22.06.2020
Ölkrise, wessen Krise?
Illustration: Zaide Kutay
Illustration: Zaide Kutay

Die Ölpreiskrise geht zwar in der Kakophonie der Pandemie unter, signalisiert aber umfassende globale und regionale Verwerfungen. Adam Hanieh erklärt den Preisverfall sowie Zusammenhänge mit der Klimakatastrophe und migrantischen Kämpfen.

Auch an der Ölindustrie ist COVID-19 nicht spurlos vorüber gegangen. Der jüngste Ölpreisschock machte mit negativen Preisen Schlagzeilen. Vertreter*innen der Branche und ökonomische Analyst*innen befürchten, ein andauernd niedriger Ölpreis könne den Markt verschieben sowie Auswirkungen auf die gesamte Weltwirtschaft haben. Adam Hanieh, Dozent an der School of African and Oriental Studies (SOAS) der University of London, erklärt, wie der Preisverfall zu Stande gekommen ist, was an den Befürchtungen dran ist und welche Chance der Preisverfall für eine Energiewende bedeuten könnte.

In einem kürzlich erschienenen Artikel hast du argumentiert, dass die derzeitige Ölpreiskrise ihre Wurzeln nicht nur in der Corona-Krise hat. Welche Ursprünge hat sie jenseits der Pandemie?

Generell schwanken Ölpreise zyklisch und es gibt eine Reihe von Faktoren, die beeinflussen in welche Richtung sich die Preise entwickeln. Teilweise hängt das von Angebot und Nachfrage ab. Großen Einfluss hat aktuell zudem auch ein Preiskrieg zwischen Russland und Saudi-Arabien.

Die Ölpreise sind seit Anfang der 2000er Jahre gestiegen. Ein Grund dafür ist die wachsende Nachfrage aus China und anderen asiatischen Staaten wie Indien. Als Konsequenz seines globalen Aufstiegs wurde China deutlich abhängiger von Ölimporten aus dem Rest der Welt, insbesondere aus dem Nahen Osten und den Golfstaaten.

Diese Entwicklung erleichterte den Markteintritt neuer Ölproduzenten, den sogenannten unkonventionellen oder Schieferöl-Produzenten. Diese sind von einem relativ hohen Ölpreis abhängig, um profitabel zu sein. Wir hatten also parallele Entwicklungen: aufgrund des chinesischen Wachstums stieg die Nachfrage nach Öl und damit der Ölpreis. Aufgrund des gestiegen Preises wurde Schieferöl, neben dem konventionellen Öl, rentabel und steigerte so das Ölangebot insgesamt.

Nun erlebten wir von 2014 bis 2016 einen ersten Einbruch der Ölpreise, der Schieferöl massiv traf. Als Antwort darauf gab es eine Übereinkunft zwischen Ölproduzenten unter der Führung der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) [ein Zusammenschluss von Staaten des globalen Südens, mit dem Ziel Fördermengen von Öl abzustimmen, um so die Preisbildung zu beeinflussen, Anm. d. Red.] und auf Druck von Saudi-Arabien und Russland, die Ölproduktion einzuschränken, um den weltweiten Preis zu steigern.

Diese Übereinkunft war im Grunde bis März 2020 in Kraft, als Russland, im Rahmen des Preiskriegs mit Saudi-Arabien, die Vereinbarungen brach. Mit der Aussicht eines Überangebots an Öl und der Ausbreitung des Coronavirus, die gerade in Europa voranschritt, kam es gleichzeitig sowohl zu einem Angebots- als auch zu einem Nachfrageschock. Der Effekt war eine Talfahrt des Ölpreises und eine existentielle Bedrohung der Schieferölproduzenten, insbesondere in den USA.

Welche politischen Konsequenzen erwartest du von dieser Preiskrise?

Die Situation ist sehr dynamisch und ich bin zögerlich, Vorhersagen zu treffen. In den USA gibt es eine große Debatte, wie man am besten auf die Krise reagieren soll, sowohl innerhalb herrschender Politzirkel als auch in der Ölindustrie. Manche Schieferölproduzenten sind sehr eng mit der Trump-Administration verbunden und machen Druck, eine harte Linie gegenüber Saudi-Arabien und Russland zu fahren, um sie zu einer Senkung der Produktion zu drängen – was sie Ende April auch geschafft haben.

Aber diese Produktionsminderung verblasst im Verhältnis zur Nachfrageproblematik, mit der die Ölmärkte konfrontiert sind, es hat also einen geringen Effekt, dass Russland und Saudi-Arabien sich auf eine Einschränkung der Produktion eingelassen hatten. Dies war, denke ich, auch offensichtlich für alle, die etwas über die Funktionsweise von Ölmärkten wissen.

Folglich gibt es nun Druck von den Schieferölproduzenten auf die US-Administration für eine staatliche Rettungsaktion. Gleichzeitig gibt es interessanterweise eine Gegenbewegung, insbesondere von Firmen wie Exxon Mobile oder Chevron – also von Big Oil, den weltweit größten Ölproduzenten. Diese lobbyieren gegen eine Rettung durch die US-Regierung, sie wollen die Schieferölproduzenten bankrottgehen sehen. Es scheint, als sähen sie hier eine Gelegenheit, Vermögenswerte billig aufkaufen zu können. Wie in jeder Krise, werden wir eine Welle der Konsolidierung in der Industrie sehen.

Es gibt daneben in den USA und Kanada Diskussionen, ob man einen stärker protektionistischen Standpunkt einnehmen soll. Dabei geht es im Wesentlichen um eine Besteuerung von Ölimporten nach Nordamerika, um die lokale Ölindustrie zu schützen. Ich bin jedoch skeptisch, dass das erfolgreich sein wird.

Welche größeren geopolitischen Machtverschiebungen sind zu erwarten?

Ich denke, hier werden wir eine weitere Konsolidierung der Golfstaaten, insbesondere eine Stärkung der bereits zentralen Position Saudi-Arabiens sehen – nicht nur bezogen auf die Ölindustrie, sondern auch auf die globale politische Ökonomie. Es wird oft nicht ausreichend beachtet, dass der internationale Einfluss der Golfstaaten auch jenseits des Nahen Ostens reicht. Im Laufe des letzten Jahrzehnts wurden sie ein zunehmend wichtiger Teil von Investitionsflüssen nach Europa und in die USA.

Zudem gibt es neuerdings verstärkt Verbindungen zwischen dem Golf und Ostasien, China im Speziellen, die sich laufend weiterentwickeln. Ein Schwenk des Golfes hin zu China ist möglicherweise eine weitere Konsequenz, die aus der Preiskrise entstehen wird. Das hängt offensichtlich auch davon ab, wie sich die Pandemie weiter entwickelt. Der Trend geht allerdings auch unabhängig von Corona in Richtung einer weiteren Konsolidierung dieser Beziehungen.

Bisher haben wir hauptsächlich über die großen Player (die USA, Europa, Saudi-Arabien, die großen Ölkonzerne) gesprochen. Was für Auswirkungen siehst du auf kleinere Staaten in der Ölindustrie der WANA-Region, wie Irak, Syrien oder Iran?

Auch hier werden, meiner Einschätzung nach, die mächtigeren Staaten – und ich spreche hier insbesondere von den Golfstaaten – profitieren. Auch sie werden sicherlich Schwierigkeiten haben, es wird finanzielle Engpässe und Einschnitte bei Sozialausgaben und Ähnlichem geben. Aber diese Staaten haben die Kapazität und die akkumulierten Überschüsse, um diesen Sturm zu überstehen.

In Staaten wie Iran, im Irak oder in Algerien, die auch Ölexporte haben, sieht das hingegen anders aus. Durch ihre Abhängigkeit vom Öl und dem Mangel an Überkapazitäten werden sie härter von der Weltwirtschaftskrise getroffen. Seit Ende April gibt es beispielsweise im Irak Gespräche, ob Teile der Ölindustrie billig verkauft werden sollen, nur um an etwas Geld zu kommen. Viele Staaten streben danach, ihren Besitz zu veräußern (ob das nun Lizenzen zur Ausbeutung von Rohstoffen sind oder sogar nationale Ölbetriebe), um mit dem gegenwärtigen Druck umzugehen. Die Käufer sind dann wahrscheinlich die großen Player, auf staatlicher wie unternehmerischer Ebene.

Starke Ölpreis-Schwankungen fielen historisch gesehen oft mit Veränderungen in globalen ökonomischen Regimen zusammen und trugen möglicherweise sogar dazu bei. Zum Beispiel waren die sogenannten Petrodollars aus der Ölkrise der 1970er maßgeblich für den Aufstieg des Neoliberalismus und die derzeitige wirtschaftliche Rolle der Finanzmärkte. Könnte das der Moment sein, in dem ein neues Energieregime entsteht?

Das ist kein sehr wahrscheinliches Szenario. Es ist wichtig zu sehen, dass die derzeitige Krise nicht nur den Ölsektor trifft. Sie trifft auch Investitionen in erneuerbare Energien und alternative Energiesysteme. Außerdem sind die großen Ölfirmen eng mit allen anderen Wirtschaftsbereichen verbunden. Sie erstrecken sich über Öl-basierte Produkte, wie Petrochemikalien, sind aber gleichermaßen eng mit dem Finanzsystem, dem Bankwesen und über Beteiligungen an Firmen auch jenseits des Energiesektors verzahnt. Diese Konzerne sind also eingebettet in weitere ökonomische Zusammenhänge. Ich halte es deshalb für falsch, anzunehmen, ein niedriger Ölpreis bedeute unmittelbar große Schwierigkeiten für Ölfirmen. Wie in jeder Krise, ist es recht wahrscheinlich, dass ohne aktiven politischen Druck die größeren Firmen und Staaten, wie Saudi-Arabien gestärkt werden, indem sie kleinere Produzenten übernehmen oder verdrängen.

Die zentrale Frage ist, welche politischen Kräfte es gibt. Jeglicher effektive Wandel benötigt eine politische Bewegung. Ich denke, jetzt ist der Moment, um über Veränderung zu sprechen und die Gelegenheit zu ergreifen, für eine Energiewende einzutreten. Es muss stärkeren Druck geben, beispielsweise durch den Ruf nach Nationalisierung von fossiler Energie, mit der Perspektive sie gänzlich abzuschaffen. Ein niedriger Ölpreis allein reicht nicht.

Sollte eine Wirtschaftskrise, die für Monate oder gar Jahre maßgeblich die Nachfrage nach Öl senkt, nicht notwendigerweise auch große Produzenten betreffen? Ein schrumpfender Kuchen könnte doch die Verhandlungsposition jener Kräfte stärken, die eine Wende zu erneuerbaren Energien wollen und so Möglichkeiten für umweltfreundlichere Lösungen eröffnen?

Dieses Argument ist weit verbreitet. Obwohl wir kurzfristig positive Auswirkungen der Pandemie auf Luftqualität und andere Umweltfaktoren sehen, bieten Krisen ganz allgemein oft den Mächtigsten die Gelegenheit, ihre Position zu stärken. In Momenten der Krise sind Dinge möglich, die davor tabu waren. Wir sehen das im Fall von Kriegen. Naomi Klein fasst dies mit dem Begriff „Disaster Capitalism“ zusammen.

Unglücklicherweise beobachten wir aktuell genau das bei den Ölfirmen. Beispielsweise nutzen sie im US-Kontext die Gunst des Augenblicks, um Umweltschutzbestimmungen zu Fracking abzuschaffen oder um den Bau von Pipelines durch Land indigener Gruppen zu beschleunigen. Tatsächlich wurden von den Behörden hier Proteste verboten. Im europäischen Kontext nutzen Banken die Gelegenheit, um zu sagen: „Wir sollten uns nicht an Klimavorgaben oder Ähnliches halten müssen, da dies unsere Fähigkeit, die Krise zu überstehen, mindern würde“. Wir sehen also sogar eine Schwächung von Umweltschutzmaßnahmen, so unzureichend sie auch gewesen sein mögen. Es besteht zwar kein Zweifel, dass große Teile der Ölindustrie und anderer Sektoren bankrott gehen und verschwinden werden. Leider wird es, in Abwesenheit einer politischen Bewegung, schwierig, eben jene großen Firmen und ihre Interessen aus den politischen und ökonomischen Strukturen zu verdrängen.

Auf staatlicher Ebene werden sich die Golfstaaten auch aus anderen Gründen behaupten können: Sie sind eine global bedeutende Arbeitsstätte. 50 Prozent ihrer Arbeitskräfte sind Migrant*innen, viele von ihnen aus WANA, die Mehrheit allerdings aus Südasien. Üblicherweise werden in solchen Krisensituationen Arbeiter*innen entweder nach Hause geschickt, gekündigt, oder abgeschoben. Das bedeutet, die Effekte der Krise werden gewissermaßen von den Golfstaaten in die ländlichen Gebiete von Indien, Pakistan und Bangladesch transferiert oder auch nach Ägypten, Jordanien und in den Libanon verlagert, wo Menschen ebenfalls von den Rücküberweisungen abhängig sind und sie zum täglichen Überleben brauchen. Saudi-Arabien, andererseits, kann so die negativen Auswirkungen für sich selbst minimieren.

Es geht in Gesellschaften wie in Westasien, in denen viele Menschen vom Öl abhängig sind, ja bei Energie nicht nur um die Umwelt, sondern auch um soziale Fragen. Welche politischen Akteur*innen siehst du und welche politische Antworten erwartest du auch vonseiten der Arbeiter*innen?

Wenn wir zurückblicken, dann sehen wir beispielsweise im Irak, in Iran und anderswo, dass Arbeiter*innen und Gewerkschaften in der Ölindustrie politisch immer sehr bedeutsam waren. Das wurde beispielsweise nach der US-Besatzung im Irak 2003 deutlich: der Widerstand gegen Versuche, irakische Ressourcen zu verkaufen, wurde großteils von Gewerkschaften getragen.

Ich denke jedoch, es muss eine globale Antwort geben. Es ist schwierig, sich eine Lösung vorzustellen, die nur innerhalb der Grenzen der ärmeren Länder entsteht. Die aktuelle Krise ist eine Gelegenheit zu fragen: „Wie können wir die Macht der fossilen Energie in unserer Weltwirtschaft herausfordern und wie können wir eine globale Antwort dazu entwickeln?“. Darum ist es so wichtig, wenn Klimainitiativen auch Brücken schlagen zur Verteidigung von Migrant*innen und Kampagnen außerhalb Europas und Nordamerikas, zu Fragen von nationaler Souveränität, Krieg und Besatzung an Orten wie dem Nahen Osten. Es ist vielleicht ein weiterer Hoffnungsschimmer, dass es nun sichtbarer wird, wie stark diese Fragen miteinander verbunden sind.

 

Adam Haniehs neustes Buch "Money, Markets, and Monarchies: The Gulf Cooperation Council and the Political Economy of the Contemporary Middle East", erschien 2018 bei Cambridge University Press. Es erhielt 2019 den International Political Economy Group Book Prize der British International Studies Association.

Mehr von Illustratorin Zaide Kutay gibt es auf ihrem Instagram.

 

 

Georg Layr ist politischer Ökonom und arbeitet im Bereich Veranstaltungsmanagement und in der digitalen Bildung. Wissenschaftlich beschäftigte er sich mit Statebuilding in Kontexten von Krieg und Konflikt, mit einem regionalen Schwerpunkt im östlichen Mittelmeerraum. Nebenbei unterrichtet Georg leidenschaftlich, wobei er besonders gerne mit...
Artikel von Georg Layr
Redigiert von Alicia Kleer, Johanna Luther