20.01.2014
Verfassungsreferendum in Ägypten: Unerhört aber nicht vergessen
Auf verlorenem Posten? "Nein zur Verfassung, nein zum Referendum". Bild: Moud Barthez (CC BY 2.0)
Auf verlorenem Posten? "Nein zur Verfassung, nein zum Referendum". Bild: Moud Barthez (CC BY 2.0)

Die neue Verfassung Ägyptens, die im Referendum vergangene Woche bestätigt wurde, soll die gesellschaftliche Polarisierung überwinden – dabei zeigt gerade der Verlauf der Abstimmung, wie die Spaltung aus Kalkül forciert und Einzelne in die Isolation getrieben werden. Für sie war ein Boykott des Referendums die einzige Möglichkeit, um ihr Misstrauen zum Ausdruck zu bringen.

Allen gegenteiligen Bekundungen zum Trotz unterscheidet sich die ägyptische Verfassung von 2012 nur bedingt von der jetzt überarbeiteten und frisch angenommenen Version. Zwar heißt es, dass die „neue“ Verfassung den Einfluss des Islams beschränkt und stattdessen mehr Rechte für Frauen sowie den Schutz der christlichen Minderheit garantiert. Doch kommt es viel weniger auf allgemeine Aussagen in der Verfassung als auf die Auslegung von Gesetzen an. Indem sie beide repressive und autoritäre Regierungspraktiken eher befördern als beschränken, ähneln sich daher auch die „alte“ und die „neue“ ägyptische Verfassung.

Nach der überarbeiten Verfassung sind zum Beispiel politische Parteien mit religiöser Basis illegal – die Muslimbruderschaft wurde jedoch schon zuvor als terroristische Organisation verboten, um einen „rechtmäßigen“ Vorwand dafür zu fingieren, dass bereits Hunderte ihrer Mitglieder und vermeintliche Sympathisanten verfolgt, einsperrt, drangsaliert und getötet wurden. Zweifelsfreie Beweise dafür gibt es jedoch keine. Von dem Bombenattentat in Mansoura am 24. Dezember, auf dessen Grundlage das Verbot ausgesprochen wurde, distanzierte sich die Bruderschaft nämlich schnell, während sich eine islamistische Gruppe längst dazu bekannt hatte.

In solchen Maßnahmen erweist sich autoritäre Kontinuität. Daher ist es belanglos, dass die neue Verfassung vorgibt, persönliche Rechte zu beschützen. Denn dafür sind die Grenzen staatlicher Einflussnahme zu schwammig formuliert. So ist die freie Meinungsäußerung zum Beispiel nur so lange erlaubt, wie sie nicht die Stabilität Ägyptens oder den öffentlichen Frieden gefährdet. Die Entscheidung darüber, ab wann ein solcher Tatbestand vorliegt, obliegt den Autoritäten.

Während die beiden Verfassungen sich ansonsten ähneln, liegt der grundlegende Unterschied darin, dass das neue Gesetzeswerk die Sonderrolle des Militärs manifestiert. Dabei wird dem Militär für die nächsten acht Jahre das Recht eingeräumt, den Verteidigungsminister zu bestimmen. Außerdem stellt das Militär die Mehrheit der Abgeordneten im nationalen Sicherheitsrat. Eine andere Form parlamentarischer oder ziviler „Aufsicht“ ist nicht vorgesehen. Besonders eklatant ist auch, dass die neue Verfassung Militärtribunale gegen Zivilisten erlaubt. Wenn die Armee sich in ihrer „Integrität“ bedroht fühlt, kann sie damit jegliche zivilrechtlichen Anforderungen umgehen. Dabei ist einzig ein gesonderter Militärgerichtshof befugt, über Armee-interne Angelegenheiten zu entscheiden. Weil er sich jedoch aus Militärvertretern zusammen setzt, würde dieser Gerichtshof wohl kaum eine Entscheidung gegen seinen Vorgesetzten fällen, der als Verteidigungsminister in Zukunft vielleicht auch ägyptischer Präsident wird. Rechtliche Verantwortung für ihre Taten hat die Militärführung daher nicht zu befürchten.

Der Anschein von Legitimität

So rosig sind die Aussichten für das Militär, dass es mit aller Macht für die Bestätigung der neuen Verfassung geworben und keine Widerrede geduldet hat. Doch neben Eigennutz hatte die Abstimmung auch eine symbolische Bedeutung, allen voran für Verteidigungsminister al-Sisi. So galt das Referendum weithin nicht nur als Möglichkeit, den Anschein von Legitimität für den Coup des vergangenen Sommers zu erwerben. Das Referendum war zudem ein Gradmesser für die potentielle Präsidentschaft al-Sisis, der „nur auf das Ersuchen der Menschen Ägyptens“ und aus „patriotischer Pflicht“ antreten wollen würde, wie er noch kurz vor der Abstimmung verkündete. Und falls Zweifel aufgekommen sein sollten, fügte er hinzu: „Wir arbeiten schließlich in einer Demokratie.“

So kam al-Sisi im Verlauf des Referendums mehr Aufmerksamkeit zu als der Verfassung, um die es eigentlich ging - ein Sinnbild für die anhaltende gesellschaftliche Polarisierung Ägyptens, wo Eigeninteressen über dem gemeinsamen Gut stehen und Opportunität über Loyalitäten entscheidet. Um das erwünschte Mandat von der Abstimmung ableiten zu können, galten die Verfassungsreferenden vom März 2011 und insbesondere Dezember 2012 als Messlatten für al-Sisi und das Militär. Während 2011 die Beteiligung an dem Referendum bei 44 Prozent und die Zustimmung bei 77 Prozent lag, stimmten ein Jahr später 64 Prozent für den Verfassungsentwurf der Muslimbrüder; an der Abstimmung nahmen aber nur 33 Prozent der Wahlberechtigten teil, was knapp 17 Millionen Menschen entsprach.

Wie die offizielle Wahlbehörde am Samstag verkündete, wurden diese Zahlen in einem Maße übertroffen, das in seiner Eindeutigkeit schon wieder zweifelhaft ist: Bei einer Wahlbeteiligung von 38,6 Prozent, sollen 98.1 Prozent dem Verfassungsentwurf zugestimmt haben. Von insgesamt 50 Millionen Wahlberechtigten entspricht das ungefähr 20,6 Millionen Menschen.

Wir sind das Volk ...

Doch das Ergebnis stand ohnehin nie in Frage. Zu mächtig war die Propaganda um Zustimmung und zugleich die Unterdrückung der Opposition. Mit dem Referendum sollten die Ägypter die „Früchte der Revolution“ ernten, wie Übergangspremier Hasim al-Beblawi fabulierte. Die Teilnahme an der Abstimmung wurde erklärte Interimspräsident Adly Mansour zur religiösen Pflicht, um „das Schiff der ägyptischen Nationen in stürmischen Zeiten an sichere Strände“ zu führen.

Dem offiziellen Ersuchen, Verkehrsmittel zur Verfügung zu stellen, um für Menschen aus abgelegenen Landesteilen den Transport zu den Wahllokalen zu garantieren, sind einflussreiche Geschäftsmänner dabei umgehend nachgekommen. Zudem hatten Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Kuwait im Falle eines „positiven“ Wahlausgangs milliardenschwere Finanzspritzen für die ägyptische Wirtschaft in Aussicht gestellt.

Auch die Mehrzahl der Parteien schlug sich schnell auf die Seite des Militärs, darunter auch zahlreiche religiöse Vertreter und selbst die salafistische „Partei des Lichts“, die in der Verfassungsgebenden Versammlung von 2011 noch mit den Muslimbrüdern gemeinsame Sache gemacht hatte. Die Zustimmung einer islamischen Partei kommt dem Militär dabei zupass, um fromme Befindlichkeiten zu bedienen, die im Verfassungs-Komitee ansonsten unterrepräsentiert waren. Dank ihrer Zustimmung zum Referendum können sich die Salafisten in Zukunft wohl wichtige Posten sichern.

Dass sich auch die Tamarrod-Bewegung sowie die Nationale Heilsfront für das Militär aussprachen und für die Zustimmung zum Referendum warben, zeigt zudem, wie sehr die „revolutionäre“ Sache mittlerweile korrumpiert ist. Im „Dienste an der Revolution“ waren beide Gruppierungen nämlich zunächst unter dem Deckmantel des Kampfs gegen Autokratie gegen die Muslimbrüder ins Feld gezogen, biedern sich jetzt aber beim Militär an. Unter dem Vorwand demokratischer Teilhabe werden so grundsätzliche freiheitliche Werte verletzt.

... nicht ihr

Massen-SMS warben ebenso für ein „Ja“ wie riesige Plakate überall im Land. Die staatlichen und fast alle privaten Medien überboten sich ihrerseits mit Lobhudeleien für das Militär und die neue Verfassung. Bei so viel nationalistischer Anstachelung blieb für Kritik kaum Raum und nahm die Paranoia zu. So wurden neben den Muslimbrüdern allen Ernstes auch ein Storch und eine Handpuppe angeklagt, die Sicherheit Ägyptens durch terroristische Umtriebe zu gefährden.

Bereits im Vorfeld des Referendums wurden zudem einzelne Menschen eingesperrt, die für ein „Nein“ bei der Abstimmung geworben haben. Der pauschale Vorwurf an sie war, dass sie der Bruderschaft angehörten, um so strafrechtliche Maßnahmen einleiten und alle anderen, die eventuell auch Kritik am Referendum äußern wollten, einschüchtern zu können. Indem unliebsame Stimmen so effektiv niedergebrüllt oder still gestellt werden, ist es daher schwierig, einen unverfälschten Eindruck öffentlicher Meinung zu bekommen – mehr als 98 Prozent Zustimmung zum Referendum zum Trotz.

Im Rahmen der National Alliance to Support Legitimacy, einem Zusammenschluss islamischer Parteien, hatten die Muslimbrüder zum Boykott des Referendums aufgerufen. Die Strong Egypt-Partei des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Abdel Moneim Abul Futuh dagegen war zunächst für eine Teilnahme an der Abstimmung, weil das der einzige Weg sei, konstruktive Kritik zu äußern. Aber nach den desillusionierenden Erfahrungen um die staatliche Repression änderte sie ihre Kampagne: „Im Referendum gibt es nur eine Wahl“, bekundete sie dann, um zu suggerieren, dass „Ja“ die einzige zulässige Option sei. Die Partei riet ihren Anhängern daher stattdessen dazu, sich an diesem „dekorativen Prozess“ nicht zu beteiligen.

Neben der „Bewegung des 6. April“ hatten dagegen nur wenige säkulare Gruppierungen auch für einen Boykott geworben. Die verbliebenen Kräfte, die sich weder dem Militär anbiedern noch mit den Muslimbrüdern solidarisieren wollen, stehen auf verlorenem Posten da. Im Anschluss an eine Kundgebung gegen das im Dezember erlassene Anti-Demonstrations-Gesetz, das Demonstrationen nur dann noch gestattet, wenn sie „im Sinne des Staates“ sind, wurden führende Aktivisten eingesperrt, darunter Ahmed Maher, Alaa Abd El-Fattah und Ahemd Doma.

Im Namen der Sicherheit

Nachdem noch vier Tage vor Beginn des Referendums bei Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften in Suez und Alexandria 13 Unterstützer der Muslimbrüder ums Leben kamen und 200 verhaftet wurden, galt für die Tage der Abstimmung höchste Alarmbereitschaft. 160 000 Soldaten, Eliteeinheiten und Sonderkommandos waren mit gepanzerten Fahrzeugen und Helikoptern im Einsatz, um Wahllokale und Wähler zu sichern, wie es aus dem Innenministerium hieß.

Das Ausmaß der präventiven Staatsgewalt erläuterte der zuständige Innenminister. Die Sicherheitskräfte hatten nämlich den Auftrag, mit „beispielloser Stärke“ gegen all jene vorzugehen, die auch nur verdächtigt würden, den Wahlprozess sabotieren zu wollen. Dabei geht im konkreten Fall die Unschuldsvermutung ebenso verloren wie die Möglichkeit, sich gegen solch fadenscheinige Anklagepunkte zu verteidigen. In solch aufgeladener Atmosphäre kam es dann bei kleineren Kundgebungen im Verlauf des Referendums zu zwölf Toten, während 249 Menschen, die daran teilnahmen oder darüber berichteten, verhaftet wurden.

Auch in den Wahlkabinen war kein Halt vor der Obrigkeit. So wurden zum Beispiel Wähler festgenommen, die ihren Wahlzettel aus Protest ungültig machten, indem sie regierungskritische Slogans oder „Ehre den Märtyrern“ darauf schrieben. Dabei verletzt die Kontrolle der Stimmzettel ein grundlegendes Recht auf freie Meinungsäußerung ebenso wie die Integrität der gesamten Wahl. Die Meldung der Satire-Seite Pan-Arabia Enquirer, in Ägypten werde jeder eingesperrt, der gegen die Verfassung stimme, wirkte auf einmal gar nicht mehr so unwahrscheinlich. Transparency International urteilte dementsprechend, dass die Bedrohung durch die Autoritäten eine „freie und faire Wahl“ dabei entscheidend beeinträchtigt hat. Weil es aber nicht annähernd genug Wahlbeobachter gab, bleibt ein abschließendes Verdikt jedoch aus.

Was bleibt?

Obwohl die Gesellschaft gespalten ist und die Opposition drangsaliert wurde, die Verfassungsgebung nicht repräsentativ war, kaum eine öffentliche Debatte über die Verfassung stattfand, und es grobe Unzulänglichkeiten im Wahlverfahren gab – das grundsätzliche Dilemma ist, dass das Referendum eine Präzedenz geschaffen hat, die kaum mehr widerrufen werden kann. Wer wagt es jetzt noch, gegen eine Verfassung und eine Regierung zu protestieren, die durch „das Volk“ und „für Ägypten“ bestätigt wurde? Die Muslimbrüder, die das versuchen, ernten dafür Argwohn der Bevölkerung, weil sie das öffentliche Leben behindern. Und die wenigen verbliebenen Aktivisten gelten als Vaterlandsverräter. Stattdessen steht der dritte Jahrestag der Revolution bevor und Präsidentschaftswahlen im März an – der „demokratische Wandel“ geht also weiter.

Doch wie die vergangenen Monate gezeigt haben, hängt politische Macht immer auch vom Umgang mit Kritik und ihre Stärke vom Umgang mit Schwachen ab. Einerseits ist es gefährlich, den „Willen der Mehrheit“ zu ignorieren. Denn das könnte gerade die ultra-nationalistischen Tendenzen befördern, die ihre „Legitimität“ davon ableiten, sich gegen die Einmischung in die politische Entwicklung Ägyptens zu wehren. Andererseits verhärtet eine absolutistische Haltung die politischen Fronten nur weiter. Einen gemeinschaftlichen Ausgleich zu finden, der unterschiedliche Positionen respektiert, ist daher gerade ebenso unmöglich wie anscheinend auch nicht erwünscht.

Die wenigen Stimmen, die sich in dem Referendum gegen die politische Agenda der Militärführung gerichtet haben, dürfen deshalb nicht in Vergessenheit geraten. Und selbst wenn der Boykott unmittelbar vielleicht nichts erreicht hat, die Gründe dafür bleiben relevant: Denn es gibt Menschen, die sich nicht daran beteiligen möchten, ein Regime zu bevollmächtigen, das Misstrauen schürt und für seine Zwecke nutzt; auch wenn es im Moment keine Alternative zu geben scheint; aber auch, weil der Boykott der Charade um nationale Interessen, Stabilität und Legitimität die einzige Möglichkeit war, die eigene Integrität und etwas Hoffnung zu bewahren, irgendwann einmal Teil eines politischen Systems zu sein, dem es sich eher zu vertrauen lohnt.

 

Zum ersten Teil dieses Artikels, der die Hintergründe zum Referendum darstellt, geht es hier.

Johannes kam 2011 zu Alsharq und freut sich sehr, dass daraus mittlerweile dis:orient geworden ist. Politische Bildungsarbeit zur WANA-Region, die postkoloniale Perspektiven in den Vordergrund rückt und diskutiert, gibt es im deutschsprachigen Raum nämlich noch viel zu wenig. Zur gemeinsamen Dis:orientierung beschäftigt sich Johannes daher vor...