16.11.2020
Streetart in Iran: Hohe Kunst auf der Straße
Ein Balanceakt in der Redchurch Street, Shoreditch: Mehdi Ghadyanloos Bilder schmücken längst nicht mehr nur Teherans Wände. Quelle: flickr, duncan c (https://flic.kr/p/YmfNgN) Lizenz: CC BY-NC 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/)
Ein Balanceakt in der Redchurch Street, Shoreditch: Mehdi Ghadyanloos Bilder schmücken längst nicht mehr nur Teherans Wände. Quelle: flickr, duncan c (https://flic.kr/p/YmfNgN) Lizenz: CC BY-NC 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/)

Zwischen Kunst und Vandalismus kann ein schmaler Grat liegen: Die Straßenkunst Teherans ist vielfältig – aber was bedeutet es für die Kunstschaffenden, sich den öffentlichen Raum der Stadt anzueignen?

Dieser Text ist Teil der Reihe Leipzig Postkolonial, die im Rahmen des Kooperationsseminars „Grenzen und Möglichkeiten journalistischer Berichterstattung aus postkolonialer Perspektive zu WANA (Westasien, Nordafrika)“ an der Universität Leipzig entstanden ist. Das Seminar fand im Sommersemester 2020 unter Leitung von dis:orient-Mitglied Leonie Nückell bereits zum zweiten Mal statt.

Es heißt, er habe den Sprung in den „Westen“ geschafft: Mehdi Ghadyanloo ist iranischer Künstler und stellt seit einiger Zeit in Galerien auf der ganzen Welt aus.[1] Bekannt ist er vor allem für seine riesigen Bilder im Stile des Trompe-l‘œil, die die Wahrnehmung ihrer Betrachter*innen täuschen, indem sie Scheinarchitekturen entwerfen und Illusionen schaffen. Die internationale Presse interessiert sich schon länger für Ghadyanloo –  nicht nur, weil er der erste Künstler ist, der seit der Iranischen Revolution von 1979 sowohl in Iran als auch in den USA öffentliche Aufträge erhält.[2] Kritiker*innen zeigen sich begeistert von seiner Fähigkeit, ganze Welten auf Wänden entstehen zu lassen.[3] Dafür hat Ghadyanloo jahrelang studiert: zunächst Malerei an der Universität Teheran und später Animation an der Tarbiat Modares Universität.

Bevor er internationale Bekanntheit erlangte, machte Ghadyanloo sich in Iran einen Namen – in gewisser Weise mithilfe der iranischen Regierung: Der Staat, genauer gesagt, die Teheraner Stadtverwaltung unterhält eine eigene Behörde zur Stadtverschönerung, das Beautification Bureau (Sāzmān-i  Zībā-sāzī). Dieses engagiert junge Künstler*innen, die auf diese Weise ihre gestalterischen Ideen in der Stadt umsetzen können. An öffentlichen Plätzen und an Autobahnen, zwischen Hochhäusern und an eintönigen Fassaden entstehen seit gut zehn Jahren neue Wandmalereien, die die älteren Werke ergänzen und ersetzen.

Diese älteren Bilder sind vor allem Kriegsgemälde und Märtyrerdarstellungen, denn tatsächlich haben Wandmalereien in der Stadt eine lange Tradition. Schätzungsweise existierten bis zum Jahr 2011 über 2000 öffentliche Wandkunstwerke in Teheran. In manchen Fällen deuten sie dabei nicht nur an, in welchem Teil der Stadt oder der Straße sich die Betrachter*innen befinden, sondern sie informieren auch über die Art des Gebäudes, das sie schmücken. So finden sich beispielsweise Comics oder andere kindgerechte Malereien an Schulgebäuden. Dabei ist die Kunst an Gebäuden offizieller Institutionen wie Ministerien, aber auch Universitäten zumeist von politischer oder propagandistischer Natur.[4]

Im Jahr 2006, beziehungsweise im Jahr 1284 nach iranischem Kalender, bewarb sich Ghadyanloo mit einigen seiner Entwürfe beim Beautification Bureau – und die Jury zeigte sich begeistert. Der Künstler begann, Teherans Straßen mit seinen Ideen zu verschönern, bis 2014 malte er mehr als 100 Bilder. Seine Motive sind mehrdeutig, surreal, träumerisch und in ihrem Stil täuschend echt.

Aber wie sieht Ghadyanloo seine Rolle als Künstler, angesichts von vor allem thematischen Restriktionen und (Selbst-)Zensur? „Wenn ich an den Wänden arbeite, fühle ich mich meinem Publikum gegenüber verantwortlich“, sagte Ghadyanloo vor einiger Zeit im Guardian.[5] Gleichzeitig müssten vom Beautification Bureau beauftragte Künstler*innen wie er die Ziele und Auflagen der Behörde ernst nehmen, die sich an der Umgebung, der umliegenden Architektur, dem Publikum und der Haltbarkeit sowie technischen Qualität der Wandmalereien orientieren. Die Meinungen zu dieser Art der staatlich geförderten Kunst gehen auseinander. Zynische Stimmen mögen dabei sagen, dass Kunst im öffentlichen Raum für politische Zwecke benutzt werde und dabei vergleichsweise kostengünstig sei.

Kunst aus dem Verborgenen

Aber auch abseits der offiziell genehmigten Plätze und Galerien eignen sich Künstler*innen den öffentlichen Raum an: durch Graffiti. „Die neuen iranischen Graffitikünstler*innen sind junge Leute, die nicht im Einklang mit der offiziellen Kultur handeln, manchmal mit ihr in Konflikt geraten und sogar Spaß an einer solchen Erfahrung finden. Für sie ist es eine Möglichkeit der Identifikationsstiftung“, schreibt Mahmoud Kousari, Kommunikationswissenschaftler der Universität Teheran.[6] Dennoch bleibt Straßengraffiti eine illegalisierte Kunstform, nicht nur in Iran oder Teheran. Die Künstler*innen arbeiten im Verborgenen und viele haben wenig Interesse daran, persönlich mit ihrer Kunst in der Öffentlichkeit zu stehen.

Aus der Wissenschaft heißt es unterdessen, dass vor allem die jüngere Generation dabei die vielen politischen Wandbilder und Botschaften gar nicht wahrnehmen würde – seien die Werke offiziell oder illegalisiert. Schuld daran seien Ablenkungen diverser Art: bunte Werbebanner, Poster, Bildschirme, die schiere Anzahl der Gemälde – und möglicherweise auch Instagram.[7] Tatsächlich belegt die soziale Plattform laut Mohammad Qomi, Vorsitzender der einflussreichen staatlichen Islamischen Entwicklungsorganisation, rund 60 bis 70 Prozent der iranischen Internetbandbreite.[8]

Dass sich junge Menschen gerne auf Instagram aufhalten, heißt aber nicht, dass sie die Graffitis nicht zu sehen bekommen, denn iranische Straßenkünstler*innen präsentieren ihre Werke auf genau diesen Plattformen und nutzen diese dazu, ihre illegalisierte Kunst auch im virtuellen Raum zu verbreiten. Bevor die Bilder durch die Regierung entfernt werden können, werden sie fotografiert, gepostet und geteilt und erreichen Graffitifans auf der ganzen Welt.

Mauern als Leinwände

Der wohl berühmteste iranische Straßenkünstler, welcher sich der illegalisierten Kunst verschrieben hat, ist Black Hand. Ein Blick auf seinen Instagram Feed offenbart Schablonen, viel Schwarz, dann alle Farben des Regenbogens und zuletzt – einen Flamingo.[9] Daneben der Schriftzug: „Don’t forget Urmia Lake“. Das Bild steht für die über 10.000 Flamingos, deren Lebensraum am Urmia See im Nordwesten Irans durch einen sinkenden Wasserspiegel bedroht ist.[10]

In seiner Kunst reflektiert Black Hand immer wieder politische und soziale Probleme. Viele mögen seine Werke als ein Mittel zum Protest interpretieren. Black Hand sieht das anders. Kunst sei für ihn ein Weg zum (inneren) Frieden, sagte er vor einiger Zeit im Guardian.[11] „Ich arbeite an den Themen, die in meinem Land vor sich gehen. Wir wachen mit ihnen auf, wir leben mit ihnen und wir schlafen mit ihnen. Kunst beiseite, diese Themen von sich aus ausdrücken zu können, kann helfen, Frieden zu finden.“ Zwar halten sich seine Bilder in der Stadt nur wenige Tage, manchmal nur Stunden. Dennoch macht er weiter, mittlerweile nicht nur in Teheran.

Auf Instagram folgen ihm über 16.000 Accounts. Eines seiner berühmtesten Bilder zeigt eine Frau, die eine Flasche Geschirrspülmittel hochhält, als wäre es ein Sportpokal. Black Hand malte dieses Bild, nachdem es 2014 zu Verhaftungen von Frauen kam, die friedlich gegen das seit 1981 existierende Stadionverbot protestiert hatten.[12] Im Oktober 2019 wurde das Verbot, das Frauen von Fußballspielen ausschloss, graduell gelockert.[13]

„Ich habe das Gefühl, dass die Mauern in meiner Stadt die Leinwand für meine Bilder sind. Die Stadt ist die größte Galerie mit dem größten Publikum“, sagt er. Hier wird offenbar, was die vielfältige Straßenkunst in Teheran und Künstler*innen wie Mehdi Ghadyanloo und Black Hand verbindet: Ob gefördert oder illegalisiert, sie buhlen um die Aufmerksamkeit ihrer Betrachter*innen. Solange Wandmalereien dabei jedoch vom Staat finanziert werden und offiziell genehmigt sind, sind sie Teil des Staatsapparats und seiner Ziele. Sie sollen Raum einnehmen durch Farben, Flächen, Formen und die Darstellung staatlicher Geschichtsnarrative. Illegalisierte Streetart stellt dies in Frage – einen Moment lang, zumindest in der analogen Welt.

 

[4] Karimi, Pamela. 2008. “Imagining Warfare, Imagining Welfare: Tehran’s Post Iran-Iraq War Murals and their Legacy.” Persica 22: 47-63, abgerufen am 12.05.2016.

[7] Vgl. Marzolph, Ulrich. 2013. “The Martyr’s Fading Body.” ” In: Visual Culture in the Modern Middle East. Rhetoric of the Image edited by Christiane J. Gruber and Sune Haugbolle, 164-185. Bloomington: Indiana University. Press. Und Karimi, Pamela. 2008. “Imagining Warfare, Imagining Welfare: Tehran’s Post Iran-Iraq War Murals and their Legacy.” Persica 22: 47-63, abgerufen am 12.05.2016.

ist freie Journalistin und füllt quasi seit sie schreiben kann,  Tagebücher mit Ideen und Beobachtungen. Während ihres Studiums in  Germanistik und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu  Berlin ging es nach Finnland und Griechenland, danach nach Mexiko.  Stationen auf dem Weg zum Journalismus-Master an der Uni Leipzig waren  ...
Artikel von Laurie Stührenberg
Redigiert von Maximilian Menges, Johanna Luther