23.07.2014
Solidarität mit Gaza – und Syrien?
Solidaritätskundgebung mit der Bevölkerung in Gaza am 12. Juli 2014 in Berlin. Foto: Montecruz Foto / Flickr (CC BY-SA 2.0).
Solidaritätskundgebung mit der Bevölkerung in Gaza am 12. Juli 2014 in Berlin. Foto: Montecruz Foto / Flickr (CC BY-SA 2.0).

In ganz Deutschland demonstrieren Menschen für ein Ende der Gewalt im Gazastreifen. Aber wo waren die Solidaritätsdemonstrationen mit Ägypten, mit dem Irak und vor allem: mit Syrien? Ein Kommentar.

Wäre ich Syrer, ich käme mir verhöhnt vor. Nun bin ich kein Syrer, ich bin Deutscher und als solcher privilegiert – ich wohne in Berlin, ich kenne den Nahen Osten nur als Besucher und Raketen und Todesangst nur aus dem Fernsehen. Systematische Diskriminierung habe ich nie erfahren und ich kann mit meinem Reisepass und meiner Kreditkarte theoretisch jedes Land der Welt bereisen – anders als die zwei Millionen Menschen im Gaza-Streifen, die nirgendwo hin können, und anders als die acht Millionen in Israel, deren Flughafen kaum noch von internationalen Airlines angeflogen wird.

Und ich finde es schrecklich, was aktuell im Gaza-Streifen passiert. Mehr als sechshundert Tote innerhalb weniger Tage, Hunderttausende Vertriebene, zwei Länder in ständiger Angst, unter Raketen- und Bombenbeschuss, mit völlig unfähigen Regierungen, die keinen Zentimeter über den eigenen Machterhalt hinaus die größeren Zusammenhänge sehen können und wollen. Die vielen zivilen Opfer vor allem auf palästinensischer Seite finde ich entsetzlich. Bei zerbombten Krankenhäusern hört auch mein Verständnis für die angeblich „menschlichste Armee der Welt“, die Israeli Defense Forces, auf.

Doch die Reaktionen zum Krieg von Seiten konfessioneller und migrantischer Organisationen in Deutschland ärgern mich teilweise auch maßlos. So die Pressemitteilung des Bundes der Muslimischen Jugend (BDMJ): eine „Erklärung zu den Geschehnissen im Gazastreifen“. Darin schreibt die Organisation: „Die Ereignisse in den letzten Tagen haben uns alle sehr erschüttert und zutiefst verletzt. Unsere Trauer sitzt tief. Jeden Tag sterben Muslime durch den Konflikt im Nahen Osten und es ist für uns schwer zu ertragen, das alles von weiter Ferne zu beobachten. Es ist ernüchternd, dass wir kaum etwas dagegen unternehmen können [...].“ Der Grund für diese Mitteilung war, die muslimischen Jugendlichen in Deutschland dazu zu ermahnen, sich mit extremistischen Aussagen (gegenüber Israel) zurückzuhalten.

Ohne die Überschrift könnte man allerdings denken, es ginge um Ägypten, wo ein entfesseltes Militärregime fast im Monatstakt hunderte von Todesstrafen gegen seine eigene Bevölkerung ausspricht. Oder den Irak, wo eine marodierende Bande im Namen der „einzig wahren Religion“ ein ganzes Land in Angst und Schrecken versetzt und rücksichtslos alles und jeden dahinmeuchelt, der sich nicht fügen will. Oder – und das wäre der am naheliegendste Gedanke – um Syrien, Schauplatz eines unvorstellbaren Massakers eines Diktators an seinem Volk, unter tatkräftiger Mitwirkung bestialischer Fanatiker. Kein Mensch weiß, wie viele hunderttausend Menschen dort in den vergangenen drei Jahren ihr Leben ließen und wie viele Millionen auf der Flucht sind. Allein beim Kampf um ein Gasfeld sind kürzlich mehr als 100 Menschen gestorben; das Schicksal von 270 weiteren sei unklar, heißt es.

Apropos Syrien: Wissen Sie, in wie vielen Pressemitteilungen der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religionen (DITIB), deren Jugendverband der BDMJ ist, dieser Begriff auftaucht? In einer. Sie stammt aus dem Juni 2014 und berichtet über die Feierlichkeiten zum Beginn des Ramadan in Köln. Und wissen Sie, wer dort von „Syrien“ spricht? Der Vertreter des deutschen Auswärtigen Amtes.

Wo bleibt der Aufruf für ein Ende der Gewalt im Irak?

Apropos Deutschland: Wissen Sie, wie viele sogenannte „Solidarität-mit-Palästina-Demonstrationen“ mit häufig erschreckendem Verlauf seit Beginn der Eskalation in Gaza abgehalten wurden? Laut dieser mit Sicherheit unvollständigen Liste fast 30 in 14 Städten, plus einer bundesweiten Lichterkette. Und wie oft wurde im gleichen Zeitraum für ein Ende der Gewalt in Ägypten, im Irak oder in Syrien demonstriert? So viel ich weiß, nicht ein Mal.

Wo war der Aufschrei vor allem islamischer Verbände, als vor einem Jahr etwa 1000 Menschen über Nacht von einem Giftgasangriff im Damaszener Vorort Ghouta dahingerafft wurden? Wo bleibt die Verurteilung von IS (ehemals ISIS) und Konsorten und der Aufruf für ein Ende der Gewalt im Irak durch den Zentralrat der Muslime? Welche Solidaritätsgruppe hat vor der ägyptischen Botschaft demonstriert, als al-Sisi die nächste Muslimbrüder-Säuberungswelle durchs Land rollen ließ? So richtig ich es finde, gegen Tod, Ungerechtigkeit und Willkür gegen Zivilist_innen auf die Straße zu gehen und so originell und informativ manche der aktuellen Kundgebungen auch sind: Käme ich aus einem dieser drei Länder, ich verstünde die Welt nicht mehr – bei allem Respekt vor dem unermesslichen Leid der Bevölkerung in Gaza.

Über die Gründe kann nur spekuliert werden

Denn es ist offensichtlich nicht das massenhafte Sterben, das die Menschen aufwühlt: In Syrien sterben seit dreieinhalb Jahren jeden Tag mehr Menschen als zur Zeit in Gaza. Es ist nicht die massive Ungerechtigkeit, denn die wird auch in Ägypten schon seit mehr als einem Jahr mit aller Gewalt institutionalisiert. Es ist nicht das willkürliche Töten von Zivilist_innen, denn das geschieht täglich, auf viel extremere Weise als im Gazastreifen.

Es muss etwas anderes sein. Über die Gründe kann natürlich auch ich nur spekulieren – sei es, dass der israelisch-arabische Konflikt schon am längsten schwelt und daher die meisten Menschen interessiert und belastet; sei es, dass in diesem Konflikt die Fronten am eindeutigsten sind, im Vergleich etwa zu Syrien, wo auch erfahrene Kriegsreporter_innen angesichts der vielen verschiedenen Fraktionen, Gruppierungen und Allianzen schnell den Überblick verlieren. Eine Erklärung könnte auch sein, dass es in diesem Konflikt für viele Araber_innen und Muslim_innen einfacher ist, sich zu solidarisieren, als etwa in Ägypten. Oder aber, dass der smart lächelnde Herr Assad nicht so ein dankbares Feindbild abgibt wie Israel, das gleichzeitig auch noch als Vertreter des westlichen Imperialismus gelten kann. Oder dass man das Gefühl hat, gegen Autokraten und Dschihadisten zu demonstrieren sei ohnehin nutzlos, weil diese sich nicht umstimmen lassen, im Gegensatz zu Staaten mit gewählten Regierungen wie Israel oder Deutschland.

Wie dem auch sei und was auch immer letztlich den Ausschlag gibt: Solidaritätsbekundungen von Muslim_innen, Linken, Aktivist_innen und anderen Gruppierungen haben für mich angesichts all dessen einen schalen Beigeschmack.

Sein Journalistik-Studium führte Bodo vor einigen Jahren in den Libanon. Es folgten viele weitere Aufenthalte im Libanon und in anderen Ländern der Levante, auch als Reiseleiter für Alsharq REISE. Bodo hat einen Master in Politik und Wirtschaft des Nahen und Mittleren Ostens in Marburg und arbeitet heute als Journalist, meist für die Badischen...