Sari (29) aus Deir ez-Zor im östlichen Teil Syriens ist einer von tausenden desertierten Soldaten des vom Bürgerkrieg geplagten Landes. Nach einer monatelangen Flucht wird er mittlerweile im Haftzentrum im ungarischen Kiskunhalas festgehalten. Lesen Sie im zweiten Teil unseres Berichts, wie Sari und seine Freunde durch mazedonische Grenzwälder und mit Hilfe serbischer Gänsetransporter nach Ungarn kommen, wo ihnen ein Junge auf dem Fahrrad zum Verhängnis wird.
Von Simon Welte und Michael Hegenloh
Am Tag nach der mühsamen Ankunft in Alexandropouli geht es direkt mit dem Bus nach Athen weiter. Im Stadtteil Neos Kosmos kommen sie privat für fünf Euro pro Person und Nacht unter. Das Viertel ist Hauptanlaufstelle für Migranten und Flüchtlinge in Athen. Wie Sari und seine Freunde verbringen hier viele ein paar Tage, um dringend benötigtes Geld für die Weiterreise aufzutreiben. Über einen syrischen Freund, der in Deutschland lebt, stellt Sari den Kontakt zu einem sudanesischen Schleuser her, der auch im weiteren Verlauf der Geschichte noch eine Rolle spielen wird. Von diesem wiederum bekommt er den Kontakt zu einem pakistanischen Helfer, der sich auf den Flüchtlingsverkehr von Griechenland nach Mazedonien spezialisiert hat.
Nach gut einer Woche ist es geschafft, jeder hat genug Geld gesammelt und die Kontakte sind geknüpft. Es geht schließlich in Begleitung des Pakistani mit dem Bus nach Thessaloniki und von dort aus weiter in Richtung mazedonische Grenze. All das geschieht am Spätnachmittag. Plötzlich gibt der Pakistani den Taxifahrern mitten auf der Hauptstraße das Signal zu Anhalten. Sie steigen aus und es stellt sich heraus, dass sich unter der Straße ein Tunnel befindet, um sicher über die Autobahn zu kommen. Hier beginnt der Fußweg über die Grenze nach Mazedonien. Es ist bereits dunkel und von nun an geht es zu Fuß weiter. Etwa drei Stunden Fußmarsch, und die noch verbliebenden Freunde stehen sicher auf mazedonischem Boden. Alles verläuft ohne Probleme, der Pakistani scheint die Strecke nicht zum ersten Mal bewältigt zu haben.
Kurz nach dem Grenzübertritt erreichen sie eine Landstraße, von der aus sie mit einem Bus zum nächstgelegenen Ort weiterfahren. Dort steigen sie gemeinsam mit dem Pakistani in einen größeren Bus, welcher sie in den Norden des Landes zur serbischen Grenze bringen soll. Es ist bereits nach Mitternacht, als der Bus auf offener Straße hält und sie aussteigen. Keiner weiß, wo sie sich befinden, der Pakistani sagt nur, er bringe sie in einen sicheren Ort. Sari, seine Freunde und der Pakistani gehen nun etwa eine Stunde lang im strömenden Regen über Wiesen und Felder weiter. Die Kleider sind völlig durchnässt, als an der nächsten Straße zwei Taxis auf sie warten. Von hier an ist es noch rund eine halbe Stunde Fahrt, bis sie am frühen Morgen, noch in der Dunkelheit, das Dorf Lojane unweit der serbischen Grenze erreichen. Für fünf Euro pro Person und Nacht kommen sie wieder in einem privaten Haus bei einer älteren Frau unter. Die 250 Euro Schleusergebühren (Taxi- und Buspreise nicht inklusive) waren ein Schnäppchen im Vergleich zur Evros-Überquerung von der Türkei nach Griechenland.
Finanzhilfe via Western Union
Am nächsten Tag stellt sich heraus, dass der sudanesische Kontakt von Sari in diesem Dorf wohnt. Er nennt sich Ibrahim und ist der Chef des pakistanischen Schleusers. Lojane ist wieder eine der Hochburgen für den Flüchtlingsverkehr in Richtung Westeuropa. Wie sich in den nächsten Tagen zeigt, scheint das ganze Dorf voll von Flüchtlingen, Schieberbanden und Drogenhändlern zu sein. Die Polizisten der Region sind korrupt und in den Bergen sieht man regelmäßig Soldaten durch das Grenzgebiet patrouillieren. Sari und seine Freunde haben ein ungutes Gefühl. Bei Nacht trauen sie sich nicht aus dem Haus. Zu groß scheint ihnen die Gefahr, dass sie in einen Hinterhalt geraten könnten. Es sind vor allem Menschen aus Syrien, Algerien, Marokko und dem Sudan, die er in diesem Dorf antrifft. Nach ein paar Tagen hat seine Gruppe wieder genug Geld gesammelt, damit es bis nach Serbien reicht. Sari fragt sich, wie Flüchtlinge wohl ohne Western Union an Geld kommen würden. Dieses Unternehmen hat sich auf den schnellen Geldtransfer spezialisiert. Die Gebühren sind horrend, doch das Geld erreicht nach wenigen Minuten unkompliziert den Empfänger. Für den Erhalt des Geldes werden lediglich ein Ausweis für den Namensabgleich und die Transfernummer benötigt. Gegen eine kleine Gebühr holen die Dorfbewohner mit ihrem gültigen Pass das Geld für die Flüchtlinge ab.
Die ersten beiden Versuche, durch das nahe gelegene Waldgebiet über die Grenze nach Serbien zu fliehen, scheitern. Der pakistanische Flüchtlingshelfer hat wider Erwarten wenig Erfahrung. In diesem Gebiet lauern überall Wärmebildkameras und serbische Grenzpolizisten, was die nächtlichen Grenzübertritte schwierig macht. Trifft man auf einen serbischen Grenzpolizisten, gibt es grundsätzlich drei Optionen: Loslaufen und hoffen, dass man schneller ist, oder aber man wird geschnappt und mehr oder minder gewaltsam wieder auf die mazedonische Seite zurückgebracht. Als dritte Option kann man hoffen, dass der Grenzbeamte bestechlich ist. Sari hat alle genannten Optionen durchgemacht. Über den Umgang mit den serbischen Grenzpolizisten wollte er mit uns nicht sprechen, zu schlimm waren seine Erfahrungen. Immer wieder enden Versuche, die Grenze zu überqueren, anscheinend tödlich. Er und seine Freunde hatten Glück, denn sie wurden beide Male wieder auf mazedonischer Seite ausgesetzt. Ihm ist bewusst, dass der dritte Versuch auch sein letzter sein kann und so entscheiden sie sich für die teurere, aber dafür sichere Variante über die nahe gelegenen Berge. Mit einem neuen Flüchtlingshelfer geht es zwei Tage später am frühen Abend los. Der pakistanische Helfer, Sari und seine Freunde haben nun 15 Stunden Fußmarsch durch die Nacht vor sich. Irgendwann mitten in der Nacht erreichen sie das von serbischen Grenzpolizisten kontrollierte Gebiet. Anscheinend soll es hier deutlich weniger Wärmebildüberwachung geben. Doch das Glück ist auch dieses Mal nicht auf ihrer Seite.
Weiterfahrt im Tiertransporter
Plötzlich nähern sich drei serbische Polizeiautos wie aus dem Nichts. Die Flüchtlinge rennen los, durch die Wälder, den Berg hoch durch dichtes Gestrüpp. Zwei Freunde werden schließlich geschnappt, der Flüchtlingshelfer hat sich aus dem Staub gemacht. Sari und die restlichen drei Freunde verbringen den kommenden Tag und die nächste Nacht tief im Wald, zu gefährlich ist die Weiterreise. Es ist regnerisch und die Nächte sind extrem kühl. Vor allem fehlt es ihnen an warmer Kleidung und Essen, an Schlaf ist nicht zu denken. Am frühen Morgen, noch vor Sonnenaufgang, wagen sie die Weiterreise in Serbien. Ohne zu wissen, wo sie sich genau befinden, erreichen sie nach Sonnenaufgang eine kleine Landstraße. Mit viel Glück und Bargeld schlagen sie sich in Richtung ungarische Grenze durch.
Ein mit Gänsen beladener Tiertransporter bringt sie zur nächsten Raststätte. Dort kann Sari ein Taxi auftreiben. Da dem Taxifahrer schnell bewusst wird, dass es sich hier um Flüchtlinge handelt, verlangt er für seine Diskretion einen deutlich höheren Fahrpreis. Nachdem der Preis steht und das Geld überreicht wurde, geht es los. Nach 8 Stunden Fahrt und einer kleinen Reifenpanne erreichen sie Subotica, die serbische Grenzstadt zu Ungarn. Hier haben sie bereits von Mazedonien aus die Kontakte geknüpft und kommen wieder bei einer älteren Dame gegen ein kleines Entgelt unter.
Das Geld ist wieder sehr knapp und so vergeht eine weitere Woche, in der sie Freunde und Verwandte um weiteres Geld bitten. Auch die beiden Freunde, die an der serbischen Grenze geschnappt wurden, erreichen ein paar Tage später Subotica. Nur wenige Kilometer entfernt liegt die ungarische Grenze und beginnt die EU. Tief in der Nacht machen sich die sechs Freunde auf den Weg, wieder ist ein pakistanischer Flüchtlingshelfer an ihrer Seite. Erst fahren sie ein Stück mit dem Taxi, dann geht es weiter in einem zweistündigen Fußmarsch über die Grenze nach Ungarn. Der Pakistani lässt sie, anders als vereinbart, plötzlich zurück und taucht nicht mehr auf.
Endstation Kiskunhalas
Von nun an sind sie wieder auf sich alleine gestellt, mitten in der eiskalten Nacht. Zum Glück haben sie sich in Subotica noch warme Kleidung besorgen können. Einen Plan, wie es jetzt weitergeht haben sie nicht mehr. Die Handys funktionieren nicht und sie haben Hunger. Es ist kurz vor Sonnenaufgang, die Gegend ist sehr flach und es gibt kaum Bäume. Um sich zu wärmen entfachen sie ein Feuer, doch ein Junge auf einem Fahrrad entdeckt sie kurze Zeit später. Ihnen ist bewusst, dass er sie verraten könnte. Das nächste Dorf ist in Sichtweite. Nachdem es bereits hell ist, entscheiden sie sich weiterzugehen, zu groß scheint die Gefahr, hier geschnappt zu werden. Aber wohin? Sie laufen, über Wiesen und Felder, in großem Abstand an einem Dorf vorbei. Doch ihre Ankunft hat sich bereits herumgesprochen. Die Polizei kooperiert hier gut mit der lokalen Bevölkerung.
Ein Polizeitransporter nähert sich und wegzulaufen erscheint ihnen jetzt sinnlos. Der Zugriff erfolgt und sie werden in ein nahe gelegenes Auffanglager gebracht. Hier endet die Reise. Am nächsten Tag erscheinen bereits ein Anwalt und ein Dolmetscher und erklären ihnen, dass sie sich innerhalb von sechs Tagen entscheiden müssen, ob sie Asyl in Ungarn beantragen wollen. Es werden Fingerabdrücke genommen. Ein Freund aus Saris Gruppe entscheidet sich gegen das Asyl in Ungarn und wird kurze Zeit später an Serbien ausgeliefert. Wo er sich im Moment befindet, wissen sie nicht. Für Sari und seine vier Freunde geht es zwei Tage später nach Kiskunhalas, eine kleine Provinzstadt, etwa 30 Kilometer nördlich der ungarisch-serbischen Grenze.
Im dritten und letzten Teil werden wir über die Flüchtlingssituation in Ungarn berichten und im speziellen über das Auffanglager in Kiskunhalas, wo wir Sari und seine Freunde vor einigen Wochen besucht hatten.