23.10.2015
Scham
"Vor Ort" - ein Refugee Welcome Center somewhere in Deutschland. Photo (Ausschnitt): Rasande Tyskar (CC-BY-NC 2.0).
"Vor Ort" - ein Refugee Welcome Center somewhere in Deutschland. Photo (Ausschnitt): Rasande Tyskar (CC-BY-NC 2.0).

Saskia Benter arbeitet im Asylheim Rathaus Wilmersdorf in Berlin. Auf diesen Seiten berichtet sie über Begegnungen mit Menschen, die ihr Einblick in ihr Leben gewähren - persönlich und in Fragmenten, während alles andere weiter läuft, und die Abgrenzung von „hier“ und „dort“, „wir“ und „ihr“ sich vielleicht langsam etwas aufzulösen beginnt.

Zum ersten und zweiten Beitrag geht es hier.

300 Menschen sind heute in Berlin Schönefeld angekommen. So viele unterschiedliche Wege laufen derzeit in diesem gebündelten Fluchtpunkt zusammen. Doch diese Wege können und dürfen nicht linear erzählt werden. Auch sind sie nicht einfach ein numerischer Wert – 200 Menschen, die gestrandet, 50, die ertrunken sind; so viele auch, die unserer Aufmerksam entgehen, noch bevor sie zu einer Nummer werden könnten. Dabei versuche ich mir zu vergegenwärtigen: Menschen haben nicht synchron gelebt und erlebt, nur weil sie im selben Zug waren und später im gleichen Asylheim gelandet sind.

Die Asymmetrie zwischen den Einzelnen. Und das Recht zur Selbstorganisation. Beides ging mir heute nicht aus dem Kopf, als ich Kleidung zusammenlegte und vorsortierte, um sie auf die Zimmer der Familien zu bringen. Eine junge Frau betrat immer wieder die Kleiderkammer und fragte nach Kindersachen. Jedes Mal musste ich ihr aufs Neue erklären, dass in diesem Bereich keine Kleidung ausgegeben werde.

An ihrem Rock hielt sich ein Mädchen fest, das sich bald von der Mutter löste, um mit ruhigen, kleinen Händen die Kleidung zu falten und in die Kisten zu tragen begann. Bald war sie so konzentriert und vertieft in ihre Arbeit, dass sie nicht mehr nach Kleidern für sich selbst Ausschau hielt. Dennoch wurde es irgendwann zu voll in der Kleiderkammer und eine der Helferinnen trug das Mädchen hinaus. Ich regte mich darüber auf, sagte aber nichts.

Die Verteilung von Arbeit im Asylheim läuft zum größten Teil online über einen wöchentlichen Stundenplan ab, in den man sich als Freiwillige*r fürs Dolmetschen, die Essensausgabe, Kinderbespaßung und andere Bereiche einträgt. Dann meldet man sich vor Ort im Aufnahmebüro an, trägt seinen Namen und Anschrift wieder in eine Liste ein, erhält ein Namensschild und kann sich dann für einige Stunden ziemlich uneingeschränkt im Asylheim bewegen. Dazu sind Mitarbeiter von Trägergesellschaften wie dem Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) oder dem Roten Kreuz täglich hier beschäftigt und schlafen mitunter im Heim.

Als die 300 Menschen im Heim ankommen, steht Micky Maus auf dem Flur und verteilt Süßigkeiten und Stifte. Ich verstecke den Freiwilligenausweis unter meinem Schal. Ich schäme mich dafür. Ich kann dieses Gefühl von Scham nur schwer einordnen. Vielleicht schäme ich mich, weil ich nicht einsehe, dass meine Rolle hervorstehen muss. Zu wessen Sicherheit? Ich werde den Gedanken nicht los, dass alle, die die Rolle eines Helfers assimilieren und verkörperen, damit auch die Abhängigkeit Anderer organisieren und verfestigen.

Es gibt Leute, die meinen, sie müssten Flüchtlinge und gar ganze Familien mit wedelnden Armen zusammenpferchen, damit sie auf dem kurzen Weg vom Empfangsbereich zum Wartesaal nicht verloren gehen. Autoritäres Gehabte – im Glauben, die Helferweste würde dazu ermächtigen. Diese Leute würde ich am liebsten in die Wüste schicken.

Indes versammeln sich im Wartesaal viele Familien aus Syrien, die auf ihrer Reise nach Deutschland noch nicht gänzlich verarmt sind. Doch in dem dicht besetzten Raum fiel es ihnen schwer, die finanzielle Selbstbestimmtheit zu bewahren. Eine junge Frau stand sehr aufrecht da, an ihrer linken Schulter hing eine schwere Tasche herunter. Ich gab ihr zu verstehen, die Tasche fallen zu lassen und hockte mich hin, wobei ich eine unsichtbare Tasche mit großen Bewegungen ablegte. Sobald ihre Tasche den Boden berührte, sank sie daneben zusammen und verbarg ihr Gesicht.

Zwei junge Männer aus Syrien fragten mich, wie sie ihr Studium hier so bald wie möglich fortsetzen könnten. Als ich sie zur Aufnahmestelle begleitete, schoben sie ihre Ärmel hoch und kratzten sich an geröteten Stellen, den juckenden Spuren von Krätze. Ich sah auf. Als einer der Brüder meinen besorgten Blick bemerkte, schob er schnell seinen Ärmel runter. Wir alle drei hatten Philosophie studiert, aber der Flur zwischen dem Wartesaal und der Aufnahmestelle war zu kurz, um uns jetzt darüber auszutauschen.

Saskia Benter arbeitet in der Geflüchtetenunterkunft Rathaus Wilmersdorf in Berlin.