01.10.2015
Stühle und Mauern
"Vor Ort" - ein Refugee Welcome Center somewhere in Deutschland. Photo (Ausschnitt): Rasande Tyskar (CC-BY-NC 2.0).
"Vor Ort" - ein Refugee Welcome Center somewhere in Deutschland. Photo (Ausschnitt): Rasande Tyskar (CC-BY-NC 2.0).

Saskia Benter arbeitet im Asylheim Rathaus Wilmersdorf in Berlin. Auf diesen Seiten berichtet sie über Begegnungen mit Menschen, die ihr Einblick in ihr Leben gewähren - persönlich und in Fragmenten, während alles andere weiter läuft, und die Abgrenzung von „hier“ und „dort“, „wir“ und „ihr“ sich vielleicht langsam etwas aufzulösen beginnt.

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Im Zimmer herrschte Chaos. Einige Kinder saßen am Tisch und legten Muster zusammen aus bunten Perlen, andere schlugen in die Gitarre, die unter all den kleinen ungeübten Händen gleich sang. Doch auch schon beim Zusehen ergaben sich die verschiedensten und ehrlichsten Lieder. Zwei Jungen, beide um die neun Jahre alt, betraten mit sturem Blick den schmalen Raum. In vielen dieser Kindergesichter lebt ein Ernst und eine Distanz zu den Dingen, aber das ungewöhnlichste an ihnen war der ausgelassene Humor, der plötzlich ausbrach. Dieser klare Unterschied zwischen Ernst und Freude. Das Stille im Gesicht und der plötzliche Lärm in den Augen.

Sie waren älter als die Frauen von denen sie in die Arme genommen wurden. Die Jungen, die gerade ins Zimmer gekommen waren, schauten sich kurz um. Und da keiner zu ihnen aufsah, warf sich einer mit einer Kraft auf den anderen, als würden sie durch die Schläge des anderen wachsen. Dabei schleuderten sie die Jungen gegenseitig durch das Zimmer.

Die heftigen Bewegungen der kämpfenden Kinder riss die Aufmerksamkeit der anderen an sich. Dabei hielten sie ihr Spielzeug umso fester in den Händen. Einer der Betreuer stellte sich zwischen die Jungs und schirmte denjenigen, der gerade auf dem Boden gelegen hatte, mit seinem Körper ab. Wie eine Nussschale, auf die der andere lachend haute. Der junge Mann flüsterte dem Jungen unter sich beruhigende Worte zu. Er hatte eine raue und sanfte Stimme.

Er sprach auf Deutsch, der Junge antwortete etwas auf Persisch und sah ihn dabei an, als hätte er alles verstanden. Es wurde wieder ruhiger, aber die Kinder schauten nun oft über ihre Schulter, um sicher zu stellen, dass keiner hinter ihnen stand. Am Tisch saßen ihre Mütter und schrieben A, B, C und Ds auf das Papier, mit langsamer und denkender Strichführung. Als schrieben sie eine Geschichte und nicht nur deren kleinsten Teile.

Ich saß bei ihnen und las die Buchstaben langsam vor. Ich schaltete die Stimme der älteren Dame neben mir auf stumm. Sie war aus der Nachbarschaft und hatte im Fernsehen gesehen, wie Helfer im Asylheim Essen und Kleider ausgaben. Da konnte sie einfach nicht tatenlos Zuhause bleiben, sagte sie. Kinder habe sie keine, erzählte sie mir, und diese Kinder wären wie ein Geschenk vom Himmel für sie. Als ich mich von ihr abwandte, sprach sie einfach weiter. Was, wenn es bald keine Aufgaben mehr für sie gebe? Wenn ihre Hilfe nicht mehr angenommen werde? Weil jeder einzelne der geflüchteten Menschen (und jede Einzelne?) wieder zu der Selbstständigkeit findet, die er und sie in ihren eigenen Ländern, auf dem Meer oder hier, in diesen Räumen, aufgeben mussten.

Ich schaute auf meine Hände. Etwas an diesem Zimmer stimmte nicht. Und ich wusste, dass die Kinder ganz genau wussten, was es war. Ein kleiner Junge schenkte mir ein Armband, das er eben gerade geflochten hatte. Eine andere Frau, die neben mir saß, streichelte ihm über die Stirn und ich fragte sie mit Gesten, ob es ihr Sohn sei. Sie verstand sofort, nickte und zeigte mit ihrer schlanken Hand auf fünf weitere Kinder im Zimmer. Ich hatte mit ihnen am Tag zuvor Karten gespielt und verstand erst jetzt, dass sie alle Brüder waren. Dabei ähnelten sie sich überhaupt nicht und schienen alle im selben Alter zu sein.

Hinter uns fingen wieder Stimmen an lauter zu werden. In der Mitte des Zimmers zog sich eine Mauer auf. Die beiden Jungs hatten sich ausgesöhnt und trugen Stühle heran, die sie den anderen Kindern wegnahmen und stapelten diese bis zur Wand hoch. Wie Akrobaten stiegen sie auf den Kinderstühlen weiter auf, in jeder Hand einen weiteren Stuhl haltend, den sie vorsichtig wie bei einem Kartenhaus auf die Lehne der anderen stellten. Während sie an der Mauer arbeiteten, verhielten sie sich ruhig und flink. Kein Kind wehrte sich, aber sie unterbrachen das Spiel. Als sie fertig waren, setzten sich die Jungs auf die untersteten Stühle und verschränkten die Arme. Die Mauer verschloss den Türausgang. Sie sprachen kein Wort. Aber es blieb laut im Zimmer, ein Summen schwoll an, so wie an heißen Tagen das Straßenpflaster zu flattern scheint.

Ich drehte mich wieder zu der Mutter und den Buchstabenreihen um, aber sie schüttelte den Kopf, sie konnte sich nicht mehr konzentrieren. Da ging die Tür wieder auf, wie von selbst und ohne eine Hand, die sie öffnete. Zunächst kam niemand. Das Summen wurde lauter. Da stolperte ein kleines Mädchen herein, kaum zwei Jahre alt, und streckte die Arme und Beine in alle Richtungen. Ihre roten Locken hüpften auf und ab. Die Mauer aus Kinderstühlen richtet sich hoch vor ihr auf und die zwei jungen Wächter lächelten sie schief an. Die Frau neben mir zeigte mit ihren langen Fingern auf das kleine Mädchen, ihr jüngstes Kind. Es war bei der Überfahrt von Syrien in die Türkei geboren, in einem engen, unbenutzten Raum am Schiff. Das erste, was das Mädchen sah, als es die Augen öffnete, war dunkles Wasser.

Niemand hatte schätzen können, ob das Schiff sich näher am syrischen oder türkischen Hafen bewegte. Irgendwo im Mittendrin schaute sie auf das Wasser und wurde erst Tage später über festes Land getragen.

Das Mädchen stieß einen tiefen Schrei aus, lachte und rannte auf die Stühle zu, den Kopf und Bauch voran, die kleinen Füßen mehr hüpfend als laufend. Als schmissen sich Wassermassen in ihr hoch, ohne den kleinen fülligen Körper auch nur einen Augenblick aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Die Mauer fiel lautlos um. Als die Stühle auf dem Boden lagen, fingen die Kinder an, sie wieder an die Tische zurückzutragen, den leeren Blick der Zwillingsbrüdern vermeidend. Das kleine Mädchen lief im Zimmer umher, blieb immer wieder stehen und lies einen glücklichen Aufschrei los, an keinen und alle zugleich gerichtet. Es war schwer, sie anzusehen, ohne dabei lachen zu müssen. Unter ihr schlug der Boden in Wellen auf. Und als sie sich der kinderlosen Damen neben mir näherte und diese die Arme ausstreckte, um sie aufzufangen, schoss ihr nur eine große Ladung Salzwasser entgegen. Die ältere Dame fuhr sich mit nassen Händen über das Gesicht. Dann sah sie dem davonrennenden Mädchen nach, das sich in keine Arme werfen würde, nur in Mauern, die sich von selbst in die Höhe aufrichteten und Steine in die Hände von Kindern legten, die lieber mit Karten gespielt hätten.

Saskia Benter arbeitet in der Geflüchtetenunterkunft Rathaus Wilmersdorf in Berlin.