06.04.2023
Zwei Monate nach dem Erdbeben: „Einfach nicht vergessen“
Eine Frau in Maraş, kurz nach dem Erdbeben am 6. Februar 2023. Foto: Erlent Karadoruk
Eine Frau in Maraş, kurz nach dem Erdbeben am 6. Februar 2023. Foto: Erlent Karadoruk

Ärztin Ilkem Sarikaya war in der Woche nach dem Erdbeben am 6. Februar 2023 in der Türkei und Nordsyrien vor Ort, in Maraş. Im Interview spricht sie über die Situation damals, die Rolle des Staates und erklärt, was die Menschen jetzt brauchen. 

Ilkem ist angehende Internistin am Schwarzwald Baar Klinikum in Villingen-Schwenningen in Baden-Württemberg. Nach den zwei Erdbeben am 6. Februar 2023 rief sie in ihrer Klinik zu Spenden auf und flog in die Türkei, um im Erdbebengebiet selbst für die Verteilung der Spenden zu sorgen und medizinische Hilfe zu leisten. Insgesamt war sie neun Tage vor Ort.

Ilkem, in welcher Region der Türkei warst du genau?

Ich war in Narlı. Das ist eine Gemeinde in der Provinz Maraş – dem Epizentrum des Erdbebens. Fünf Tage nach dem Erdbeben bin ich nach Adana geflogen und von dort aus zwei Stunden weiter nach Narlı gefahren. Der Flughafen in Adana wurde nach dem Erdbeben logistischer Dreh-und Angelpunkt, war dafür aber überhaupt nicht ausgelegt. Ein völliges Chaos eröffnete sich mir, die Leute waren alle überfordert. Bereits am Flughafen waren die Menschen dankbar für jede Hilfe. Ich kam mit meiner Notärzt:innentasche und war eindeutig als Helferin erkennbar.

Wie hast du die Situation bei deiner Ankunft in Narlı wahrgenommen? 

Ich kam in Narlı als erste Ärztin an und die Situation dort war ebenfalls das reine Chaos. Als Erstes habe ich eine verantwortliche Person gesucht, die mir helfen könnte, einen Ort für Behandlungen aufzubauen– ein Zelt, oder einen abgeschlossenen Raum um die Privatsphäre der Menschen zu garantieren und unter einigermaßen hygienischen Bedingungen arbeiten zu können. Der Vorsitzende der alevitischen Gemeinde wurde mir als zuständige Person vorgestellt, aber war sichtlich überfordert. Die Menschen in Narlı sahen an meiner Tasche, dass ich Ärztin bin. Durch Mund zu Mund Propaganda standen binnen fünf Minuten dutzende Menschen mit unterschiedlichen Beschwerden um mich herum. In einem  neu errichteten Zeltdorf auf dem Sportplatz, welches unter der Kontrolle des Militärs stand, habe ich dann schlussendlich ein Untersuchungszelt zur Verfügung gestellt bekommen. Drumherum fehlte es an allem. An Essen, an Wasser und Trinkwasser, an Toiletten.

Blick auf Maraş, kurz nach dem 6. Februar 2023. Foto: Erlent Karadoruk

Hattest du schon vorher Verbindungen zu Menschen in Maraş? Mit wem hast du vor Ort zusammengearbeitet?

Direkt am Tag des Erdbebens war für mich klar, ich muss irgendwas machen. Das war keine rationale Entscheidung, sondern eine emotionale. Ich saß nur noch da und habe geheult bei dem Anblick der Bilder und Videos aus der Region. Ich kenne die Vorsitzende der Türkischen Ärzt:innenkammer, Prof. Dr. Şebnem Korur Fincancı. Sie ist Menschenrechtsaktivistin und international anerkannte Spezialistin für Folterdokumentation – in den vergangenen Jahren wurde sie mehrfach wegen politischer Tätigkeiten angeklagt. Da sie mir sagte, dass Sachspenden in LKWs oft aufgehalten würden, entschloss ich spontan, die von mir gesammelten Spenden selbst in die Türkei zu bringen.

Dann dachte ich: Wenn ich schon einmal da bin, kann ich auch direkt länger bleiben und meine ärztliche Ausbildung nutzen, um die Menschen zu versorgen. Şebnem gab mir den Kontakt des Vorsitzenden der türkischen Ärzt:innenkammer in Adana. Bei meiner Ankunft habe ich dort eine Bestätigung meiner deutschen Approbation bekommen, die es mir erlaubte in der Türkei ärztlich tätig zu sein. Ich habe also mit der türkischen Ärzt:innenkammer zusammengearbeitet, sonst mit keiner Organisation. Ich habe das privat organisiert, mithilfe der Sachspenden aus meiner Klinik und vor Ort unterstützten mich Freund:innen.

Welche medizinischen Anliegen hatten die Menschen vor Ort – waren es vor allem Verletzungen, die durch das Erdbeben verursacht wurden oder allgemeine medizinische Anliegen?

Bevor ich hingeflogen bin, hatte ich die Befürchtung, dass ich vor Ort ärztlich nicht viel machen kann. Mein Fachgebiet ist die Innere Medizin. Und ich dachte: Jetzt habe ich es mit Menschen zu tun, die durch das Erdbeben verschüttet worden sind. Vor Ort hat sich das ganz anders dargestellt. Ich war nicht in der unmittelbaren Nähe von Trümmern tätig, sondern in den Zeltlagern, zu mir kamen eher Menschen, die allgemeine internistische Beschwerden hatten.

Aufgrund der Kälte zum Beispiel hatten die Menschen sehr oft bronchopulmonale Infekte, also Erkältungen und beginnende Lungenentzündungen. Einige konnten ihre chronischen Erkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck nicht wie normal behandeln, da sie ihre Medikamente nicht mehr bekamen. Sprich, das waren Sachen, mit denen ich auch in Deutschland täglich in der Klinik konfrontiert bin. Für die Versorgung von Wunden und Verbrühungen durch umgestürztes heißes Wasser, das viele in Holzöfen erhitzten, halfen mir die Soldaten.

In den Wochen nach dem Erdbeben wurde in der deutschen Presse immer wieder berichtet, dass die Hilfsbereitschaft vor Ort untereinander sehr groß sei. Kannst du das bestätigen?

Ja, das habe ich auch so erlebt. Dazu kann ich eine rührende Anekdote erzählen. Am Morgen nach meiner Ankunft in Adana sind wir erstmal mit den gesammelten Spenden aus der Klinik einkaufen gegangen, vor allem Hygieneartikel. Als wir im Laden standen und die Leute bemerkten, dass wir Unmengen an Unterwäsche und Thermowäsche kauften, wurde ich direkt angesprochen, ob ich ins Erdbebengebiet fahren würde. Als ich das bejahte, gaben mir in einem Laden die Verkäuferinnen einige Spenden.

Eine andere Kundin, die neben mir an der Kasse stand, drückte mir plötzlich Haargummis in die Hand. Woanders gaben uns die Mitarbeiter:innen an der Kasse ihre Mitarbeiter:innenrabatte. Der Drang der Menschen, irgendetwas zu tun, war wirklich enorm. In Adana, aber auch hier in meiner Klinik.

Die Risse, die das Erdbeben verursacht hat, sind weiterhin sichtbar. Foto: Erlent Karadoruk

Wie hast du den türkischen Staat wahrgenommen, während du in Maraş warst?

Gar nicht. In Narlı war ich die allererste Ärztin. Bis heute ist dort kein:e weitere:r Ärzt:in gewesen. Am vierten oder fünften Tag dort kam der türkische Fernsehsender TRT-1, filmte das Zeltdorf und interviewte Menschen, aber nur jene, die lobend über die Regierung sprachen. Und es wurde ein Fußballturnier zwischen Soldaten und Kindern organisiert. Das haben sie auch gefilmt, mit der Botschaft: „Das ist ein Erdbebengebiet, aber die Welt ist heile.“ In ‚meinem‘ Zeltlager war die Armee anwesend und hat unterstützt, aber das war eher eine Ausnahme als die Regel.

Wie wurde in diesen ersten Wochen die Versorgung mit Medikamenten gewährleistet?

Das wurde von der türkischen Apothekervereinigung organisiert. Nicht der Staat oder staatliche Organisationen wie der Türkische Rote Halbmond (TRH). Die waren nirgendwo zu sehen, obwohl dort die ganzen Spenden des DRK und andere internationale Hilfsgüter gelandet sind. Insbesondere in abgelegenen Dörfern fehlte von Hilfe jede Spur.

Meine Freund:innen und ich waren auch außerhalb des Zeltlagers in Narlı unterwegs. Wir sind einfach der Straße gefolgt, es war Zufall an welchen Dörfern wir vorbei kamen und wo wir helfen konnten. Am zehnten Tag nach dem Erdbeben trafen wir zum Beispiel auf eine ältere Frau, die zwei Tage vor dem Erdbeben am Rücken operiert worden war. Am Tag des Erdbebens ist ihr ein Balken auf den Rücken gefallen. Sie hatte eine offene Wunde, bis ich sie versorgen konnte.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat schon am Tag nach dem Erdbeben den Ausnahmezustand ausgerufen. Was bedeutet das und wozu dient er?

Der Ausnahmezustand ist eine Regelung, die getroffen wird, um bürokratische Hürden abzubauen und schneller agieren zu können. Allerdings hat Erdoğan durch das Präsidialsystem diese Rechte sowieso. Das heißt, ein Ausnahmezustand war in dieser Situation de facto nicht notwendig.

Aber die Entscheidung hat zwei Vorteile für die türkische Regierung. Die Gendarmerie patrouillierte zusätzlich zur Armee, sie haben auch mein Dokument der türkischen Ärzt:innenkammer genau inspiziert. Da ich als Einzelperson vor Ort war, stellte ich vermutlich keine Gefahr für sie dar. Das Zeltdorf der alevitischen Gemeinde hatte es schon schwerer, weil dort nach und nach linke Organisationen wie die türkische fortschrittliche Gewerkschaftsvereinigung KESK ankamen. Und die wurden jeden Tag mehrfach von der Gendarmerie kontrolliert.

Der zweite Vorteil ist, dass Erdoğan die Bauaufträge für den Wiederaufbau nicht offen ausschreiben muss. Eines seiner Wahlversprechen für die Präsidentschaftswahl am 14. Mai ist, ganze Städte in einem Jahr wieder aufzubauen – ob das wirklich möglich ist, sei mal dahingestellt. Aber ohne offene Ausschreibungen kann er Klientelpolitik betreiben und einfach der Baufirma, mit dessen Leitung er sich gut versteht, das Recht geben, die Stadt aufzubauen. Durch den Ausnahmezustand kann die Entscheidung nicht angefochten werden.

Zusammengestürzte Gebäude, Maraş kurz nach dem 6. Februar 2023. Foto: Erlent Karadoruk

Wie würdest du die aktuelle Situation in den betroffenen Regionen beschreiben? Was brauchen die Menschen am dringendsten?

Tatsächlich ist die Situation ziemlich bitter. Die Hilfsangebote und Spenden ebben ab, weil die Leute außerhalb der betroffenen Region wieder in ihr normales Leben zurückkehren. Obwohl das Zeltdorf, in dem ich gearbeitet habe, unter der Kontrolle der Armee stand, hatten die Menschen bis zum Tag meiner Abreise keine Toiletten. Sie sind deswegen bis zum 14. Tage nach dem Erdbeben noch in ihre einsturzgefährdeten Häuser gegangen, erst dann wurden Duschen installiert. Und wie gesagt, das ist ein quasi privilegiertes Dorf.

Den Leuten fehlt es immer noch an Grundlegendem wie Essen, Trinkwasser, einer Wasserversorgung, um den täglichen Bedarf zu decken. Und vor allem auch ein richtiges Dach über dem Kopf. Vor ein paar Tagen gab es sehr starke Regenfälle, die unter anderem in Urfa zu Überschwemmungen geführt haben. Diese Menschen lebten in Zelten, die einfach weggeschwemmt wurden. Ich habe weiterhin Kontakt zu meinen Bekannten in Hatay und die sagen ganz klar: „Bitte vergesst uns nicht, wenn ihr in euer normales Leben zurückgeht“.

Wäre es dann im ersten Schritt nicht wichtig, Gebäude wieder aufzubauen?

Ja, genau. Allerdings ist es wichtig, das Ganze parallel laufen zu lassen. Denn selbst wenn Erdoğan in einem Jahr alles wieder aufgebaut hat, was sollen die Menschen ein Jahr lang machen? Dementsprechend ist es viel wichtiger Container aufzustellen, in denen Kinder unterrichtet oder die als Kindergärten dienen können, damit auch die Eltern entlastet werden. Und das zweite, das parallel in Absprache mit Fachgesellschaften laufen muss, ist, wie der Wiederaufbau der neuen Häuser gestaltet wird, damit sie für die Zukunft erdbebensicher sind.

Erdoğan macht gerade dort weiter, wo er vor dem Erdbeben aufgehört hat. Diese Region ist eine Erdbebenregion, wir können nicht davon ausgehen, dass sich kein neues Erdbeben ereignet. Die Türkei hatte 1999 ein Erdbeben erlebt, das sogar noch stärker war. Damals sind 30.000 Menschen gestorben, das Epizentrum war in Gölcük. Daraufhin wurden in dieser Region Häuser nur noch zwei bis drei Stockwerke hoch gebaut. Es wurde zumindest teilweise aus den Fehlern gelernt.

Sind dir, als du zurück warst, Unterschiede zwischen der deutschen und türkischen Berichterstattung sagen?

Die deutschen Medien berichten meist kritisch über Erdoğan. Dennoch wurde dort für Spenden an den TRH aufgerufen, obwohl Skandale bekannt waren: Die Organisation verkaufte gespendete Zelte am dritten Tag nach dem Erdbeben an private Hilfsorganisationen, anstatt sie direkt an die Erdbebenopfer zu verteilen. Die Kritik am TRH sollte mehr Beachtung in der deutschen Berichterstattung finden.

Die türkischen Mainstream-Medien sind ein Sprachrohr Erdoğans. Er hat 95 Prozent der türkischen Medien in der Hand und dementsprechend läuft da nicht viel an Kritik. Am ersten oder zweiten Abend nach dem ersten Erdbeben, hat sich der Vorsitzende des türkischen Katastrophenschutzes hingestellt und gesagt, sie hätten alle Trümmerhaufen erreicht – auf einem Gebiet von elf Städten mit 15 Millionen Einwohner:innen. Rational betrachtet ist das sehr fraglich. Während das überall in türkischen Medien verbreitet wurde, suchten die Menschen immer noch verzweifelt nach ihren Angehörigen.

Suche nach Verschütteten. Maraş, kurz nach dem 6. Februar 2023. Foto: Erlent Karadoruk

Was möchtest du den Leuten mitgeben, die dieses Interview lesen?

Wir sollten die Menschen in der Türkei und Syrien trotz unseres Alltagstrubels nicht vergessen. Es ist sehr wichtig, die Situation dort weiterzuverfolgen, weil ein großer Teil der deutschen Bevölkerung aus der Türkei und aus Syrien stammt. Wir haben eine Verantwortung, uns solidarisch zu zeigen. Die EU plant Hilfsgelder an die Türkei zu spenden. Wo fließt das Geld hin? Wir können uns nicht darauf ausruhen, Geld zu spenden und damit ist es getan. Wir müssen achtsam sein und sehen, ob die Spenden auch wirklich bei den Leuten ankommen, die es brauchen.

 

Wir danken Erlent Karadoruk, dass er uns seine Bilder zur Verfügung gestellt hat.

 

 

 

 

 

 

Regina hat Kulturwissenschaften in Frankfurt Oder studiert, mit den Schwerpunkten Linguistik und Sozialwissenschaften. 2023 fängt sie ihren Master in European Studies an. Im Magazin von Dis:orient ist sie seit Dezember 2022 aktiv und  übernimmt 2023 die Zweitkoordination der Kolumne.
Redigiert von Jana Treffler, Clara Taxis