16.09.2013
„Oslo war ein Versagen der Palästinenser“ – Interview mit dem palästinensischen Intellektuellen Ghasub Nasser

Der Ingenieur Ghasub Nasser gehört keiner palästinensischen Partei an, sondern dem intellektuellen Selbstverständnis nach nur der „säkular, demokratischen, unparteiischen Fraktion Palästina“. Der lutheranische Christ engagiert sich seit Jahrzehnten für die Befreiung Palästinas und lehnte daher den Oslo-Prozess von Anfang an ab. Die Lebenssituation der meisten Palästinenser hat sich mit Oslo verschlechtert. Nasser hat dies vorausgesehen und spricht als eine authentische und scharfsinnige Stimme Palästinas für viele vom "Friedens-Prozess" bitter Enttäuschte.

Dieser Beitrag ist Teil unserer Serie zu 20 Jahren Oslo-Abkommen. Alle Texte finden Sie hier.
Ghasub Nasser,  Jahrgang 1942, studierte von 1961 bis 1969 in Deutschland. Durch ein Programm zur Familienzusammenführung kam er nach Bethlehem zurück. Ab 1972 arbeitete er als Unfallverhütungsingenieur für die Zivilverwaltung in den von Israel besetzten Gebieten und daneben ab 1976 an der Bethlehem Universität als Dozent für Deutsch. Nach 16 Jahren verlor er seine Stelle „aus Sicherheitsgründen“. Zwei Monate später wurde sein Auto angezündet und er inhaftiert. Nach der Entlassung 1991 fand er als Ingenieur keine Arbeit mehr. Heute ist er Direktor einer NGO für Augengesundheit für Bedürftige im Bezirk Bethlehem.

Alsharq: Herr Nasser, schon 1993 kritisierten Sie den Oslo-Friedensprozess. Warum?

Ghasub Nasser: Als ich die Vertragstexte von Oslo gelesen habe, stellte ich fest, dass die palästinensischen Politiker versagt haben. Das hätten wir Palästinenser nicht akzeptieren sollen, solange wir keine Möglichkeit zum Widerstand haben. Dabei ist Widerstand nicht nur Gewalt, sondern hat viele Gesichter, wofür die Palästinenser das passende hätten erfinden müssen.

Mittlerweile prägen viele Palästinenser jedoch auch unterschiedliche Formen des friedlichen Widerstands und zivilen Ungehorsams. Was werfen Sie dagegen den palästinensischen Politikern und Arafat genau vor?

Sie sind auf Oslo eingegangen, ohne zu berücksichtigen, was darauf folgen wird. Sie haben unerfahrene Leute zu den Verhandlungen geschickt. Die Israelis waren dort mit Beratern - Juristen, Geografen und Historikern. Die palästinensischen Laien unterschrieben das Autonomieabkommen sofort. Autonomie? Und dennoch dürfen in der Westbank und Ost-Jerusalem Siedlungen gebaut werden. Den Palästinensern wird weiter das Leben schwer gemacht, damit sie das Land verlassen. Deswegen war ich von Anfang an dagegen.

Haben Sie sich damals entsprechend geäußert?

Mit meiner grünen ID-Karte durfte ich Bethlehem nach der israelischen Haft, in der ich über zwei Jahre wegen angeblich illegaler Umtriebe bis 1991 war, offiziell nicht verlassen. Stattdessen wurde ich zu einer Rundfunk-Diskussion nach Jerusalem geschmuggelt. Bei dieser RIAS-Rundfunk-Diskussion unterstützten der israelische Araber Dr. Azmi Bischara und der jüdische Friedensaktivist Uri Avnery Oslo, während sich ein Siedler und ich kritisch dazu äußerten. Ich sagte, wir sollten das Problem lösen: 78% des Territoriums vom geographischen Palästina für den israelischen und 22% für den palästinensischen Staat, mit Jerusalem als Hauptstadt beider Staaten. Dann können wir nebeneinander leben und zusammenarbeiten. Anders geht es nicht. Ich meinte, Oslo werde den Palästinensern keine Hoffnung geben und keine Lösung weder für Israelis noch für Palästinenser sein.

Warum hat Arafat Oslo dann unterschrieben?

Arafats Analyse hatte eine andere Richtung. Er hatte vor, heute dieses Gebiet zu nehmen und morgen ein weiteres Stück. Da hat er sich mit seinen Beratern geirrt. Komischerweise sind die Berater von 1993 bis heute an ihren Positionen: Chefunterhändler Saeb Erekat, Abu Ala usw. gehören derselben Schicht an, sie sind Vertreter der Klein-Bourgeoise.

Kamen die Berater alle mit Arafat aus dem Exil, die sogenannte Tunis-Fraktion?

Ja, über die Hälfte. Das sind die „Paten von Oslo“, die keine Ahnung von Geographie hatten. Vielleicht verstehen sie etwas vom Kämpfen, aber nichts von internationalen Gesetzen oder Jura. Sie brachten keine Berater mit, entweder waren sie zu gutherzig oder zu blöd – diese „großen Denker“ der Palästinenser. Keine Ahnung, wie man das nennen soll. Sie hätten von den Israelis lernen sollen.

Die Beispiele und Chancen hatten sie vor sich. Sie haben alles versäumt und kaputt gemacht. Leider. Ich würde sie nicht des Verrats, sondern der uneingestandenen Unwissenheit beschuldigen. Oder ihnen einen Mangel an Erfahrung und Vorstellungsvermögen vorwerfen. Das war ein Fehler und die palästinensische Geschichte ist voller solcher Misserfolge.

Wie geht man als palästinensischer Intellektueller damit um?

Die Natur eines Menschen aus dem Orient, also auch die Natur der Palästinenser, ist gutmütig und einfach, verzeihungsbereit und vergesslich, besonders was Leid angeht. Daher könnte es sein, dass diejenigen Palästinenser, die Oslo unterschrieben haben, es getan haben, weil sie damals gedacht hatten, es sei der erste Schritt. „Gaza-Jericho zuerst“, so hieß es damals, besonders bei Fatah. Sie sehen heute, wie die Lage aussieht. Abbas ist anders, er hat gelernt, er weiß jetzt, wie man mit den Israelis verhandeln sollte.

Arafat …

… war ein treuer Palästinenser. Er hat sein Bestes gegeben, so wie er es verstand. Als er nach seinen Beratern gefragt wurde, sagte er: „Ich laufe durch dieses Land mit meinen Füßen. Dafür benötige ich die richtigen Schuhe, da der Boden voller Dreck ist. Diese Schuhe sind dafür geeignet.“ Aber diese Leute sind korrupt.

Das heißt, Sie stimmen dem Sprichwort zu: Die Palästinenser verpassen niemals die Chance eine Gelegenheit zu verpassen?

Dazu müssen Sie nur die Kommentare zwischen den Zeilen in den palästinensischen Zeitungen lesen. Das sieht man doch. Die Intellektuellen schreiben die ganze Zeit von den verpassten Gelegenheiten in der Geschichte. Schade.

Wie politisch sind die Menschen in Palästina?

Politisch engagiert ist fast jeder Akademiker, wie jeder intellektuelle Mensch, der sich informiert und auf dem Laufenden bleibt. Kein palästinensischer Akademiker interessiert sich nicht für Politik – sei es im Geheimen oder in der Öffentlichkeit.

Engagieren Sie sich in einer Partei?

Heutzutage ist es gar nicht ratsam zu erklären, zu welcher Partei man gehört. Ich gehöre keiner Fraktion an, nur der säkular, demokratischen, unparteiischen Fraktion „Palästina“.

Alle unsere Parteien haben versagt, von den Vertretern der Klein-Bourgeoisie der Fatah bis zu den fanatischen Religiösen von Hamas und Islamischen Jihad, wie auch die linksgerichteten Parteien des „Popular Front for the Liberation of Palestine" (PFLP) und des „Democratic Front for the Liberation of Palestine“ (DFLP). Deshalb gibt es unter den palästinensischen Intellektuellen viele Unabhängige.

Was bedeutet das für Wahlen in Palästina?

Wenn man nur die Wahl hat zwischen Fatah und ihrer Korruption sowie Hamas mit ihrem religiösen Fanatismus, dann wähle ich Fatah, da ich säkular orientiert bin. Ich mag keine fanatisch denkenden Menschen, weder Christen, Juden noch Muslime.

Vielen Dank für das Gespräch.