13.06.2023
Schengen-Visa nur über Reiseagentur: Wenn Roboter Termine buchen
Ein Schengen-Visum zu erhalten braucht Zeit und Geld – immer mehr private Unternehmen bereichern sich an diesem Prozess. Illustration: Claire Destruhaut-Terán/KI
Ein Schengen-Visum zu erhalten braucht Zeit und Geld – immer mehr private Unternehmen bereichern sich an diesem Prozess. Illustration: Claire Destruhaut-Terán/KI

Private Unternehmen sollen Botschaften entlasten und verdienen an langen Wartezeiten. Auch Reiseagenturen haben den Markt für sich entdeckt. Im Interview berichtet Rihab Boukhayatia über den Terminhandel zur Visabeantragung in Tunesien.

Das Auslagern bestimmter Arbeitsbereiche an private Unternehmen ist bei deutschen Botschaften inzwischen gängige Praxis. Sie erklären diese Praxis meist der großen Anzahl an Visumanträgen und Personalmangel bei den Behörden. So auch die deutsche Botschaft in Tunis. Bei TLScontact findet der erste Schritt dem Visumsprozesses statt: die Antragstellung. Dafür einen Termin auf der Website des Unternehmens zu buchen, bereitet jedoch Schwierigkeiten. Frei verfügbare Slots sind teilweise schlicht nicht vorhanden. Eine inzwischen gängige Lösung: Reiseagenturen. Sie versprechen ihren Kund:innen Termine gegen Geld. Vor Kurzem machte der Tunesier Motez Bellakoud seine Erfahrungen mit einer dieser Agenturen öffentlich. Viele tunesische Medien berichteten darüber. Die Juristin und Journalistin Rihab Boukhayatia hat den Vorfall aufgearbeitet und spricht mit dis:orient über ihre Recherche. 

Was ist TLScontact?
Seit April 2022 arbeitet die Firma TLScontact für die Bundesrepublik Deutschland und übernimmt bürokratische Aufgaben im Visumsprozess tunesischer Staatsbürger. Auch in anderen Ländern findet eine Zusammenarbeit statt. TLScontact setzte sich in der letzten, öffentlichen Ausschreibung durch und löste damit den vorigen Partner VFS Global ab. Neben Deutschland, arbeiten auch Frankreich, Belgien und die Niederlande in Tunesien mit TLScontact zusammen. Insgesamt sitzt das Unternehmen in 90 Ländern und betreibt nach eigenen Angaben 150 Visa-Zentren. TLScontact ist ein Tochterunternehmen von Teleperformance – einem multinationalen Unternehmen, das in Nordafrika und Westasien Callcenter betreibt. Als privates Unternehmen arbeitet TLScontact profitorientiert, und macht daraus kein Geheimnis. Manche der angebotenen Leistungen vermitteln den Eindruck, zahlungskräftige Kunden würden bevorzugt. Dazu gehören Dienstleistungen wie die Premiumlounge: Für einen Aufschlag von 89 tunesischen Dinar (TND), knapp 27 Euro, dürfen Antragssteller:innen einen exklusiven Warteraum mit kostenlosen Erfrischungen ohne „lästige Warteschlangen“ nutzen. Mit dem „Prime Time Service“, Aufpreis: 111 TND – etwa 33 Euro, kann der Visumantrag sogar außerhalb der Öffnungszeiten gestellt werden. Summen, welche für die meisten Tunesier:innen, keine Kleinigkeit bedeuten. Ein:e Verkäufer:in müsste dafür etwa ein Drittel des monatlichen Gehalts aufbringen. 

Rihab, Motez Bellakoud wollte ein Visum für Frankreich beantragen, scheiterte aber immer wieder daran, einen Termin über TLScontact zu buchen. In seiner Verzweiflung entschied er sich, eine der sogenannten Reiseagenturen zu kontaktieren, die mit Terminen für Schengen-Visa werben. Diese bot ihm einen Termin für Juli zum Preis von 850 TND an, umgerechnet über 250 Euro. Daraufhin veröffentlichte Motez seine Erfahrungen inklusive Screenshots des Chats mit der Reiseagentur. Wie reagierte die Agentur?

Der Besitzer der Agentur äußerte sich daraufhin im Radiosender Mosaïque FM. Er erklärte, dass der Betrag, den sie von den Kund:innen verlangen, ein ganzes Paket beinhalte: Hotelreservierung, Erstellung des Visumantrags bzw. Überprüfen der Unterlagen sowie die Terminvereinbarung für das Visum. Ich selbst habe noch eine weitere Agentur kontaktiert, die mir das Gleiche erzählte. Der geforderte Betrag beläuft sich auf etwa 850 TND.

Vorwürfe wegen Korruption wurden gegen TLScontact und die zuständigen Konsulate laut. Haben Mitarbeiter:innen von TLScontact oder den jeweiligen Konsulaten unter der Hand mit Reiseagenturen Deals gemacht und ihnen Erleichterungen bei der Terminbuchung ermöglicht?

Der Geschäftsführer von TLScontact für Nordafrika, Bassem Missaoui, erklärte, dass es in seinem Unternehmen keine Korruption gebe, da der Visumantrag nur im Namen einer einzigen Person gestellt werden könne. Der Direktor von TLS bestreitet jegliche Zusammenarbeit mit Reisebüros. Er sagte: Gebe es eine Erleichterung, an einen Termin zu kommen, müsste diese auf der Ebene der Konsulate passieren.

Der Vorwurf, die Konsulate würden sich auf eine Zusammenarbeit mit Reisebüros einlassen, beruht auch auf den Aussagen einer Agentur, die du kontaktiert hast...

Den Angaben dieser Firma zufolge haben sie Handelsverträge mit Visazentren von Konsularabteilungen anderer Länder, die es ihnen ermöglichen, Visa-Termine zu vereinbaren. Sie gaben an, dass sie sich auch direkt an die Konsularabteilungen wenden, um Termine zu erhalten. Einige Länder arbeiten nicht mit TLScontact zusammen, dennoch werben Reiseagenturen mit Visa für diese Länder, zum Beispiel für Italien. Das italienische Konsulat bestritt jedoch, mit diesen Agenturen zusammenzuarbeiten. Die Vorwürfe der Korruption konnten also nicht bewiesen werden.

Agenturen scheinen einfacher an Termine zu kommen. Eine Petition erhebt den Vorwurf, Reisebüros würden die Termine in großen Mengen reservieren und dann an Kunden teuer weiterverkaufen. Der Chef von TLScontact betonte allerdings, dass Termine nicht übertragbar seien. Agenturen wären demnach nicht in der Lage, viele Termine auf einmal zu buchen und sie anschließend zu verkaufen. Warum kommen sie also an Termine, Einzelpersonen aber nicht?

Richtig, die Terminbuchung läuft über den jeweiligen Namen des Kunden und kann somit nicht an andere Personen weiterverkauft werden. Er ist also individuell auf den Namen einer einzigen Person ausgestellt. Doch die Agenturen beobachten nach eigenen Angaben die Website von TLScontact durchgängig und buchen die Termine, sobald sie verfügbar sind. Laut dem französischen Generalkonsul in Tunesien verfügen diese Agenturen über Roboter, die es ihnen ermöglichen, die Terminfreischaltungen durchgängig zu scannen. Sie haben die Daten ihrer Kunden zu dem Zeitpunkt bereits aufgenommen und buchen die Termine unter deren Namen.

Werbebild einer Reiseagentur (RDV bedeutet Termin)

Was sagt das tunesische Gesetz zu den Arbeitsweisen dieser Reiseagenturen? Können sie dafür rechtlich belangt werden?

Es gibt ein rechtliches Vakuum. Die Aktivitäten dieser Agenturen sind nicht illegal. Ich habe eine Quelle aus dem Tourismusministerium kontaktiert, die mir erklärte, dass es keinen Gesetzestext gibt, der es ermöglicht, diese Agenturen strafrechtlich zu verfolgen.

Die Petition ruft die die Europäische Union dazu auf, die Aktivitäten der externen Dienstleister zu überprüfen und stärker zu kontrollieren. Wie haben die Auslandsvertretungen der jeweiligen Länder auf die Vorwürfe reagiert? Wurden Maßnahmen ergriffen?

Die Frage nach Überprüfung der Outsourcing-Politik und Kontrolle über die Aktivitäten der Dienstleister habe ich dem französischen Konsulat in Tunesien gestellt. Sie wollten sich allerdings nicht zu einer möglichen Überprüfung ihrer Politik äußern. Sie wischten die Vorwürfe des Betrugs und der Korruption in der Dienstleistungsfirma, mit der sie zusammenarbeiteten (TLScontact), einfach beiseite.

Was hat sich seit der Veröffentlichung deines Artikels und der zuletzt großen öffentlichen Aufmerksamkeit für das Thema getan?

Die Reiseagenturen bieten trotz der Öffentlichkeit weiterhin Termine zur Beantragung eines Visums an. In Bezug auf Frankreich erklärte mir der französische Generalkonsul in Tunesien, dass seine Dienststellen, dazu gehört TLScontact, ein System eingeführt hätten, um die bestmögliche Bearbeitung der Anträge zu gewährleisten und Betrug zu bekämpfen. Dank dieser Anpassung seien im Mai 1.050 zusätzliche Termine freigeschaltet worden. Weitere 1.000 Termine sollen in Kürze für den Monat Juni hinzukommen. Die Terminfenster für den Monat Juli – für Kurzaufenthaltsvisa — werden zwischen Ende Mai und Anfang Juni online gestellt. Dies sind etwa 10.000 Termine, die monatlich angeboten werden.

 

Anmerkung:
Das Auswärtige Amt (AA) reagiert nach einer Anfrage von dis:orient auf die Vorwürfe mit einem Verweis darauf, dass Termine nur über das Onlineportal von TLScontact buchbar seien. Außerdem bestätigt es, dass Reiseagenturen personelle Kapazitäten und gängige technische Hilfsmittel, wie Auto-Fill-Programme nutzen würden, um freigeschaltete Termine schneller buchen zu können. „Um dem entgegenzuwirken, beinhaltet das Terminvergabesystem bereits technische Maßnahmen – an deren Verbesserung arbeiten wir kontinuierlich“, heißt es von Seiten des AA. Außerdem weist die Behörde daraufhin, dass „Visa-Agenturen aus Geschäftsinteresse bewusst den falschen Anschein eines privilegierten Zugangs zum externen Dienstleister“ erwecken würden. Gleichzeitig begründet das AA die Vorzüge der Zusammenarbeit mit externen Dienstleistern wie TLScontact mit kürzeren Wartezeiten und besserem Kundenservice: „Die optionalen und ggf. kostenpflichtigen Zusatzleistungen ermöglichen den Antragstellenden ihre Visumanträge schnell und effizient direkt vor Ort vorzubereiten.“ 

 

 

 
Hannah Jagemast hat Arabistik und Islamwissenschaft in Leipzig und Tunis studiert. Sie arbeitet als freie Journalistin mit Fokus auf Tunesien, Nordafrika, soziale Bewegungen und koloniale Kontinuitäten. Seit 2022 studiert sie den M. Sc. Journalismus in Leipzig.
Redigiert von Claire DT, Jana Treffler