07.12.2021
Wie marginalisierte Menschen in den Medien dargestellt werden
Medien als Spiegel der Gesellschaft? Bild: Unsplash
Medien als Spiegel der Gesellschaft? Bild: Unsplash

Ob Kommune oder Bundestag: Unsere Autorin kämpft für ein Wahlrecht für alle Menschen in Deutschland – egal ob mit oder ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Wie die hiesigen Medien über ihre Kampagne „Nicht ohne Uns 14 Prozent“ berichten, wundert sie.

 

Nach langen Verhandlungswochen haben ihn Grüne, SPD und FDP endlich abgesegnet - ihren Koalitionsvertrag. Darin der Satz: „Uns verbindet das Verständnis von Deutschland als vielfältige Einwanderungsgesellschaft“. - Na also, mag man meinen. Endlich ein offizielles Bekenntnis zu einem Zustand, der längst zur Selbstverständlichkeit geworden sein sollte. Jedoch steht in diesen 178 Seiten nichts von einer Wahlrechtsreform, hin zu einem Wahlrecht für alle Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben.

 

Ein solches haben meine Mitstreiter:innen und ich von der Kampagne „Nicht ohne Uns 14 Prozent vor der Bundestagswahl“ gefordert. Denn auch zur Wahl 2021 durften 14 Prozent der erwachsenen Menschen in Deutschland nicht wählen, weil sie zwar teils schon viele Jahre hier leben, aber keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Im ersten Schritt haben wir eine Onlinepetition auf die Beine gestellt, viele Menschen erreichen können und die ersten paar hundert Unterschriften gesammelt. Als der Wahlkampf in die heiße Phase ging, bekamen wir plötzlich viele Presseanfragen.

 

Wir Initiator:innen der Gruppe, migrantisch und vor der Dominanzgesellschaft als nicht-weiß geltend, deuteten diese Aufmerksamkeit teilweise als Erfolg für unsere Kampagne. Auch für mich persönlich war der Trubel um unser Anliegen eine aufregende Erfahrung. Denn plötzlich hatte ich Zugang zur Medienwelt, die mir bisher als nicht-weiße, deutsche Frau mit Pass aus dem globalen Süden verwehrt geblieben war. Dass mir dieser Raum überhaupt geboten wurde, hat wiederum selbst mit meinen Privilegien zu tun: ich bin cis, komme aus einem akademischen Elternhaus der Mittelschicht und habe einen abled Körper, der den Schönheitsnormen entspricht. Trotz meiner anfänglichen Freude hat mich die Art und Weise, wie über unsere Kampagne berichtet wurde, ganz schön irritiert.

Durst nach einer „persönlichen, authentischen Geschichte“

Für einen Artikel in „Der Tagesspiegel traf ich mich ein paar Wochen vor der Wahl mit einer Journalistin in einem Café im Berliner Stadtteil Kreuzberg. Kurz nach Beginn unseres Interviews bemerkte ich, dass ihre Fragen weniger auf meine Meinung zum Thema oder auf die Kampagne abzielten. Stattdessen stand meine „persönliche Geschichte“ als „betroffene Person“ im Vordergrund. Den Ort unseres Treffens erwähnte die Journalistin später in ihrem Text genauso wie meine „kurzen, lockigen Haare“ und mein „perfektes, akzentfreies Deutsch“.

Warum ist all das wichtig, fragte ich mich? Zumal die Journalistin – selbst mit Migrationserfahrung – vermutlich weiß, welches Unbehagen solche Zuschreibungen auslösen können: Sie spalten Migrant:innen in zwei Gruppen – die „gut Integrierten“ und „die Anderen“. Hätte sie sich etwa nicht mit mir getroffen, wenn ich ein Kopftuch tragen, oder mit einem starken Akzent sprechen würde? Ich wagte in diesem Moment nicht, sie danach zu fragen.

Auch bei anderen Presseterminen fiel mir auf, dass die Betonung der persönlichen Geschichte im Fokus stand. Wieder und wieder bleib bei mir das gleiche Unwohlsein zurück. Doch warum eigentlich?

Es ist nötig, dass betroffene Menschen zu Wort kommen. Es ist auch nötig, dass sie im Vordergrund stehen. Jedoch darf die Betroffenheit diesen Menschen nicht die Expertise absprechen. Marginalisierung bedeutet, dass die Erfahrung mit systematischen Diskriminierungen und Unterdrückungen auf persönliche Geschichten reduziert wird. Somit bleiben solche Erfahrungen als individuelle Einzelfälle stehen. Und darin liegt die Gefahr: Die Erfahrungen werden nicht als Beispiele dafür gesehen, wie das System funktioniert, sondern erscheinen wie Ausnahmen, die schnell delegitimiert und bei Seite geschoben werden können. Das macht die betroffene Person angreifbar und stellt ihre Perspektive als rein subjektiv dar.

Im Gegensatz dazu wird die nicht betroffene Perspektive, die nicht über individuelle Erfahrungen spricht, als objektiv präsentiert. Personalisierte Geschichten machen so aus systemischer Unterdrückung individualisierte Schicksalsschläge. Als meine Mitstreiter:innen und ich bemerkten, dass in der medialen Darstellung unserer Kampagne das Personalisierte und nicht das Politische im Fokus der Aufmerksamkeit stand, weigerten wir uns, länger aus unserem „Betroffenheits-Nähkästchen“ zu plaudern und sprachen unser Unbehagen gegenüber den Redaktionen an. Ein paar Interviews, zum Beispiel mit der „Deutschen Welle“, wurden uns daraufhin abgesagt.

In einer Gesellschaft, die von rassistischen und nationalistischen Machtverhältnissen dominiert wird, ist es einfacher, die Rassismuserfahrungen rassifizierter Menschen als individuelle Einzelfälle zu bezeichnen, als das System zu kritisieren, das Menschen unterdrückt. Dementsprechend ist es auch einfacher, das Problem von zehn Millionen Menschen ohne Stimmrecht in Deutschland als meine persönliche Geschichte auszugeben, anstatt sie als strukturelle Benachteiligung von Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft zu benennen.

Diskriminierungsporno: „Wie fühlt es sich an kein Wahlrecht zu haben?“

Eine andere Frage, die in fast jedem Interview auftauchte, war: Wie fühlt es sich an, kein Wahlrecht zu haben? Diese Frage hat mich immer wieder verwundert.
Mir kam das Essay „Your Trauma is Your Passport“ (zu deutsch: „Dein Trauma ist dein Reisepass“) von Yasmin Nair in den Sinn. Darin beschreibt Nair wie die Nacherzählung der eigenen Traumata für Frauen und queere Menschen zur Bedingung gemacht wird, um in ihrem Kampf für Gerechtigkeit ernstgenommen zu werden: „Ein Trauma, insbesondere für Frauen und BIPoC Queers, ist die Garantie für Authentizität und ohne Authentizität gibt es keinen Zugang zum öffentlichen Leben. Selbst im scheinbar privaten Leben werden diejenigen, die keine Trauma-Erzählungen haben, ständig aufgefordert, detaillierte Bilder von dem Leid zu zeichnen, das sie ertragen haben.“

Über Gefühle und die „persönlichen Geschichten“ zu reden kann definitiv dabei helfen, Empathie hervorzurufen. Empathie ist ein starkes Instrument, das uns hilft, Lebensumstände und Kämpfe von anderen Menschen zu verstehen. Jedoch ist es wichtig, die soziale Dynamik bei dieser Frage kritisch zu betrachten: von wem wird es erwartet über seine Gefühle zu reden, vor allem in einem politischen Kontext? Für welche Gruppe gibt es Empathie? Wie häufig passiert es, dass ein weißer cis-hetero Mann über seine Gefühlte in Interviews ausgefragt wird?

Mir wurde die Frage nach meinen Gefühlen in jedem Interview während unserer Kampagne gestellt. Ausführlich wurde über meinen, beziehungsweise unseren Aufenthaltsstatus und unser Gefühl des Ausgeschlossen-Werdens geschrieben. In der ersten Textversion einer Journalistin von Der Spiegel wurden meine Argumente als Gefühl darstellt: „Es fühle sich so an, als müssten Migrantinnen und Migranten erst beweisen, dass sie gut genug sind“, stand da zunächst. An anderer Stelle hieß es nach der Redigatur meines Gesagten: „Ich habe das Gefühl, Politikerinnen und Politikern ist es teilweise wichtiger, Menschen vom rechten Rand abzuholen als eine Politik zu machen, die uns nicht marginalisiert.“ Passagen, in denen wir über den Marginalisierungsprozess von Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft, das fehlende Wahlrecht als institutionalisierte Diskriminierung und über unsere Forderung des Rechts auf politische Selbstbestimmung sprachen, wurden hingegen aus vielen Interview-Passagen rausgekürzt.

„Wie fühlst du dich?“ stellt beim Schildern der persönlichen Geschichte die Gefühle der Betroffenen in den Vordergrund anstatt auf die Strukturen hinzuweisen. Nach wie vor wird von marginalisierten Gruppen oft erwartet, dass sie die Empathie der Dominanzgesellschaft „gewinnen“, während Empathie für die Dominanzgesellschaft selbstverständlich ist. Der Versuch aus dieser Position herauszukommen, ist selbst politische Arbeit. Sarah Ahmed beschreibt diese Arbeit in ihrem Buch „Feministisch leben! Manifest für Spaßverderberinnen“ als „politische Arbeit, die notwendig ist, um darauf zu bestehen, dass das, was wir beschreiben, nicht nur das ist, was wir fühlen oder denken.“

Die gute alte Frage der Herkunft

In fast jedem Interview wurden wir als erstes gefragt, wo wir herkommen, welchen Aufenthaltsstatus wir besitzen oder warum wir überhaupt in Deutschland sind. Mit diesen Fragen werden rassifizierte Personen ständig konfrontiert. Warum ich das schrecklich finde, habe ich an anderer Stelle aufgeschrieben.

Die Frage nach der Staatsangehörigkeit ist in solch einem Kontext sogar noch widersprüchlicher. Denn sie zeigt: selbst wenn es, wie in unserer Kampagne, um die Dekonstruktion von diskriminierenden Unterdrückungssystemen wie dem Nationalstaat geht, müssen sich Menschen immer zuerst genau über dieses Konstrukt definieren lassen. Diese wiederkehrende Erwähnung der Staatsangehörigkeit von Menschen impliziert absichtlich oder unabsichtlich einen Zusammenhang zwischen der Nationalität einer Person und ihren Taten. Im Kontext der Berichterstattung über Straftaten wurde in Deutschland bereits darüber debattiert und wiederholt festgestellt, dass dieser Zusammenhang zu rassistischer Stereotypisierung beiträgt. Auch wenn ich die jeweiligen Journalist:innen explizit darum gebeten hatte, meine Staatsangehörigkeit nicht zu nennen, stand sie trotzdem in einigen Interviews. Die Konsequenz war, dass ich mit zahlreichen Hasskommentare umgehen musste, die vor allem auf meine Staatsangehörigkeit abzielten.

„Warum sollen diese Menschen ein Wahlrecht haben“?

In der Mathematik gibt es sogenannte Axiomensysteme: Axiomen sind grundlegende Aussagen, die ohne Beweis angenommen – und aus denen alle Theoreme des Systems logisch abgeleitet werden. „Etwas begründen“ heißt in diesem Kontext, Argumente zu finden, die auf solchen Axiomen basieren. Im Kontext unserer Kampagne richteten sich die Fragen, die als Begründungsfragen erscheinen, nicht wirklich an die Begründungen, sondern an die Axiome. „Warum sollen die Menschen Wahlrecht haben?“ ist eine dieser Fragen. Die vorgebrachten Begründungen erscheinen dann als sinnlose Versuche etwas zu beweisen, das eigentlich die Basis des Arguments ist: Ich habe die Frage oft mit „Gleichberechtigung“ beantwortet oder mit „damit die Menschen nicht marginalisiert werden“ und „weil sie alle in Deutschland Steuern zahlen“. Allerdings haben diese Antworten die Fragenenden nie zufriedengestellt. Wenn die soziale Gerechtigkeit keine Annahme ist, muss das Recht auf politische Selbstbestimmung zuerst bewiesen werden.

So entsteht ein endloser Kreislauf von Fragen, der in unserem Fall irgendwann menschenunwürdig wurden. In einem Live-Interview mit dem RBB hat mich der Moderator gefragt, was es Deutschland bringen würde, wenn Nicht-Deutsche wählen könnten. Genau da fängt der Kreislauf an: Niemand fragt, warum mein deutscher Nachbar wählen darf. Es scheint selbstverständlich zu sein, dass er als deutscher weißer Staatsangehöriger das Wahlrecht besitzt. Wie scheinheilig diese Haltung ist, zeigt das Beispiel einer Frau mit Kopftuch in Nordrhein-Westfalen, die während der Bundestagswahl zunächst von der Wahl abgehalten wurde, mit der Begründung, sie dürfe ihren Stimmzettel nur unverhüllt ausfüllen.

Unsere Annahmen, Selbstverständlichkeiten und Normen basieren auf Systemen, die wir jahrelang erlernt und internalisiert haben. Das Wahlrecht von Frauen, queeren Menschen und Menschen mit Behinderung wurde in jahrelanger Arbeit erkämpft und war lange nicht selbstverständlich. Heute, in einer Gesellschaft, in der Migrant:innen als Bürger:innen zweiter Klasse behandelt werden, wird es als „normal“ angesehen, dass sie keine politische Stimme haben. Dementsprechend wird unsere Argumentation für ein Wahlrecht für alle, die in einem Land leben und die von dessen Politik betroffen sind, nicht gehört.

Diese Beobachtungen zeigen nicht nur die Machtverhältnisse in Bezug auf unsere Kampagne. Sie zeigen auch die Notwendigkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit der Medienberichterstattung.

 

 

 

Sanaz Azimipour ist Aktivistin, Mathemathikerin und Mitgründerin von MigLoom e.V. und der Kampagne „Nicht ohne Uns 14 Prozent “. Sie hat Wirtschaftsmathematik, Logik und Genderstudies studiert und schreibt am liebsten über Intersektionalität, soziale Gerechtigkeit und Feminismus.
Redigiert von Anna-Theresa Bachmann, Clara Taxis