ist Schriftstellerin und lebt seit Jahrzehnten in München. Bereits in den 1970er Jahren gab es vereinzelt Verlage, die sich um arabische Literatur bemühten. Und „als Nagib Mahfuz 1988 den Nobelpreis für Literatur bekam, wurde ein breiteres Interesse geweckt. 2004 war ‚die arabische Welt‘ das Thema der Frankfurter Buchmesse. Damals wurden viele Bücher übersetzt und dem Publikum vorgestellt.“

„Auch durch die steigende Zahl geflüchteter Menschen aus Syrien in Deutschland hat sich einiges verändert“, so Larissa Bender. Unter ihnen seien auch einige Dichter:innen und Autor:innen. „Dadurch wächst das öffentliche Interesse und viele Verlage öffnen sich für Literatur aus dem arabischsprachigen Raum.“

Kaouther Tabais Erfahrungen bei Lesungen bestätigen dies: „Die Menschen sind plötzlich neugierig auf die Sprache. Das Publikum wünscht sich oft, die Texte auch auf Arabisch zu hören, einfach nur, um dem Klang der Sprache zu lauschen.“

Einzug in den Literaturbetrieb und Zugang zum Publikum

Auch das Interesse deutscher Literaturinstitutionen an arabischsprachiger Literatur ist gewachsen. Mittlerweile gibt es eine große Anzahl verschiedener Initiativen, Projekte und Veranstaltungen, die sich speziell mit arabischer Literatur beschäftigen.

Mit der vom Lyriker Ramy Al-Asheq kuratierten und moderierten Lesereihe „My favorite Kitab“ am Literaturhaus Berlin, zog 2018 zum ersten Mal arabische Literatur in ein etabliertes Literaturhaus ein. „So werden arabischsprachige Autor:innen in Deutschland sichtbar und können ihre Lesekultur beschreiben“, erklärt Chammaa.

Dies gilt zum Beispiel für Lina Atfah. Die syrische Schriftstellerin studierte arabische Literatur in Damaskus und kam 2014 nach Deutschland. 2017 nahm sie an dem Workshop „Poesie der Nachbarn“ des Künstlerhauses Edenkoben teil. In der dabei entstandenen Anthologie „Deine Angst – dein Paradies“ ist sie ebenso vertreten wie in „weg sein – hier sein“, einer Anthologie mit Texten von aus Syrien, Jemen und Iran geflohenen Autor:innen.

Autor:innen aus Krisengebieten bietet auch das literarische Portal weiterschreiben.jetzt, eine Plattform, um Texte zu veröffentlichen und deutschsprachige Tandempartner:innen zu finden. So lernen die neu in Deutschland lebenden Kolleg:innen den Literaturbetrieb kennen und erhalten rasch einen Zugang zum Publikum in Deutschland.

Lina Atfahs Tandempartnerin Nino Haratischwili nominierte sie für den "Kleinen Hertha-Koenig-Literaturpreis". „Das war der entscheidende Schritt für die Veröffentlichung meines Gedichtbandes ‚Das Buch von der fehlenden Ankunft‘ im letzten Jahr.“

Dem deutschen Publikum präsentieren sich die Autor:innen daneben in vielen weiteren Initiativen. Auch wenn zum Beispiel das Erscheinen der vom Goethe-Institut herausgegebenen Literaturzeitschrift Fikrun wa Fann („Gedanke und Kunst“) im Jahre 2016 eingestellt wurde, haben sich im Laufe der Jahre etliche neue Initiativen etabliert. Weitere Möglichkeiten für Schriftsteller:innen sich zu vernetzen bieten zum Beispiel die WIESE („wie es ist“), eine Schreibwerkstatt der Neuen Nachbarschaft/moabit, oder die seit 2018 stattfindenden „Arabisch-deutschen Literaturtage“ sowie die arabische Bibliothek Baynatna in Berlin und das arabisch-deutsche Kulturmagazin fann („Kunst“).

Ein besonderes Augenmerk verdient an dieser Stelle, dass sich ein Großteil der Szene in Berlin konzentriert. Viele Schriftsteller:innen mag das Image der Stadt als Kunstmetropole anziehen. Aber auch die vergleichsweise große Anzahl an in Berlin gegebenen Förderprojekten für Schriftsteller:innen spielt hier eine Rolle.

Raum für etablierte arabische Schriftsteller:innen

Kaouther Tabai organisiert die  „Tage der syrischen Dichtung in Deutschland“ und  erklärt: „Die Tage der syrischen Dichtung richteten sich vor allem an Dichter:innen der älteren Generation, die sich noch nicht so in Deutschland vernetzen konnten wie die jüngere. Ihnen fiel es deshalb schwerer, sich vorzustellen, Hilfe zu erhalten oder einfach nur gehört zu werden. Viele von diesen waren in Syrien sehr etabliert und geschätzt, aber hier in Deutschland fehlten ihnen einfach die Möglichkeiten.“

All diese Initiativen helfen Autor:innen, sich zu vernetzen und ihre Kunst zu verbreiten. Aber auch die sozialen Medien spielen eine wichtige Rolle. „Wir unterhalten uns viel über Facebook und Twitter. Dort tauschen wir uns aus und lesen voneinander. Das ist für die Vernetzung innerhalb Deutschlands wichtig. Aber auch, um Kontakt zu Bekannten und Freunden:innen in Syrien zu halten“, erklärt Lina Atfah.

Zwischen den Sprachen

Um Literatur für Verlage und die deutsche Leser:innenschaft interessant zu machen, sollte sie natürlich möglichst auch auf Deutsch verfügbar sein. Neben den bereits erwähnten Berufsübersetzer:innen wie Larissa Bender und Leila Chammaa, gibt es auch Kooperationen zwischen deutsch- und arabischsprachigen Autor:innen, wie den vorgestellten Projekten weiterschreiben.jetzt oder WIESE. Außerdem übersetzen sich einige Schriftsteller:innen auch selbst.

So auch Kaouther Tabai, die ihre Gedichte mal auf Deutsch, mal auf Arabisch schreibt, und sagt: „Ich nehme mir alle Freiheiten für die Übersetzung. Ich halte mich nicht fest ans Original, weil in der Zielsprache neue Räume und Bilder entstehen, die es in der ersten Sprache nicht gab.“

„Nach wie vor ist es ein sehr harter Kampf, einen Verlag zu finden“, erzählt Kaouther Tabai weiter. Und doch entsteht eine immer breitere Verlagslandschaft, die auch arabischsprachige und aus dem Arabischen übersetzte Literatur veröffentlicht. „Früher gab es eigentlich nur Hans Schiler [heute Schiler&Mücke, Anm. d. Autors], den Unionsverlag, den Lenos-Verlag und Edition Orient, die in den 1970er und 1980er Jahren begannen, arabische Literatur zu vertreten. Dann kamen einige Verlage hinzu, die Übersetzungen arabischer Bücher veröffentlichten – aber nur, wenn diese Bücher zuvor im englisch- oder französisch-sprachigen Raum entdeckt worden waren und Erfolg hatten. Mittlerweile hat sich dies – auch durch die Präsenz arabischsprachiger Autor:innen in Deutschland – geändert. Diese Literatur ist ein regelrechter Markt geworden.“

Das Wort als Herzstück der Literatur

Trotzdem haben vor allem geflüchtete Autor:innen mit besonderen Herausforderungen zu kämpfen, wie der Sachbericht „Exil in der Bundesrepublik Deutschland. Bedingungen und Herausforderungen für Künstlerinnen und Künstler“ eindrucksvoll zeigt.

Neben dem Aufenthaltsstatus, der (Nicht-)Anerkennung von Abschlüssen und vielen weiteren Schwierigkeiten wird hier auch die Barriere der Sprache im Exil thematisiert: „Das Wort ist das maßgebliche Werkzeug, geradezu das Herzstück der Literatur. Die Erfahrung des Verlusts der Sprache ist somit für Schreibende besonders groß, wie alle Interviewten aus dem Literaturbetrieb akzentuierten.“ Lina Atfah nahm an der Befragung für den Bericht teil und spricht außerdem von einem finanziellen Druck, der durch ihre Situation als Geflüchtete auf ihr lastet.

Diese Belastung wurde ihr aber zumindest teilweise durch zwei Stipendien genommen. „Mit Hilfe dieser Stipendien konnte ich mich ohne finanzielle Schwierigkeiten oder Druck von der Bundesagentur für Arbeit auf das Schreiben konzentrieren. Ein Stipendium bedeutet Selbstständigkeit. Davor konnte ich mich nicht wirklich konzentrieren. Es war wirklich sehr wichtig für mich.“ Der oben genannte Sachbericht stellt fest, dass eine „beachtenswerte Anzahl [der] in der Bundesrepublik im Exil lebenden Künstlerinnen und Künstler gefördert wurden.“

Mehr als „Flucht“ und „Exil“

Selbstverständlich sind nicht alle arabischsprachigen Autor:innen in Deutschland Geflüchtete und leben hier im Exil. Trotzdem sehen sie sich immer wieder stereotypen Erwartungen und Vorurteilen ausgesetzt. Zum Beispiel, „exotisch zu schreiben“, so Kaouther Tabai.

Bei den Autoren:innen, die tatsächlich als Geflüchtete nach Deutschland kamen, sind die Erwartungen besonders häufig an ihr Schicksal geknüpft. „Ich finde es gut, dass es Stipendien und Initiativen gibt. Aber es ist eben oft so, dass die Leute dann als ‚Flüchtlinge’ vorgestellt werden. Ich kenne einige Schriftsteller:innen, die von sich sagen, sie seien in erster Linie Schriftsteller:innen und keine ‚Flüchtlinge’“, sagt Leila Chammaa.

Das Thema beschäftigt auch Lina Atfah: „Geflüchtete zu sein, ist Teil meiner Realität. Das ist echt und das kann ich nicht ignorieren. Trotzdem habe ich in Deutschland auch vieles als Schriftstellerin gemacht, nicht als Geflüchtete. Nichtsdestotrotz begleiten mich die Wörter ‚Flüchtling‘ oder ‚Geflüchtete‘ sehr häufig auf literarischen Veranstaltungen. Es gibt auch viele Ideen, die ich zum Beispiel als Mensch oder als Frau verbreiten möchte, die nichts mit dem Thema Flucht zu tun haben."

Fest steht:  Arabischsprachige Menschen werden literarische Spuren in Deutschland hinterlassen. „Es entsteht etwas Neues, das merke ich selbst, wenn ich die Gedichte übersetze. Das wird bestimmt Einfluss auf die deutsche Literatur und überhaupt auf die Entwicklung in Deutschland haben. Und da wird noch mehr kommen, da bin ich mir sicher", sagt Kaouther Tabai. Oder wie die Einleitung der Anthologie „weg sein – hier sein“ feststellt: „Diese Texte sind Teil der Kultur in Deutschland, ein neuer Teil, der schon jetzt nicht mehr wegzudenken ist.“

 

 

Laurens Reber studiert Ethnologie und Sinologie an der Universität Leipzig.
Redigiert von Clara Taxis, Eva Hochreuther