04.07.2017
Nicht-staatliche Politik: Eine Chance für den euro-mediterranen Raum
Aufnahme bei einer Sitzung der Union für den Mittelmeerraum im Europäischen Parlament. Foto: "Union for the Mediterranean: EP hosts debate on the way forward after the Arab Spring" (https://flic.kr/p/eaEpyn) von European Parliament (https://www.flickr.com/photos/european_parliament/). Lizenz: CC BY-NC-ND 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/)
Aufnahme bei einer Sitzung der Union für den Mittelmeerraum im Europäischen Parlament. Foto: "Union for the Mediterranean: EP hosts debate on the way forward after the Arab Spring" (https://flic.kr/p/eaEpyn) von European Parliament (https://www.flickr.com/photos/european_parliament/). Lizenz: CC BY-NC-ND 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/)

Politik entsteht nicht nur in Regierungszimmern, sondern auch durch nicht-staatliche Organisationen und Initiativen. Im euro-mediterranen Raum starten sie so konkrete Ergebnisse auf regionaler Ebene. Diese lebhafte Komponente geht im Großteil der Berichte über die fehlende Substanz der politischen Zusammenarbeit im Mittelmeerraum unter.

Auf Grundlage der Politik der Europäischen Union gegenüber den Nicht-EU-Anrainerstaaten des Mittelmeers sind in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche regionale Institutionen und Politikfelder entstanden, beispielsweise die Union für den Mittelmeerraum. Gleichzeitig kritisieren Analysten wie auch Medien immer wieder die geringe Substanz dieser Regionalpolitik, da die Länder zu verschieden seien und es zu viele bewaffnete Konflikte in der Region gebe.

Kann die euro-mediterrane Makroregion angesichts dessen eine Eigendynamik entwickeln, die über ihre Verankerung in der EU hinaus geht? Für die EU ist belegt, wie nicht-staatliche Akteure dazu beitragen, Institutionen oder regionale politische Maßnahmen zu verändern oder gar zu stärken. Wie wahrscheinlich ist ein solcher Effekt in einer heterogenen, unbeständigen und politisch nur ansatzweise definierten Region?

Nicht-staatliche Gruppen sind, über ihre Rolle beim Umsetzen von EU-Projekten hinausgehend, häufig Sammelbecken von Menschen oder Organisationen, die diverse nationale und kulturelle Hintergründe einbringen und an das Potenzial der Zielregion ihrer Aktivitäten glauben. Davon ausgehend oder parallel dazu verfolgen viele Organisationen konkrete politische Ziele, bei denen es neben den Einzelinteressen der jeweiligen Organisation regelmäßig auch um eine breiter gefasste, teilweise auch idealistisch begründete Vision von Zusammenarbeit geht.

Regionale Kooperation in verschiedensten Feldern

Beispielsweise hat sich die Industrieinitiative Desertec für lange Zeit zum Ziel gemacht, die Zusammenarbeit im Energiesektor zu fördern und schließlich aus erneuerbaren Quellen gewonnene Elektrizität aus Nordafrika nach Europa importieren zu können. Die Desertec-Industrieallianz hat dabei immer wieder versucht, Institutionen wie die Union für den Mittelmeerraum (UfM) und die EU-Kommission durch gezielte Lobbyarbeit zu Botschafterinnen ihres Konzeptes zu machen; parallel hat die Initiative aber auch über den Weg nationaler Ministerien, Abgeordneter und anderer Industrieallianzen ihr Konzept vorangetrieben. Dass die UfM den Bereich der Energiezusammenarbeit schließlich als Projekt mit Priorität einstufte, war dabei einer von vielen symbolischen Erfolgen für das Desertec-Konzept.

Ein anderes Beispiel ist der Verband der Handels- und Industriekammern des Mittelmeerraumes (ASCAME). Trotz des geografischen Schwerpunkts dieses Zusammenschlusses auf die Anrainerstaaten des Mittelmeeres hat ASCAME mit seinen einflussreichen Mitgliedsverbänden und Unterstützern auch die breiter gefasste euro-mediterrane Politikebene genutzt, um gezielte Finanzierungs- und Austauschprogramme im Bereich wirtschaftlicher Zusammenarbeit zu initiieren.

Das Euro-Mediterrane Menschenrechtsnetzwerk (EMHRN) konstatierte im Jahr 2012, dass

„zukünftige Arbeit nur auf der Tatsache aufbauen kann, dass Menschenrechtsorganisationen in der EU sowie im südlichen und östlichen Mittelmeerraum an ein gemeinsames Schicksal glauben, die Zusammenarbeit wünschen, voneinander lernen und sich gegenseitig dabei helfen möchten, Menschenrechte rund ums Mittelmeer und in der EU zu schützen und voranzutreiben.“ (internes EMHRN-Strategiepapier aus dem Jahr 2012, Übersetzung aus dem Englischen)

Dies erfolgt mit dem Ziel, sicherzustellen, dass

„Policies und Empfehlungen des EMHRN und seiner Mitglieder in die Politik und Praxis der EU-Institutionen, der EU-Mitgliedstaaten und der Partner im südlichen und östlichen Mittelmeerraum Einzug halten“ (ebenda).

Bei Organisationen wie dem EMHRN bildet die Anna-Lindh-Stiftung, aktiv primär im Bereich des Kulturaustausches, einen zusätzlichen halb-intergouvernementalen Ansatzpunkt, um Organisationsinteressen regional zu kanalisieren. Viele regionale nicht-staatliche Netzwerke sind umgekehrt auch Ansprech- oder Kooperationspartner der Anna-Lindh-Stiftung in einzelnen Themenbereichen.  

In der Kooperation regional zusammengesetzter Hochschulnetzwerke zeigen sich ähnliche Phänomene. Diese Netzwerke setzen regelmäßig ihre Erfahrung, ihre Kontakte und auch ihren interkulturellen Enthusiasmus ein, um die finanzielle und politische Förderung im Feld der Bildungspolitik voranzutreiben, beispielsweise um die entsprechenden EU-Austauschprogramme weiterzuentwickeln und regional anzupassen. Neben Eigeninteressen der beteiligten Universitäten wird in diesem Feld auch eine darüber hinausgehende Vision des regionalen Austauschs befördert. Dabei sind auch regionale Organisationen und Institutionen Zielpunkte politischer Aktivität solcher Netzwerke, wie im Fall des Euro-Mediterranen Ständigen Universitätsforums (EPUF), das die Entstehung der UfM als Gelegenheit sah, seine Vorhaben voranzutreiben:

„Mit der Schaffung der Union für den Mittelmeerraum wurden neue Horizonte für die euro-mediterrane Zusammenarbeit eröffnet. Es ist eine Gelegenheit, die wir nicht verpassen können.“ (Marseille-Deklaration von 2008, EPUF; Übersetzung)

Als ein weiteres Beispiel hat die regionale Koordination und Lobbyarbeit durch Städte, Gemeinden, Provinzen etc., also Gebietskörperschaften, dazu geführt, dass eine zusätzliche institutionelle Ebene in der Form der Euro-Mediterranen Regionalen und Kommunalen Versammlung (ARLEM) geschaffen wurde, die entsprechend des Europäischen Ausschusses der Regionen als Sprachrohr und Austauschplattform von Gebietskörperschaften in politischen Fragen rund um das Mittelmeer dient.

Nicht-staatliche Eigendynamik

Die Aktivität explizit euro-mediterran orientierter Akteure hat jenseits des Bemühens um EU-Fördermittel oder einer Aufwertung von Strukturen eine regionale Eigendynamik entstehen lassen, die auch zu neuartigen Resultaten in Form von Institutionen oder Policies führt. Diese niederschwellige, aber substanzielle Dynamik bleibt in Medienberichten wie auch im wissenschaftlichen Verständnis der unbeständigen regionalen Beziehungen zwischen EU-Ländern und Nicht-EU-Anrainerstaaten des Mittelmeers zumeist außen vor.

Gerade auch wegen des geringen Einflusses nicht-staatlicher Akteure auf übergreifende, kontroverse politische Fragen können diese in der euro-mediterranen Region dazu beitragen, behördlich initiierte Kooperationsformate zu stabilisieren und zusätzlich zu legitimieren. Sie verfügen über die Möglichkeit, trotz Blockaden der regionalen Entscheidungsgremien die Zusammenarbeit im Alltag mitzugestalten. Darüber hinaus bieten sie Behörden und Ministerien die Chance, als lokale Ansprechpartner zwischenstaatliche Barrieren zu umgehen.  

Zur weiterführenden Lektüre mit zahlreichen im Text erwähnten und weiteren Beispielen für nicht-staatliche Akteure im NGO-Bereich und im privaten Sektor (Anna Lindh, EMHRN, Ascame, Desertec, etc.) verweisen wir gerne auf die Doktorarbeit von Johannes Müller, die unter diesem Link zum Download bereit steht (PDF, Englisch).   

Artikel von Johannes Müller