18.07.2015
Presseschau zum Atom-Deal: „Kein Blankoscheck für politischen Irrsinn“
Das "erfolgreiche" Ende der Verhandlungen wurde am 14. Juli in Wien verkündet - die Konsequenzen für die Region dagegen werden noch kontrovers diskutiert. Photo: Österreichisches Außenministerium (CC BY 2.0)
Das "erfolgreiche" Ende der Verhandlungen wurde am 14. Juli in Wien verkündet - die Konsequenzen für die Region dagegen werden noch kontrovers diskutiert. Photo: Österreichisches Außenministerium (CC BY 2.0)

Die Tragweite des Abkommens wird in den Medien des Nahen und Mittleren Ostens heiß diskutiert. Vor allem die geopolitische Dimension treibt die Kommentatoren um. Dabei sind sie sich einzig darin einig, dass die Machtverhältnisse in der Region durch den Akkord weitläufig umgekrempelt werden können.

„Irans Rückkehr“, betitelt Amr Elshobaki seinen Kommentar für al-Masry al-Yaum aus Kairo. Die entscheidende Folge des Atomabkommens sei nämlich, dass Iran nun 35 Jahre nach der Islamischen Revolution in das internationale Staatensystem integriert werde. „Die Tür ist geöffnet worden, durch welche die internationale Gemeinschaft das iranische Regime beeinflussen kann – durch politische, wirtschaftliche und kulturelle Interaktion.“ Während die Hoffnung bestünde, dass sich die Führung in Teheran dadurch mäßige, bliebe zugleich die Gefahr, dass Iran regionalpolitisch gestärkt werde. Dadurch könnten radikalere Kräfte in Teheran versuchen, die arabischen Nachbarn weiter zu drangsalieren, um dadurch von Versäumnissen im Inland abzulenken, schreibt Elshobaki.

In diesem Sinne fällt auch Salman al-Dosari, Chefredakteur der von Saudi-Arabien finanzierten, in London erscheinenden Tageszeitung al-Sharq al-Awsat ein gemischtes Urteil. Er geht einerseits davon aus, dass das Abkommen einen atomar hochgerüsteten Iran verhindert. Genau deshalb drohe aber Gefahr: „Niemand, der bei Sinnen ist, wird davon ausgehen, dass Iran seine destabilisierende Rolle in der Region aufgibt“, schreibt Dosari. Doch: „Die westlichen Regierungen stehen unter großem Druck, den Deal zu einem Erfolg werden zu lassen. Deshalb werden sie ihre Augen verschließen vor der destruktiven Politik Irans und der schamlosen Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Nachbarstaaten.“ Dies zeige sich besonders im Irak, wo Teheran den Terror des IS mit eigenem Terror bekämpfe. Mit Blick auf das saudische Königreich urteilt Dosari daher verhalten: „Saudi-Arabien und die Golfstaaten können das Atomabkommen begrüßen, weil er die Tore zum Bösen schließt, die Iran geöffnet hatte. Die Sorge ist jedoch, dass die Vereinbarung andere Tore zum Bösen öffnen wird, an denen Iran trotz westlicher Sanktionen angeklopft hat.“

Mohammad Abu Rumman indes schlägt in al-Ghad aus Jordanien denn auch vor, von dem Atomabkommen als „regionales Abkommen“ zu sprechen, was dessen Konsequenzen seiner Meinung nach treffender beschreibt. Denn indem Iran Konzessionen bei seinem Atomprogramm macht und internationale Inspektionen akzeptiert, vergrößert sich sein Einfluss in der Region. Im Irak zum Beispiel werden die US-Amerikaner in Zukunft die Rolle Irans befördern. Das würde die Schiiten und Kurden des Landes stärken und die Sunniten schwächen, befindet Abu Rumman. Doch vor allem mit Blick auf Syrien hat das Atomabkommen eine große Bedeutung. Nachdem Obama im Pentagon zuletzt bestätigt hatte, dass es keine Zukunft für Syrien mit Bashar al-Assad gebe, warten der Iran, aber auch Russland nun darauf, weiter einzugreifen, gibt Abu Rumman zu bedenken.

Auch in Marokko gibt es Stimmen, für die die Einigung über das iranische Atomprogramm einem „Neuntwurf der Karte des Nahen Ostens“ gleichkommt. „Der neue in Wien geborene Orient“, schreibt die marokkanische Tageszeitung L’opinion, „hat ein kollaterales Opfer zu beklagen: Saudi Arabien, Marokkos strategischen Verbündeten.“ Saudi Arabien spiele bei der Neuvermessung des Nahen Ostens keine große Rolle mehr, resümiert Ahmed Naji in seinem Artikel. Die „grausame Wahrheit ist, dass durch die neue energiepolitische Unabhängigkeit der USA vom Erdöl der Nahe Osten für die Amerikaner nicht mehr dieselbe geostrategische Bedeutung hat, sondern wenn überhaupt nur noch als Sorgenkind relevant ist“. In diesen Zeiten der tiefen Verunsicherung, die die arabischen Verbündeten Marokkos zweiteilten, könne „einzig“ der marokkanische König Mohammed VI. Sunniten und Schiiten einen. Schließlich stamme er aus der Alawiden-Dynastie und genieße als direkter Nachfahre des Propheten höchste religiöse Autorität, befindet L’opinion aus Marokko.

Es ging um viel mehr als Atom

Ging es wirklich nur um Atom, fragt sich auch der libanesische Orient le Jour. Die Antwort des Blattes: Was sich „wirklich in Wien abgespielt hat“, ging weit über die Kernenergie hinaus: „Die Rückkehr Irans ins Konzert der Nationen. Und damit: Das Ausbalancieren der Allianzen im Nahen Osten“. Die Zeitung sieht Iran mittelfristig als „strategischen Partner Washingtons“. Dass den bisherigen Partnern – Israel und Saudi-Arabien – der Deal nicht gefällt, liege weniger in der Gefahr einer iranischen Atombombe. „Das Ende des Embargos wird Teheran einen Geldsegen ermöglichen, dank ihres Ölverkaufs.“ Und auch wenn die USA nicht von heute auf morgen ihren saudischen Verbündeten im Stich lassen werden – „der immer noch ihr größter Waffenabnehmer ist“ – könnte diese Verbindung nun doch neu überdacht werden. Mit anderen Worten, das Atomabkommen „bedeutet das Aus der Hegemonie Riads in der Region: Der Niedergang der arabischen Welt zugunsten der Perser“.

Das Urteil von Mohammed Knaissi fällt ähnlich aus. In seinem Kommentar für die syrische Staatszeitung al-Baath schreibt er: „Die reaktionäre arabische Achse unter Führung von Saudi-Arabien hat keine andere Wahl als anzuerkennen, dass das Nuklearabkommen den Weg zu einer neuen Situation in der Region geführt hat“. Die Zeit der arabischen Abenteuer und der Unterstützung des Terrorismus müssten nun ein Ende haben, so der Kommentator mit Blick auf Saudi-Arabien und seine Verbündeten, die sich gegen das Regime von Baschar al-Assad gestellt hatten: „Die Spielregeln haben sich verändert“. „Die aggressive Politik des wahhabitischen Königreiches, die sich vor dem Abkommen noch einmal im Jemen gezeigt hat, kann nicht weiter ausgedehnt werden. Und das ist die erste Auswirkung des Abkommens,“ befindet Knaissi.

So war im Anschluss an das Abkommen ein Schockzustand in den meisten Hauptstädten der Region zu verspüren, insbesondere in den Golfstaaten, die mit den USA verbündet sind, befindet das an Huffington Post angelegte Portal Rai al-Youm. In einem Kommentar schreibt der palästinensische Chefredakteur Abdel Bari Atwan, dass der eigentliche Kampf der Vereinigten Staaten sich nun nicht mehr gegen den Iran richte, sondern gegen den Islamischen Staat. Und weil sich diese Auseinandersetzung nicht ohne die Hilfe Teherans und seiner Verbündeten gewinnen ließe, ist das Abkommen so wichtig, argumentiert Atwan. Angesichts des diplomatischen und politischen Erfolgs für Iran urteilt er abschließend, dass der iranische Verhandlungsführer Zarif allen Grund zum Lachen hat, während sich Netanjahu grämen muss.

Eine neue Regionalpolitik?

Das Atomabkommen könne ganz unterschiedliche Folgen haben, schreibt Fahd al-Fanik in der jordanischen Zeitung al-Rai. „Einerseits ist es ein Sieg für Iran, weil das Regime internationale Anerkennung gewinnt und aus der Isolation herauskommt“, bilanziert Fanik. „Andererseits ist es ein Rückschlag, denn die militärischen und zivilen Einrichtungen werden dem strengsten und erniedrigendsten Kontrollsystem unterworfen seit dem Inspektoren nach Massenvernichtungswaffen im Irak gesucht hatten.“ Doch die wichtigste Folge sei, dass die Rufe „Tod für Amerika“ und „Tod dem Großen Satan“ nach dem Atom-Deal nur noch für Gelächter sorgen, bilanziert Fanik für al-Rai.

„Iran hat mit dem Abkommen das bekommen, was es wollte“, schreibt Naji Sadiq Sharab in seinem Kommentar für al-Khaleej aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Teheran sei es in erster Linie um die Aufhebung der Sanktionen und die Freigabe der Auslandsvermögen gegangen. Indem die iranische Wirtschaft künftig gestärkt werde, schütze sich das Regime vor möglichen Aufstandsbewegungen im Inland. „Außenpolitisch wird das Abkommen Iran keinen Blankoscheck für politischen Irrsinn und rücksichtslose Interventionen in der Region geben“, schreibt Sharab. „Die Länder in der Region nehmen die Politik der Unterdrückung und Abhängigkeit nicht länger hin.“ Iran müsse nun eine Regionalpolitik einleiten, die von gemeinsamen Interessen geleitet ist. „Das würde eine grundlegende Verschiebung des Machtgleichgewichts zu Irans Vorteil bedeuten – zu Lasten der USA und Israels.“

In al-Akhbar aus Beirut schreibt Ibrahim Al-Amine, dass mit dem Abkommen nun eine neue Konfrontation bevorstünde. In dem anti-imperialen Blatt geht es ihm dabei vor allem um die symbolische Dimension. Der Westen sei zwar einflussreich, „kann unser Schicksal aber nicht bestimmen“. Vielmehr sei jetzt die Möglichkeit gekommen, die Ungerechtigkeit im Verhältnis zwischen dem Westen und dem Nahen Osten auszumerzen, schlägt al-Amine vor. „Unsere einzige Option ist, realistisch zu sein und unsere Wahnvorstellungen hinter uns zu lassen. Wir dürfen uns nicht mehr minderwertig fühlen und müssen uns unserer Fähigkeiten bewusst werden.“ Das „hegemoniale interanationale System“ könne nun endlich abgeschafft werden, ebenso wie es nicht mehr unmöglich ist, das „zionistische Regime in Palästina“ zu stürzen, schreibt al-Amine. Und zuletzt: „Auch die ignoranten und rückständigen Regime in der arabischen Welt sind bald fällig“.

Johannes kam 2011 zu Alsharq und freut sich sehr, dass daraus mittlerweile dis:orient geworden ist. Politische Bildungsarbeit zur WANA-Region, die postkoloniale Perspektiven in den Vordergrund rückt und diskutiert, gibt es im deutschsprachigen Raum nämlich noch viel zu wenig. Zur gemeinsamen Dis:orientierung beschäftigt sich Johannes daher vor...
Redigiert von Ibrahim al-Tarawneh