25.10.2023
Queerness im arabischen Kino: Holt euch den Film zurück!
Ausschnitt des Filmplakats von „al-Nadaha“ von Hussein Kamal (1975). Original von Aflam Magda 1975
Ausschnitt des Filmplakats von „al-Nadaha“ von Hussein Kamal (1975). Original von Aflam Magda 1975

Die arabische Filmgeschichte bietet queeren Menschen wenig Identifikation. Im Gegenteil, die wenigen queeren Charaktere sind oft Randfiguren und exotisiert. Nötig ist eine queere Aneignung und Neuinterpretation des arabischen Films.

Fathia ist von einem bösen Zauber befallen. Kairo verwandelt sich in eine Sirene, die sie weg aus der Umarmung der weiten ländlichen Felder in die Welt des Glamours sowie der schillernden Verlockungen lockt. In Kairo angekommen, wird die Stadt zu einem gefährlichen Labyrinth, in dem Fathia immer wieder Gewalt erfährt. Sie nimmt ihr Schicksal trotz vieler Verluste an und folgt bereitwillig dem verführerischen Sirenenruf.

Fathia (Magda al-Sabahi) ist die Hauptdarstellerin im Film „al-Nadaha oder „For Whom the Wind Calls (1975) des ägyptischen Regisseurs Hussein Kamal, eine Verfilmung des berühmten Romans von Youssef Idris. Als wir ihn mit ein paar queeren arabischen Freund:innen bei einem Filmabend bei mir in Berlin sahen, suchten wir den Film nicht bewusst aus. Doch wir alle hegten den Wunsch, intime Erinnerungen an vergangene Heimatorte wieder aufleben zu lassen. Ein ikonisches ägyptisches Melodrama schien das Richtige, um unseren Wunsch nach Intimität und unsere Sehnsucht nach einer Art Katharsis zu stillen. Fathias Träume, ihre Ängste, ihre Verblüffung und Faszination für eine schillernde moderne Stadt schienen auf paradoxe Weise unserem Leben als queere arabische Migrant:innen in Berlin zu gleichen. Nachdem der Film zu Ende war, stellten wir fest, dass wir irgendwie alle Fathia sind; wir wurden alle auf die eine oder andere Weise von Städten wie Berlin verzaubert. Daraufhin fingen wir an, den Film zu diskutieren, jede:r von uns teilte auch schmerzliche Erlebnisse. Durch das Teilen von Erfahrungen, ähnliche Bezüge und unser Verlangen nach Zugehörigkeit fühlten wir uns, wie nach einer Katharsis, emotional erleichtert.

Nach diesem Abend organisierte ich regelmäßig Filmabende mit meinen queeren Freund:innen. Wir sahen uns ägyptische und andere arabische Filme an und diskutierten sie anschließend. Ursprünglich wollte ich die Gespräche aufnehmen, sie systematisieren, sie veröffentlichen. Ich stellte mir Fragen wie: Können wir Fathias Geschichte durch eine queere Lesart interpretieren? Können solche Gespräche als Grundlage für eine queere Methode der Auseinandersetzung mit Filmen dienen? Können wir uns mit ikonischen Filmen auf eine Art und Weise auseinandersetzen, die die Gefühlswelten queerer Araber:innen widerspiegelt und anspricht — eine Zuschauer:innengruppe, ­­­deren Gefühle und Wünsche vom arabischen Kino weitgehend ignoriert wird? Welche Formen, Formate und Rezeptionspraktiken sind für eine queere Sicht aufs arabische Kino erforderlich? Dieser Aufsatz nähert sich diesen Fragen mit Hilfe einiger theoretischer Annahmen und macht methodische Vorschläge für queere Rezeptionspraktiken.  

Filmplakat für „al-Nadaha“ von Hussein Kamal (1975). Original von Aflam Magda 1975

Wir sollten uns nicht auf die Betrachtung der „queeren“ Charaktere beschränken

Es ist viel Tinte darüber vergossen worden, wie queere und nicht-normative Sexualitäten bisher im arabischen Kino dargestellt wurden.[1] Bei der Eingabe von Stichwörtern wie „Homosexualität“ und „Arabisches Kino“ in eine Suchmaschine erscheinen dutzende Artikel und Filmkritiken über homosexuelle und andere nicht der Geschlechternorm entsprechende Charaktere in arabischen Filmen. Doch in keinem der Beiträge findet sich eine Spur des Werkes von Hussein Kamal. Der Grund dafür ist relativ offensichtlich: Zwar gibt es in den Filmen Kamals zahlreiche Frauenfiguren wie Fathia, die unter geschlechtsspezifischen Normen leiden oder die von toxischen, egoistischen Männern unterdrückt werden, aber Homosexualität wird nicht thematisiert. „Al-Nadaha“ ist eigentlich eine Ausnahme in Kamals Werk, denn es enthält die Nebenfigur namens Chucha (gespielt von Sayyf Allah Mukhtar), einem feminisierten Entertainer, der Bauchtänzerinnen begleitet.

Wenn wir der vorherrschenden Repräsentationslogik von Homosexualität im arabischen Kino folgen, würde Chuchas Figur nicht die von Fathia im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit als queere Zuschauer:innen stehen. Ein:e queere:r Zuschauer:in könnte dann die gewagte queere Kleidung und das Vokabular von Chucha loben und darin eine beabsichtigte Auflehnung gegen die vorherrschenden Geschlechternormen sehen. Ein:e andere:r Zuschauer:in könnte verurteilen, wie der Regisseur Chucha durch die stereotype Darstellung ins Lächerliche zieht; und ein:e dritte:r könnte sich mit solchen Klischees identifizieren oder sie sich als wesentliches Merkmal des feminisierten arabischen Queer-Seins aneignen.

Können wir diese Art der Auseinandersetzung mit Chucha als queere Lesart bezeichnen? Vielleicht. Mir geht es in diesem Text eher um queere Rezeptionspraktiken als um queere Lesarten, deswegen schlage ich ein Modell vor, das weder einzelne queere Charaktere analysiert, noch das, was in den Filmen gesagt oder gezeigt wird, für bare Münze nimmt.

Repräsentation ist weder das Merkmal noch das Mittel der queeren Befreiung

(Falsche) Darstellungsweisen queerer Sexualitäten im arabischen Kino aufzudecken kann zweifellos dazu dienen ein kritisches Licht auf die zugrunde liegenden normativen Strukturen zu werfen. Es kann helfen die Wertvorstellungen des arabischen Kinos zu entschlüsseln. Und sie kann die wenigen, aber bedeutsamen Versuchen arabischer Filmemacher:innen, heteronormative Vorannahmen zu dekonstruieren und somit geschlechtsspezifische Normen ins Wanken zu bringen, würdigen. Doch dies wird nichts daran ändern, dass die Anzahl arabischer Filme, in denen explizit queere Charaktere vorkommen, gering ist.

Selbst wenn arabische Autor:innen und Filmemacher:innen versucht haben queere Figuren sichtbar zu machen, bleiben diese Figuren marginal und außergewöhnlich. Eine solche Kennzeichnung mag der sozialen Realität vieler queeren Araber:innen entsprechen, aber sie versagt letztlich darin, ihnen als Zuschauer:innen Formen der Kultur anzubieten,  die sie in ihre persönlichen Realitäten übernehmen können. Es scheint also nichts anderes übrig zu bleiben, sich als queere Araber:innen von der Filmgeschichte, die sie ausgrenzt, zu distanzieren. Damit lehnt man ein ganzes Archiv an Bildern und Geschichten ab, da sie dissonant, wenn nicht gar feindlich gegenüber queeren Gefühlen sind. Gibt es alternative Wege, dieses Filmerbe durch queere Rezeptionspraktiken zurückzuerobern, anstatt es komplett abzulehnen?

Alexander Dotys Sicht auf die amerikanische Massenkultur in „Making Things Perfectly Queer“ (1993) könnte hierbei hilfreich sein. Queerness ist für ihn nicht etwas, das in kulturellen Texten demonstrativ repräsentiert wird oder eine Eigenschaft, die darauf wartet entdeckt zu werden, sondern das Ergebnis bestimmter Rezeptionspraktiken. Eine queere Herangehensweise kann nach Doty nicht nur auf der Forderung nach Anerkennung innerhalb der dominanten Repräsentationen beruhen, sondern muss auch das Aufdröseln und Umgestalten ihrer Logiken beinhalten. Repräsentation ist weder das Merkmal noch das Mittel der queeren Befreiung. Reprästentation ist die Reproduktion der Massenkultur, die sich Queerness aneignet, sie zeigt und übersetzt.

Doty würde sogar so weit gehen, nicht die queere Praxis als „alternativ“ zu bezeichnen, sondern umgekehrt: „Ich habe Neuigkeiten für euch Heterosexuelle: Euer Verständnis von Texten ist meist das „alternative“ für mich. Und oft sieht sie aus wie der verzweifelte Versuch, die Queerness zu übergehen, die so offensichtlich Teil der Massenkultur ist“ (1977).

Vorstellungskraft als Methode

Wie aber können etwas benennen und sichtbar machen, was die Quelle selbst verdrängt und das in ihrer Repräsentationslogik nicht angelegt ist? Durch Imagination, die Vorstellungskraft als Methode. Sie ist ein queerer Zufluchtsort, ein Mittel, um kreativ ein Gegengewicht zur Entfremdung zu schaffen und Darstellungen und Ausdrucksweisen der Welt so zu verändern, dass sie erträglicher und freundlicher wird. Sie kann ein bedeutender Ort für das Ausleben ambivalenter Wünsche und unterdrückter Unterschiedserlebnisse bieten. Die Praxis der Imagination meint keinen rein kognitiven Prozess im kartesischen Sinne, der im Inneren des denkenden Ichs abläuft, sondern einen Prozess, der performativ in Bezug auf konkrete Referenzen wie Filme – durch geteilte Gefühle, Erfahrungen und Geschichten ohne Verdrängung von statten geht.

Die Imagination ist ein wesentlicher Bestandteil bei der Produktion und Interpretation von Bildern. Imagination wurde in Filmen oft als Instrument zur Bildung von Gruppenidentitäten und zur Verfestigung kollektiver Gefühle eingesetzt. Auf der Leinwand werden konstruierte Vorstellungen über die Nation und ihre Geschichte oft zu greifbaren Realitäten, und Vergangenes, das wir nie durchlebt haben, wird lebhaft heraufbeschworen, als wären es schon immer Teil von uns gewesen.[2] Die Art von Imagination, die in der hier vorgeschlagenen queeren Lesart von Filmen zum Einsatz kommt, nährt und kultiviert unweigerlich ein (queeres) Gemeinschaftsgefühl. Sie tut dies jedoch nicht aus einer Position der Macht heraus, sondern um zu ermächtigen.

Es entsteht eine Vision für eine alternative Lebensart, nicht für die Welt wie sie ist, sondern wie sie sein sollte;[3] eine Vision, die hegemoniale Erwartungen an das Sein ablehnt und neue Lebensformen entwirft, indem sie die gegenwärtigen dekonstruiert; eine Vision, die Vergangenheit um ihrer Veränderung und nicht ihrer Wiederherstellung Willen aufgreift; und, die sich nur mit der Vergangenheit identifiziert, um sich im selben Zug zu desidentifizieren.

Wenn ein schwuler Mann beispielsweise Fathias Reise – und nicht die von Chucha – als erzählerisches Mittel heranzieht, um über seine eigene Reise nachzudenken und seine eigene Geschichte zu entwerfen, identifiziert er sich nicht mit dem deterministischen Skript der Geschlechter (weder mit ihrem noch mit seinem). Er löst die Figur aus der heteronormativen Logik, die sie geschaffen hat und ihre Entscheidungen bestimmt. Die Intimsphäre, persönliche Gefühle und Wünsche sind für die queere Neuerschaffung des Seins und der Verschiebung der Bedeutungsebenen zentral.

Das Potential liegt vor allem in der Kreativität der queeren Betrachter:innen

Das Queering des populären Kinos ist nicht nur eine Methode zur Interpretation von Filmen, sondern auch eine Art des Umgangs mit Filmerzählungen. Der Kultur- und Performancetheoretiker José Esteban Muñoz versteht „queere Handlungen“ als eine epistemologische Haltung, die ein ganzes Projekt der „queeren Welterschaffung“ ermöglicht. Muñoz schlägt vor, Queerness als einen Weg der Selbsterkenntnis zu verstehen, der sich nicht an rigorosen identitären Begriffen orientiert. Damit hofft er queere Menschen dazu zu befähigen, die Welt, die sie bisher ausgegrenzt hat, neu zu gestalten.

Alternative Formen des Kulturschaffens erschließen Gegenöffentlichkeiten, die sich darauf konzentrieren, was Handlungen in einer sozialen Matrix bewirken. Einen Film gemeinsam anzusehen, kann ein soziales Ereignis des gemeinsamen Fühlens und Handeln sein, selbst wenn dabei geschwiegen und danach erst diskutiert wird. Schweigen kann als Zeichen einer gemeinsamen Intention gesehen werden, eine bestimmte Erfahrung zu teilen, wie Filmtheoretiker Julian Hanich schrieb. Eine anschließende Diskussion über den Film, die der Imagination Raum gibt, kann ein queeres Werkzeug sein, um Darstellungen von Identität zu verändern.

Es geht nicht darum, populäre Filme vollständig von ihren jeweiligen Kontexten oder den Absichten der Autor:innen und Produzent:innen zu trennen. Vielmehr geht es darum, sie als Vorlage für die Umsetzung alternativer Seinsweisen anzuerkennen. Das Potenzial liegt vor allem in den Handlungen der Rezipient:innen; in der Kreativität der (queeren) Betrachter:innen, kulturellen Produktionen neues Leben einzuhauchen. Filme queer zu verhandeln bedeutet, mit ihnen durch ferne Welten zu reisen, ihre Figuren und Geschichten in fremde Länder und Körper zu entführen und so queere Abwesenheiten zu überschreiben. Nach heterosexueller Logik dominante Repräsentationsformen werden unterwandert.

Das queere „Gesprächskino“: Ein Ausblick

The Art of the Moving Pictures“ des amerikanische Dichter Vachel Lindsay war 1915 eines der ersten Bücher zur Filmtheorie. In ihm entwirft Lindsay eine optimistische Vision für die Zukunft des Films. Er will der kapitalistischen und industrialisierten Filmkunst gegensteuern. Dies erfordert nicht nur eine Revolution der Filminhalte, sondern auch ein Umdenken hinsichtlich der Orte, an denen sie gezeigt werden.

Deshalb schlägt Lindsay einen geeigneteren Aufführungsort vor: „das Gesprächskino“. An der Tür des Kinos und vor Beginn der Vorführung wird jedem:r Zuschauer:in eine Karte mit den folgenden Anweisungen ausgehändigt: Sie werden ermutigt, den Film mit ihrer Begleitung zu besprechen. Die Unterhaltung müsse jedoch so moderat sein, dass sie die anderen nicht störe.

Vorführung und Rezeption sind eng miteinander verwoben, und Bedeutung wird geschaffen durch ein kollektives und gesellschaftliches Ritual. Lindsay hatte eine genaue Vorstellung der Fragen, die die Zuschauer:innen diskutieren sollten. Was mich persönlich vielmehr interessiert, ist die Form der Filmgespräche. Für queere Betrachtungspraktiken müssen wir die Schauplätze und Bedingungen der Vorführung verändern. Wir müssen Arten der Filmvorstellung und -verbreitung einführen, die eine Nutzung auf die von mir vorgeschlagene Weise möglich machen. Das Modell von Lindsay kann als Inspiration dienen. 

Dieser Text erschien zuerst auf Englisch und in einer längeren Version bei Malaffatnas.com

 


[1] Siehe zum Beispiel: Garay Menicucci (1998). “Homosexuality in Egyptian Film.” Middle East Report, Power and Sexuality in the Middle East, no. 206, 1998, pp. 32-36; Samar Habibi (2007) Female Homosexuality in the Middle East: Histories and Representations. London.  Kaya Davies Hayon (2018) Sensuous Cinema: The Body in Contemporary Maghrebi Film. London; Musa Shadeedi (2018) الجنسانية اللامعيارية في السينما العربية، عمان

[2] Zur Rolle von Film und Imagination bei der Konstituierung nationaler Erzählungen in Ägypten siehe dazu: Iskandar Abdalla (2023) “The Visual Nation. Film, Soft Power and Egypt as Community of Spectators” in Ifdal Elsaket, Daniel Biltereyst and Philippe Meers (ed.) Cinema in the Arab World. New Histories, New Approaches.London.

[3] Dazu vgl. Saidiya Hartmann (2022) Aufsässige Leben, Schöne Experimente: Von rebellischen schwarzen Mädchen, schwierigen Frauen und radikalen Queers. Übersetzung Anna Jäger (Hamburg: Claassen).

 

 

Iskandar Abdalla, geboren in Alexandria, Ägypten, studierte Geschichte und Nahoststudien an der Ludwig-Maximilian-Universität München und Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Zurzeit promoviert er an der „Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies“. In seiner Forschung beschäftigte er sich mit dem Islam in Europa, aber...
Redigiert von Regina Gennrich, Vanessa Barisch, Clara Taxis
Übersetzt von Regina Gennrich