10.12.2020
Weihnachten geht, Chanukka nicht
Deutsche Politiker*innen würden eher Leben gefährden als ihre Privilegien aufzugeben, meint Udi Raz. Foto: Pixabay.
Deutsche Politiker*innen würden eher Leben gefährden als ihre Privilegien aufzugeben, meint Udi Raz. Foto: Pixabay.

Die deutsche Politik gibt alles, damit Familien trotz hoher Infektionszahlen Weihnachten feiern können. Udi Raz kommentiert, warum das nicht nur gesundheitlich fatal sein könnte, sondern repräsentativ für eine Tradition der Ausgrenzung steht.

Anfang April, während des ersten Lockdowns in Deutschland und um die Zeit von Ramadan, Pessach und Ostern, kursierte in den sozialen Medien eine Falschnachricht. Für Muslim*innen würden die Beschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie im islamischen Fastenmonat gelockert, hieß es. Kritiker*innen waren empört und fragten, warum Muslim*innen von den Corona-Regeln freigestellt werden sollten, andere Religionen aber nicht.

Annette Wildmann-Mauz, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, reagierte in einem Tweet auf derartige Behauptungen und betonte, dass die Vorschriften für alle Religionen gleichermaßen gelten würden. „Ob Ostern, Pessach oder Ramadan: Ich verstehe gerade jetzt den Wunsch nach dem gemeinsamen Gebet und Gemeinschaft. Trotzdem sollten wir aktuell zum Wohle aller darauf verzichten, denn Gesundheit geht vor“, schrieb sie. Im Kern hob Widmann-Mauz damit hervor, dass alle Religionen mit Blick auf die Pandemie-Beschränkungen gleichwertig behandelt würden.

Mit der Gleichwertigkeit ist an Weihnachten Schluss

Ende November vereinigten Bund und Länder jedoch auf „besondere Regeln für die Weihnachtsfeiertage“, wobei „Sonderregeln“ die Lockerung der Corona-Beschränkungen meinen. Die Beschlüsse sollen vom 23. Dezember bis zum 1. Januar gelten. Damit lenkt Deutschland seine Corona-Politik unverblümt im Einklang mit christlichen Traditionen.

Der Beschluss ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Erstens hat Deutschland mit Blick auf das jüdische Fest Chanukka, das ab Donnerstag für acht Tage gefeiert wird, keinerlei Sonderregeln verkündet. Daraus lässt sich ableiten, dass Deutschland das Christentum gegenüber anderen Religionen priorisiert. Zweitens wird offensichtlich: Während beim ersten Lockdown Gesundheit an oberster Stelle stand, sehen wir, dass dieses Mal Weihnachten gegenüber der Gesundheit Vorrang hat.

Der Beschluss kommt trotzdem nicht ganz überraschend. Das Grundgesetz garantiert, dass Sonntage und staatlich anerkannte Feiertage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt bleiben. Dass nach islamischer und jüdischer Tradition eigentlich Samstag der siebte Tag der Woche ist und dass weder islamische noch jüdische Feiertage staatlich anerkannt sind, zeigt, in welchem Ausmaß Deutschland das Christentum gegenüber anderen Religionen priorisiert – und zwar auf systematische und institutionell verankerte Art und Weise.

Religion als kultureller Marker

In den vergangenen Jahren ist das Christentum im öffentlich Diskurs in Deutschland zu weit mehr als einer bloßen Religion avanciert, das Christentum ist auch ein kultureller Marker geworden. Gestalt angenommen hat dieser Wandel vor allem vor dem Hintergrund der politisierten „Islamdebatte“, die in Frage stellt, inwiefern der Islam mit „europäischen Werten“ vereinbar sei. Für jene, die versuchten, eine irgendwie geartete „Essenz“ deutscher Kultur zu definieren, entwickelte sich der Begriff des Christentums bald zu einem nützlichen Werkzeug.

Beispielsweise schaltete sich der damalige Innenminister Thomas de Maizière vor einigen Jahren in die immer wiederkehrende öffentliche Debatte um eine deusche „Leitkultur“ ein und behauptete: „Unser Land ist christlich geprägt.“ In den letzten vier Jahrzehnten ist das Christentum zum wohl hartnäckigsten und effektivsten Ausdruck geworden, wenn es darum geht zu definieren, was „typisch Deutsch“ ist – bzw. was „Deutschsein“ bedeutet – und was nicht.

Ob als Religion oder als Kultur: Indem das Christentum als Marker herangeführt wird, um zwischen dem „deutschen Selbst“ und dem „nicht-deutschen Anderen“ zu unterscheiden, bleibt die deutsche Tradition in erster Linie eine Tradition der Ausgrenzung. Ausgegrenzt werden all jene, die keine christliche Abstammung geltend machen können. Die Entscheidung, die Corona-Beschränkungen so zu treffen, dass sie mit christlichen Traditionen im Einklang stehen, ist ein weiterer Beweis dafür, dass die Bedürfnisse von Muslim*innen, Jüdinnen und Juden sowie andere religiösen Minderheiten nicht von nationalem Interesse sind. Es ist ebenfalls ein weiteres Beispiel dafür, wie raffiniert die Strategien sind, mit denen sich diese Ausgrenzung im öffentlichen Diskurs als verantwortlich, neutral, säkular und scheinbar notwendig präsentiert.

Laut der Bundesregierung sind die Weihnachtsfeiertage „für den familiären und gesellschaftlichen Zusammenhalt besonders wichtig“. Es ist nicht so, als wären sich die Mitglieder der Bundesregierung nicht bewusst, was für ein fatales Potenzial ein solcher Ansatz in Zeiten der globalen Pandemie mit sich bringt. Tatsächlich haben Berlin und Thüringen im Angesicht steigender Infektionszahlen mittlerweile beschlossen, keinerlei Sonderregeln für Weihnachten gelten zu lassen. Die große Mehrheit der Bundesländer hält allerdings weiterhin an der Idee fest, die Corona-Beschränkungen zur Weihnachtszeit in irgendeiner Art und Weise zu lockern. Das macht deutlich: Es liegt erschreckend viel Macht in den Händen von Politiker*innen, denen die Gleichheit der Religionen offenbar wenig wichtig ist. Diese Menschen bringen eher Leben in Gefahr als ihre eigenen Privilegien aufzugeben.

Aus dem Englischen übersetzt von Maximilian Ellebrecht.

 

 

Udi Raz ist Doktorandin an der „Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies“. Dort untersucht sie das zeitgenössische Selbstverständnis des christlichen Deutschlands am Schnittpunkt der Kategorien „muslimische“ und „jüdische“ Menschen. Aufgewachsen ist sie in Haifa, zwischen Tel-Aviv und Beirut. Ihre Arbeit prägen lokale und globale, anti...
Redigiert von Maximilian Ellebrecht, Clara Taxis
Übersetzt von Maximilian Ellebrecht