11.03.2021
Warum Eva und Newton mehr gemeinsam haben könnten als nur einen Apfel
Warum fällt der Apfel? Gott oder Gravitation? Quelle: <a href='https://www.freepik.com/vectors/background'>Background vector created by rawpixel.com - www.freepik.com</a>
Warum fällt der Apfel? Gott oder Gravitation? Quelle: Background vector created by rawpixel.com - www.freepik.com

Wissenschaft und Religion werden im Mainstream-Diskurs noch immer als Gegensätze verstanden. Doch dieses Verständnis ist konstruiert und kann demnach auch verändert werden. Ein Plädoyer für die Neuaushandlung des Verhältnisses.

Ethikunterricht, Mittelstufe: „Wer nicht an die Evolutionstheorie glaubt, sollte auch nicht Medizin, Biologie oder eine andere Naturwissenschaft studieren“, schallt es aus Richtung Tafel. Schock. Aufschrei? Stille! Vor allem die muslimischen Schüler:innen versuchen – leicht eingeschüchtert und irritiert – der undifferenzierten Aussage unserer Ethiklehrerin etwas entgegenzusetzen.

Ich spüre, dass die Aussage falsch ist. Dass die Wut in mir hochkocht. Doch bevor jemand etwas sagen kann, führt sie weiter aus: „Das ist eben meine Meinung. Naja, und eigentlich ist Religion auch nicht mit Philosophie vereinbar!“ Was soll eine junge Schülerin auf so eine Aussage erwidern?

Ich werde immer wütender: Warum sitze ich dann überhaupt im Ethikunterricht? Weshalb musste ich in der letzten Klausur die Lehren unterschiedlicher Philosophen diskutieren, wenn ich wegen meines vermeintlich eingeschränkten Denkens sowieso nicht in der Lage dazu bin? Und warum saß ich noch vor einer guten halben Stunde im Biologieunterricht von Frau A-teeny-tiny-bit-less-judgy? Ich bin überfordert und bekomme kein Wort heraus. Bis heute muss ich an diese Situation zurückdenken und ärgere mich.

Seitdem habe ich mich intensiver mit der Frage nach der Vereinbarkeit von Religion und Wissenschaft auseinandergesetzt, was die ein oder andere Existenzkrise ausgelöst hat: Wie lässt sich mein Glauben an Naturwissenschaft mit meinem Glauben an Gott vereinbaren? Ist die Existenzkrise, die ich gerade erlebe, ein psychologisches Phänomen oder ein spirituelles Erlebnis? Und wer hat denn jetzt eigentlich Newtons Apfel vom Ast auf den Boden der Tatsachen fallen lassen, Gott oder die Gravitation?

Irgendwann habe ich gelernt, dass Religion und Wissenschaft kein Gegensatzpaar bilden muss – kann es, muss es aber nicht. Das kommt eben ganz darauf an, mit welcher Brille wir auf unsere Welt blicken; wie wir sie konstruieren – und vielleicht auch anders gestalten könnten.

Die Konstruktion des Gegensatzpaares: Religion – Wissenschaft

Die Soziologen Peter L. Berger und Thomas Luckmann haben in ihrem bahnbrechenden Werk „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ von 1966 dargelegt, wie unterschiedliche Gesellschaften durch ihren je spezifischen Blick auf die Welt geprägt sind und sich so eine gemeinsame „symbolische Sinnwelt“ herausbildet. Diese Sinnwelt kann als übergeordnetes Glaubenssystem verstanden werden, das alle Bereiche des menschlichen Lebens erklären kann und somit seine eigene Logik besitzt. „Mitglieder“ unterschiedlicher symbolischer Sinnwelten nehmen Wirklichkeit also unterschiedlich wahr und erklären sich somit auch Phänomene auf andere Art und Weise.

Wer mag, kann auch Wissenschaft und Religion als maßgebliche Stützen zweier voneinander getrennter Sinnwelten betrachten. Man kann dann beispielsweise das Phänomen, dass unterschiedliche Religionen schon vor tausenden von Jahren in unterschiedlichen Regionen der Welt unabhängig voneinander entstanden sind, sowohl aus der Perspektive einer wissenschaftlichen als auch einer religiösen Sinnwelt heraus logisch erklären: Aus psychologischer, also wissenschaftlicher Perspektive – und mit wissenschaftlich meine ich das „westliche, scholastisch geprägte Verständnis von Wissenschaft – kann diese Universalität der Existenz von Religion so interpretiert werden, dass sie die Ausformulierung des menschlichen Wunsches nach einem höheren Sinn der eigenen Existenz darstellt.

Dahingegen kann aus religiöser Sicht argumentiert werden, dass gerade die Existenz dieses universellen Wunsches ein Indiz für eine tatsächlich existierende transzendentale Kraft ist. Oder aus konkret islamischer Sicht ein Beweis für die Fitra, also dass jeder Mensch als Muslim:in zur Welt kommt und somit eine natürliche Veranlagung zur Suche nach Gott besitzt.

Interessant ist hierbei, dass schon diese Beschreibung nicht frei von den Vorstellungen und Idealen meiner eigenen Sinnwelt ist. Darauf deuten allein Begriffe wie „Indiz“ oder „Beweis“ hin, die eigentlich dem naturwissenschaftlichen Jargon entstammen, von mir aber trotzdem auf eine nicht-naturwissenschaftliche, sondern theologische Perspektive, angewendet werden.

Und auch die spezifische Art und Weise, mit der ich Religion definiere, sodass ich überhaupt erst von ihrer Universalität sprechen kann, ist eine wissenschaftliche. Ganz frei kann man sich von seiner Sinnwelt schließlich nicht machen. Aber man kann sie reflektieren. Und verändern.

Sinnwelten sind wandelbar – Worauf warten wir?

Eigentlich ist die gesamte Diskussion eine, die zumindest in meinem Fall auf von außen (und mit „außen“ meine ich außerhalb meiner muslimischen Blase) auferlegte Zweifel zurückzuführen ist: Vor dem Vorfall im Ethikunterricht habe ich nie einen Widerspruch zwischen meinem religiösen Glauben und meinem Glauben an naturwissenschaftliche Erkenntnisse empfunden – und auch sonst niemand aus meinem persönlichen muslimischen Umfeld. Warum sollte das eine das andere ausschließen? Schließlich kann die Naturwissenschaft die letzte, ontologische Ebene der Frage nach dem Warum nicht klären. Aber es bleibt eben das alte Spiel: sich als Teil einer Minderheit ständig und überall für alles rechtfertigen zu müssen.

Dieses Spiel – unsere symbolische Sinnwelt – kann aber verändert werden. Und hier sind wir als Einzelne gefragt: In einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft kann die konstruierte Grenze zwischen Wissenschaft und Religion durchbrochen werden – indem wir beispielsweise öffentlich auf gesellschaftliche Konstrukte aufmerksam machen, daraufhin ihren Sinn hinterfragen und schließlich gemeinsam nach Alternativen suchen; und dadurch den gesamtgesellschaftlichen Diskurs mitbestimmen.

Religion und Wissenschaft müssen nicht die Pfeiler zweier voneinander getrennter Sinnwelten bleiben, wenn wir das nicht wollen. Auch wenn es pathetisch klingt, spreche ich eigentlich von einem abgeklärten Standpunkt aus, wenn ich sage: Wir haben die Macht, unsere Sinnwelt und somit unsere Gesellschaft zu verändern.

Also lasst es uns doch tun! Lasst uns eine Gesellschaft schaffen, in der Religion und Wissenschaft kein Gegensatzpaar mehr darstellen.

 

 

Muna Ahmad studiert Soziologie und Ethnologie an der Universität Mainz. Sie interessiert sich besonders für Antischwarzen Rassismus innerhalb muslimischer Communities, Kapitalismuskritik und die Macht von Sprache. 
Redigiert von Anna-Theresa Bachmann, Alicia Kleer