20.07.2016
Presseschau zum Putschversuch in der Türkei: „Wird das ‚Kasernen-Moscheen-Dilemma‘ nie enden?“
Die Türkei blickt auf eine weitreichende Militär-Geschichte zurück, die türkische Armee zählt auch heute noch zu den größten der Welt. Bild: Einnahme Izmirs 1922, Public Domain.
Die Türkei blickt auf eine weitreichende Militär-Geschichte zurück, die türkische Armee zählt auch heute noch zu den größten der Welt. Bild: Einnahme Izmirs 1922, Public Domain.

Der Putschversuch und die anschließende Verhaftungswelle in der Türkei dominieren die Schlagzeilen europäischer Medien. Auch im Nahen Osten und in der Türkei stehen die Ereignisse vom Wochenende im Zentrum der Berichterstattung. Kommentare von Journalist_innen aus Ägypten, Iran, Israel, Libanon, Syrien und der Türkei selbst zusammen.

Blicken wir zunächst nach Ägypten, das 2013 einen erfolgreichen Militärputsch erlebte. „Die politische Krise in der Türkei ist zurück", kommentiert Salah Salem in der staatlichen ägyptischen Tageszeitung al-Ahram. Hauptursache für den Putschversuch seien die unter Erdogan vorangetriebene Islamisierung der Türkei nach Vorbild der Muslimbrüder und die Sympathien für die Terrororganisation „Islamischer Staat". Dies habe die säkularen Eliten von der Regierung entfremdet. Die Türkei stehe nun am Scheideweg, so Salem. Entscheidend für die Zukunft der Türkei sei, wie Erdogan reagiert. „Die Türkei kann sich in eine positive Richtung entwickeln, wenn Erdogan den Wert der Zivilgesellschaft anerkennt, wenn er sich mit seinen Gegnern versöhnt und mehr Toleranz walten lässt – besonders gegenüber der säkularen Elite und den Kurden." Dann könnte dies der letzte Putschversuch in der Geschichte der modernen Türkei gewesen sein. Sollte Erdogan die Niederschlagung der Revolte aber als Triumph seines Charismas und seiner Partei missverstehen und exzessiv Rache nehmen an Armee und Justiz, würden sich die gesellschaftlichen Konflikte verschärfen, schreibt Salem. „Das wäre die Bankrotterklärung für sein Modell und würde zum Ende seiner Herrschaft oder noch tragischerem führen."

Galal Arif vergleicht in seinem Kommentar für Akhbar al-Yaum aus Kairo Erdogans Vorgehen mit dem der Islamisten in Ägypten. „Unsere Erfahrung mit den Muslimbrüdern sagt uns, dass Erdogan den Pfad der Rache beschreiten wird, um danach den „Katalog“ der Bruderschaft umzusetzen und zu versuchen, alle staatlichen Institutionen zu dominieren." All das geschehe in einer Zeit, in der sich die Region noch mehr Streit und Spannungen eigentlich nicht erlauben könne. Die Türkei werde nun eine schwierige Phase durchmachen, prognostiziert Arif. „Die Türkei wird starke Verbündete im Westen finden, die ihr helfen, diese Krise zu überwinden. Aber warum fehlt dieser politische Konsens, wenn es darum geht, die Situation in Syrien, im Irak, in Libyen und im Jemen zu retten, wenn es darum geht, den Terrorismus zu bekämpfen oder den Einfluss der nichtarabischen Akteure Türkei, Israel und Iran in der arabischen Welt zurückzudrängen?"

Stichwort Israel: Für die meistgelesene israelische Tageszeitung Jediochot Achorot titelt Yaron Friedman: „Wie Erdogan den Putsch überlebte und warum das für uns nötig war.“ Der Kommentator der als regierungsnah geltenden Zeitung betrachtet den Coup als Reaktion kleiner Teile der türkischen Armee auf Erdogans fehlende Strategie hinsichtlich des Krieges in Syrien und seine unvorteilhaften außenpolitischen Entscheidungen bezüglich der Umbrüche in der Region. Der Putschversuch in der Türkei habe große Ähnlichkeit mit dem Sturz von Präsident Mohamed Mursi in Ägypten vor drei Jahren. Wie in Ägypten sei es auch in der Türkei letztlich um einen Konflikt zwischen einer säkular geprägten Armee und einer islamistischen Partei gegangen. Im Gegensatz zu Mursi, den Erdogan unterstützt hatte, habe sich Erdogan allerdings aufgrund breiter Unterstützung aus der Bevölkerung, der Unfähigkeit der Putschisten und der wirtschaftlichen Erfolge seiner Amtszeiten an der Macht halten können. Dass der Putsch gescheitert ist, betrachtet Friedman als eher positiv für Israel, schließlich sei Erdogan selbst es gewesen, der zuletzt die Aussöhnung mit Israel gesucht habe. „Erdogan wird kein Liebhaber Israels werden”, so der Kommentator, „aber ob eine Regierung, die durch einen Putsch an die Macht käme, das kleinere Übel wäre, ist ungewiss.“

Verschwörungstheorien aus syrischen Regierungsmedien

In syrischen staatsnahen Medien vermutet ein Journalist die NATO hinter der Niederschlagung des Putsches. „Der Putsch ist gescheitert, aber die Warnung ist angekommen", betitelt Fuad Shurbaji seinen Kommentar für die syrische Regierungszeitung Tishreen. Dem Autor ist aufgefallen, dass die putschenden Offiziere und Soldaten von Männern in Zivil festgesetzt wurden. Daraus schließt er, dass der Putsch von der geheimen NATO-Einheit Gladio niedergeschlagen worden sei. Gladio gab es in den Achtzigerjahren tatsächlich; die Truppe sollte im Falle eines Konflikts mit dem Warschauer Pakt hinter feindlichen Linien kämpfen. Auf dem NATO-Gipfel in der vergangenen Woche sei beschlossen worden, das Projekt Gladio wiederzubeleben, behauptet Shurbaji. „Die Gladio-Einheiten gleichen Mafia-Organisationen, die politische Institutionen und militärische Einrichtungen unterwandern, um ihre Ziele zu erreichen. Und besteht irgendein Zweifel, dass die korrupte Mafia eine Säule von Erdogans Herrschaft ist? Er überwacht die Bildung von Terrororganisationen, genauso wie es die Gladio-Einheiten in Syrien tun." Was auch immer hinter dem Putschversuch stecke, er sei eine Warnung an Erdogan, dass er innerhalb weniger Momente gestürzt werden könne.

Ahmad Hassan sorgt sich in seinem Leitartikel für al-Baath, der Parteizeitung des syrischen Diktators Bashar al-Assad, um die Menschenrechtslage in der Türkei nach dem Putschversuch. Das Land befinde sich in einer Ära des „Erdoganismus", einer Mischung von „Sultanismus" und „Hitlerismus", schreibt Hassan. Wie einst „der Führer" sei Erdogan durch Wahlen an die Macht gekommen und wolle nun sein Land von „den Anderen" säubern. „Es ist tragisch, wenn arabische Glückwunschtelegramme für den ‚Triumph der Demokratie in der Türkei‘ eingehen, wenn gleichzeitig der EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn sagt: ‚Die raschen Verhaftungen von Richtern und anderen zeigen, dass die Regierung schon vor dem Putschversuch entsprechende Listen angelegt haben muss‘.“ Hassan schließt mit den Worten: „Es stimmt, dass der Sultan zumindest vorläufig überlebt hat, aber die Türkei ist in einen dunklen Tunnel geraten, aus dem sie so schnell nicht herauskommen wird. Aber eines Tages wird sie es schaffen. Im arabischen Tunnel ist dieser Hoffnungsschimmer noch sehr weit weg."

Kritische Stimmen in der Türkei

In der Türkei haben es regierungskritische Stimmen momentan nicht leicht. Trotzdem äußern sich wenige Medienschaffende in aller Deutlichkeit. Insbesondere die Gründer_innen des Online-Magazins t24, allesamt Journalist_innen, die aufgrund kritischer Berichterstattung die großen Zeitungen wie Milliyet oder Cumhuriyet verlassen mussten.

Hasan Cemal, der renommierte Journalist und Schriftsteller, bewertet das Scheitern des Putschversuches positiv: „Der Militärputsch fiel zusammen, wurde zerstreut, und das ist gut so. Doch was ist mit dem Erdogan-Putsch? (…) Er vertieft sich von Tag zu Tag. Ich habe ‚Nein‘ zu einem Militärputsch gesagt, ich stand bei Erdogan. Aber dieser Standpunkt lässt mich nicht den Erdogan-Putsch vergessen! Denn ich bin gegen Militärputsche ebenso wie gegen zivile Putsche.“ Cemal teilt nicht die Vermutung, Erdogan habe den Putsch inszeniert. Gleichwohl nutze der türkische Präsident die Geschehnisse für seine Zwecke: „In einer Nacht brannte der deutsche Reichstag ab. Der aus der Wahlurne entspringende Hitler beschuldigte ‚die Kommunisten‘ und verfestigte somit seine Diktatur. Er hatte den Reichstag selber abgebrannt. Es gibt Leute, die von diesem Beispiel ausgehend den Reichstagsbrand mit den am Abend des 15. Juli aus Kriegshelikoptern auf das Parlamentsgebäude fallenden Bomben vergleichen. (…) Ich glaube nicht, dass Erdogan hinter dem Abend steckt. Aber ein Punkt ist klar: So wie der Reichstagsbrand Hitler nützte, sieht es so aus, als habe der 15. Juli Erdogan genützt.“ Cemal weist auf die Massenverhaftungen[1] von Richter_innen, Anwält_innen und weiteren Zivilist_innen und die Schließung von sechs Nachrichten-Webseiten auf Geheiß des Premierministers hin. Er verurteilt die Lynchmorde an Soldaten durch Zivilist_innen und redet seinen Leser_innen ins Gewissen: „Es lohnt sich zu wiederholen: Gegen den Putsch gewesen zu sein ist kein alleiniges Kriterium für eine demokratische Grundeinstellung. Denn der Militärputsch ist auch ein Erdogan-Putsch! Vergesst diesen Umstand nicht. Denn solange diese Angelegenheit ungeklärt bleibt, ist der Weg für die Demokratie versperrt.“

„Vielleicht war es die katastrophalste Nacht in der Geschichte der Türkei“, beginnt ein Artikel von Nilufer Kubas, ebenfalls auf t24. Sie zitiert einen Schriftwechsel mit einer englischen Freundin und schreibt, dass sogar die schlechteste demokratische Regierung besser sei als ein Putsch. Kubas sieht ein Dilemma zwischen der Herrschaft des Militärs und der Religiösen: „Ich ziehe Zivilleben und Demokratie, ganz gleich wie schwach sie auch sein mögen, einer militärischen Intervention vor. Ich bedauere die Verluste von Menschenleben, die Benutzung von jungen Soldaten ohne Rang als Mittel zum Zweck und die Situation, in die wir als Gesellschaft gekommen sind. Jedoch erfüllten die nachts nicht enden wollenden Aufrufe und Gebete von der Moschee in meinem Viertel mein Herz mit Hoffnungslosigkeit.“ Sie kritisiert die politische Rolle der Moscheen im öffentlichen Raum, insbesondere die Agitation während der Putschnacht: „So falsch es ist, dass ein bewaffneter Staatsbeamter seine Waffe missbraucht, so falsch ist es, dass der für die Moschee beauftragte Beamte die Minarettlautsprecher in dieser Weise gebraucht. Meiner Meinung nach ist diese Praxis mindestens genauso schlimm wie ein Putschversuch. (…) Wenn die Türkei sich immer noch nicht von dem Moschee-oder-Kaserne-Dilemma hat befreien können, und so sieht es aus, dann möchte ich darauf hinweisen, dass mich dies zutiefst bestürzt.“ Viele Menschen fühlten sich „zerquetscht zwischen einem undemokratischen Putschversuch und einer undemokratischen Regierung“. Ein Putsch sei „keine Straftat gegen die Religion, sondern gegen die Demokratie, die gesamte Gesellschaft.“ Der Ort für eine Antwort auf den Putsch sei „das Parlament und nicht die Moschee.“  Ziviler Widerstand gegen einen Putsch sei gut und sinnvoll, „aber die Religion mit einzubeziehen, ist falsch und nicht vereinend.“

Iranische Medien prangern „doppelte Rolle der USA“ an und ziehen Parallelen zum Noje-Coup

Die meisten iranischen Beiträge zu den Entwicklungen in der Türkei sind beschreibender Art. Nicht so der Web-Auftritt der rechten Gruppierung 598, die stark anti-amerikanisch eingestellt ist. Dr. Hasan Hanizade analysiert, dass der Putsch aufgrund von konkurrierenden Gruppen in der herrschenden Elite des Landes zustande gekommen sei. Die Regierung um Erdogan habe in den letzten Jahren eine zerstörerische Regionalpolitik betrieben und dabei auch terroristische Gruppen wie den „Islamischen Staat“ und die Nusra-Front unterstützt. Deshalb seien besonders die Militärs der unteren und mittleren Ränge von dieser Politik, mit der sich die Türkei auch Saudi-Arabien und Katar angenähert habe, enttäuscht. Der Putsch sei gescheitert, da nicht nur wenig einflussreiche, sondern vorwiegend unbekannte Persönlichkeiten geputscht hätten. Darüber hinaus habe die AKP in den letzten zwölf Jahren die Türkei gegen Putschisten eingeschworen und sich eine funktionierende Basis in der Bevölkerung geschaffen. Mitverantwortlich sieht er Fethullah Gülen, der großen Einfluss auf die staatlichen Institutionen und das Militär habe. Allerdings habe dieser nur hinter den Kulissen gewirkt.

Die USA hätten jedoch eine doppelte Rolle gespielt. Zunächst hätten sie gezögert und den Verlauf des Putsches abgewartet. Als klar wurde, dass der Versuch scheitern würde, hätten sie sich hinter Erdogan als „Unterstützer der Demokratie“ gestellt. Dies zeige, dass die USA grundsätzlich ein Problem mit Erdogan haben und sich letztlich eine Veränderung in der Türkei wünschen.

Laut Hanizade ist das „Haltbarkeitsdatum“ der Regierung Erdogans abgelaufen. Genauso wie damals bei Ben Ali in Tunesien oder Mursi in Ägypten. Diese Veränderungen der politischen Struktur der MENA-Region seien nötig und müssten stattfinden. Die Türkei sei zudem in der Zukunft mit großen Herausforderungen konfrontiert, da der Putsch Ausdruck einer politischen und sozialen Unzufriedenheit sei und die Frustration in der Zukunft noch deutlich zunehmen könnte. Dies wirke sich auf die Rolle der Türkei im Syrien-Konflikt aus: Das Land müsse sich aufgrund der eigenen Krise zunehmend aus Syrien herausziehen. Hierdurch könnte sich das Verhältnis zwischen Iran und der Türkei verbessern, da ein Konfliktpunkt zwischen beiden Ländern wegfallen würde.

Die konservative Nachrichtenseite BultanNews berichtet im Zusammenhang mit dem Putschversuch in der Türkei über die „ungewöhnliche Reaktion“ des Enkels von Ayatollah Khomeini, Hasan Khomeini. Dieser hatte ein Foto eines Zivilisten veröffentlicht, der sich vor einen Panzer legt, um diesen aufzuhalten. Dazu kommentierte er, dass ihn diese Tage an die Tage des Putschversuches des iranischen Militärs, bekannt als Noje-Coup, kurz nach der Islamischen Revolution 1980, erinnerten. Damals wie heute werde deutlich: Wenn ein Volk bereit ist sich aufzuopfern, sei kein Putsch möglich. Dies gelte in Zeiten der sozialen Medien umso mehr.

Die zwei Optionen aus libanesischer Sicht

Während Erdogan im Libanon Unterstützer_innen im Norden, Süden und Osten auf die Straße bringt, erkennt der libanesische Daily Star in seinem Leitartikel am Montag „Die Türkei am Scheideweg“. Trotz des raschen Scheiterns seien die Konsequenzen angesichts der Toten und Verletzten eindeutig. Der Putschversuch hätte ein Schlaglicht auf die gravierenden politischen Probleme geworfen, mit der die Türkei konfrontiert sei. Doch statt in die Falle zu tappen, sich auf den Lorbeeren eines durchschlagenden Sieges auszuruhen, der durch die beinahe Totalverweigerung der Machtübernahme durch die Bevölkerung ermöglicht worden sei, hätte Erdogan zwei Optionen: „Er könnte diese Gelegenheit nutzen, um mehr persönliche Macht zu erhaschen, durch ein harsches Vorgehen Kritiker_innen zu vernichten und seine Feinde und deren Sympathisant_innen in einer Hexenjagd zu erlegen. Oder Erdogan könnte diese Gelegenheit nutzen, um die Wurzeln der Unzufriedenheit, die zum Versuch seiner Machtenthebung führten, zu untersuchen und sich bemühen, die Missstände zu lösen, die das Land an den Rand des Abgrunds gebracht haben.“ Es sei nun Zeit, darüber sowie über die regionalen und internationalen Beziehungen der Türkei nachzudenken. Freitagnacht hätte letztlich das Potential, eine Lektion für die türkische Regierung darstellen – um diese stärker, humaner und hin zu friedlicher Stabilität zu bringen.  

 

Fußnote:

[1] Stand 19.06.2016 wurde die folgende Anzahl an Staatsbediensteten verhaftet, suspendiert oder entlassen: Verhaftet: 412 Suspendierte Staatsanwälte und Richter: 2735 Suspendierte Beamte: 1500 Entlassungen im Innenministerium: 8777 Suspendierte Angestellte des Bildungsministeriums: 15200 Entlassungen im Ministerium für religiöse Angelegenheiten: 492 Entlassungen im Polizeipräsidium: 257 Entlassungen im Ministerium für Familie und Sozialpolitik: 393 Lehrern, denen Lizenz entzogen wurde: 21.000 Quelle: Cumhuriyet

Lea ist seit 2011 bei Alsharq. Sie hat Internationale Politik und Geschichte in Bremen und London (SOAS) studiert und arbeitet seitdem als Journalistin. Mehrere Jahre hat sie in Israel und Palästina gelebt und dort auch Alsharq-Reisen geleitet. Lea ist heute Redakteurin bei der Wochenzeitung Die Zeit.
Artikel von Christoph Sydow, Klara Ipek, Diana Beck, Christoph Dinkelaker, Sören Faika