27.11.2014
Nationalstaatsgesetz in Israel: Chauvi-Demokratisch
"Wir werden uns nicht loyal erklären zu Diskriminierung und Rassismus" stand auf Plakaten bei einem Protest in Tel Aviv 2010. Foto: Oren Ziv/ Activestills.org (C)
"Wir werden uns nicht loyal erklären zu Diskriminierung und Rassismus" stand auf Plakaten bei einem Protest in Tel Aviv 2010. Foto: Oren Ziv/ Activestills.org (C)

Mit aller Macht will Israels Premier ein Gesetz durchbringen, das Israel auf Kosten demokratischer Prinzipien als jüdischen Nationalstaat proklamiert. Das gefährdet den Staat, mindestens aber die Regierungskoalition. Inhalt und Form der Politik sind chauvinistisch.

Was sich am Sonntag im Sitzungssaal des israelischen Kabinetts abspielte, hätte auch in das Drehbuch eines Politthrillers gepasst. Premier Benjamin Netanjahu beschimpfte seine Justizministerin Tzipi Livni als „schlaff“; die wiederum warf ihren Kabinettskollegen lautstark vor, „das Land zu ruinieren“. Der Hintergrund der Auseinandersetzung ist tatsächlich bedenklich.

Das Kabinett brachte am Sonntag Gesetzentwürfe auf den Weg, die den Charakter Israels als „Nationalstaat des jüdischen Volkes“ in den Grundgesetzen verankern sollen. Demokratische und Minderheitenrechte würden den „Werten des Staates“ untergeordnet. Den Staat mehr „jüdisch“ und dadurch etwas weniger demokratisch zu machen, das fordern Politiker vom rechten Rand seit Jahren. Dass der Vorstoß allerdings gerade jetzt kommt, ist dreifach brisant: Am Nein der säkularen Parteien zum Nationalstaats-Gesetz könnte Netanjahus Regierungskoalition zerbrechen. Das Verhältnis zur palästinensischen Bevölkerung ist zum Zerreißen gespannt. Und im rechten Lager kämpft Netanjahu um seine Führungsrolle. In allen drei Bereichen setzt der Premier auf: Chauvinismus (oder die Behauptung der eigenen Überlegenheit).

Innenpolitisch höchst umstritten

Was den Minister_innen zur Abstimmung vorlag, war das Ergebnis eines Deals: Netanjahu unterstützte Gesetzentwürfe rechts-nationalistischer Abgeordneter, die ihm dafür zusicherten, in den entscheidenden Abstimmungen für eine abgeschwächte Version des Gesetzes zu votieren. Das Unterfangen berührt Kernfragen der Staatlichkeit: Symbolik, Rechtssprechung, Bürgerrechte. Die zentralen Punkte finden sich in den von Netanjahu vorgebrachten Grundsätzen für das Gesetz: Dort wird unter anderem festgelegt, dass das Recht auf nationale Selbstbestimmung in Israel allein dem jüdischen Volk vorbehalten sein soll. Die nationalen Symbole wie Wappen und Hymne sollen an die jüdische Tradition angelehnt bleiben. Jüdische Rechtsauslegung soll dem Parlament als „Quelle der Inspiration“ dienen. Und zu guter Letzt sollen Grundrechte dann eingeschränkt werden dürfen, wenn das den „Werten des Staates Israel“ dient. Dass in Paragraph II Absatz IV noch eben die Rede vom Schutz individueller Rechte ist, wirkt, nun ja, nachrangig.

Im Kabinett stimmten 14 Minister_innen für und sechs gegen den Entwurf, darunter Livni und Finanzminister Yair Lapid, die sich der zionistischen, säkularen politischen Mitte zuordnen. Sie erachten die Entwürfe ihrer Kollegen von rechts als inakzeptabel: Deren Entwürfe enthalten unter anderem eine Klausel, nach der Arabisch als zweite Amtssprache abgeschafft würde, während das Wort Gleichheit keinerlei Erwähnung findet.

Den Eklat erst einmal vertagt

Die Abstimmung über die radikalen Entwürfe zu erzwingen, obgleich das Gesetz letztlich milder formuliert durch die Knesset gehen soll, ist eine Kampfansage Netanjahus gegenüber seinen moderaten Koalitionspartner_innen. Netanjahu kündigte an, er werde ein Nationalstaatsgesetz um jeden Preis durch die Knesset bringen. Livni und Lapid bekräftigten, sie würden ein radikal formuliertes Gesetz scheitern lassen. Schon spekuliert ein Kommentator der liberalen Tageszeitung Haaretz: Will Netanjahu das Ende der Koalition und damit Neuwahlen herbeiführen? Zumindest nimmt er das Risiko dazu in Kauf. So ganz bereit für den Eklat aber scheint der Regierungschef noch nicht zu sein: Aufgrund des allzu offenen Streits vertagte er die Knesset-Diskussion zum Thema auf die erste Dezemberwoche.

Doch wie groß ist die inhaltliche Tragweite der Gesetzentwürfe? Bereits in den Grundgesetzen Israels ist von Israel als jüdischem Staat die Rede. Allerdings steht dort „jüdisch“ gleichberechtigt neben „demokratisch“ und explizit ist die Rede von der Wahrung gleicher Rechte für alle Staatsbürger_innen. Das neue Gesetz soll dem „jüdischen Volk“ das exklusive Vorrecht zur Selbstbestimmung und der Gestaltung des Staates einräumen. Eine Klausel nach der Staatbürger_innen unabhängig von Rasse und Religion die gleichen individuellen Rechte genießen sollen, ist in den Text nur eingeschoben. Und zum Schluss steht da noch: Grundrechte dürfen unter Umständen eingeschränkt werden, wenn das den „Werten des Staates“ dient. Kritiker sehen die Rechte der Minderheiten bedroht.

Jüdisch, demokratisch, jüdisch und demokratisch: bloße Wortklauberei?

In der Tat ist Israels Gesellschaft weit heterogener als die nationalen Symbole wie Menorah und Davidstern vermuten lassen: Über 20 Prozent der Bevölkerung werden in den Statistiken als „Araber“ geführt. Hinzu kommt die Unterteilung in verschiedene Religionsgruppen, die sich mit der ethnischen Differenzierung nur teilweise überschneidet.

Für die Minderheiten ist das Nationalstaatsgesetz sowohl Symptom als auch schlechter Vorbote. Schon seit der Staatsgründung sehen sich nicht-jüdische Teile der Bevölkerung systematisch diskriminiert, beklagen schlechtere Versorgung mit staatlichen Diensten und politische Ausgrenzung. Das neue Gesetz, so steht zu befürchten, gäbe Ungleichbehandlung eine rechtliche Grundlage. Die Initiative dazu wird weithin als Ausdruck eines zunehmend aggressiv formulierten jüdisch-israelischen Nationalismus empfunden. Und als schlechtes Omen: Wenn im Parlament so offen ausgesprochen wird, dass Demokratie nicht für alle da sein soll, wie wird sich das Zusammenleben in Israel weiter entwickeln?

Dass das Gesetz durchaus zum Nachteil von Minderheiten angewendet werden soll, stellte Wirtschaftsminister Naftali Bennett, Vorsitzender der national-religiösen Partei Habeit Hayehudi dann auch gleich klar: „Wenn das nächste Mal ein Gesetz zur Bekämpfung von Eindringlingen [ein unter rechten Politikern gängiger Begriff für Asylsuchende, Anm. d. Red.] dem Obersten Gerichtshof vorgelegt wird, dann wird das Gericht auch beachten müssen, dass Israel der ‚Nationalstaat des jüdischen Volkes’ ist und nicht nur ‚Menschenwürde und Freiheit’ [zur Urteilsbegründung heranziehen].“

Auch aus den jüdischen Teilen der israelischen Gesellschaft ist ungewöhnlich heftige Kritik am geplanten Gesetz laut geworden. Der Vorsitzende der zionistischen Arbeitspartei, Isaak Herzog, nannte die Entwürfe „rassistisch und diskriminierend“. Das Vorhaben sei eine unnötige Provokation Netanjahus, der sich so profilieren wolle. Ebenso empört äußerte sich die Gesellschaft für Bürgerrechte in Israel (ACRI). In einer Pressemitteilung nannte sie das Gesetzesvorhaben eine „Botschaft der Diskriminierung“. Kritik kommt auch aus den verschiedenen orthodox-religiösen Gemeinden: Ob staatliche Stellen sich der religiösen Rechtsauslegung bedienen sollten, die doch religiösen Autoritäten vorbehalten sein soll, ist hier stark umstritten.

Provokation vom hohen Ross

Wenn das Nationalstaatsgesetz dem jüdischen Volk allein das Recht auf Selbstbestimmung einräumt, dann ist das ein Schlag vor allem gegen die Palästinenser_innen. Das betrifft die arabisch-palästinensische Bevölkerung im israelischen Kernland: Ihr wird es verwehrt, nationale Identität zu leben – deren Ausprägung angesichts der Geschichte der Vertreibung ohnehin in ständiger Aushandlung begriffen ist. Es vertieft aber auch den Graben – es ist wohl eher ein Abgrund – zu den palästinensischen Entscheidungsträger_innen in den besetzten Gebieten. Die hatten zuletzt immer wieder klar gemacht: Ein Friedensabkommen könne es nicht geben, wenn Palästinenser_innen in Israel zu Bürger_innen zweiter Klasse degradiert würden. Dass Begriffe wie Frieden oder Abkommen in Israel und Palästina gemeinhin nur noch in bitterem Scherz verwandt werden, liegt auch und vor allem an israelischen Regierungsbeschlüssen wie dem Nationalstaatsgesetz oder dem Siedlungsausbau: überheblichen Provokationen.

Die vielen Funken können allzu bald einen Flächenbrand auslösen. In Gaza ist die Not groß, im Westjordanland und Ost-Jerusalem vermengt sich Perspektivlosigkeit mit der Erosion politischer Autoritäten und in Israel wachsen die Spannungen zwischen jüdischer und nicht-jüdischer Bevölkerung. Sie alle verbinden die Fragen nach Nationalität und Unterdrückung, die zunehmend religiös konnotiert werden. In dieser aufgeheizten Atmosphäre ein diskriminierendes Gesetz zu verabschieden, dass mehr symbolisch als unmittelbar praktisch wirkt, kann man waghalsig nennen – oder konflikttreiberisch.

Eine eigene Vision für Israel hat Netanjahu nicht vorzuweisen

Dennoch scheint es Premier Netanjahu politisch opportun. Der nationalistische rechte Rand läuft ihm und den Konservativen in Umfragen den Rang ab und national-religiöse und die sogenannten säkularen Parteien treiben weiter auseinander. Mit einem reißerischen Thema wie dem „jüdischen Staat“ treibt er beide Seiten auf die Barrikaden – und kann sich schließlich selbst als einenden Vater der Nation in Szene setzen. Eine eigene Vision für das Land nämlich hat er nicht vorzuweisen.

Der Vorstoß zum Nationalstaatsgesetz ist Polit-Chauvinismus in Inhalt und Form: Inhaltlich, weil hier die Vormachtstellung einer Gruppe über andere zementiert werden soll. Und in der Form, weil ein bewusst unerhörter Vorschlag genutzt wird, um die Gesellschaft zu polarisieren und so zu schwächen. Weil das ganze Vorhaben Überlegenheit zelebriert statt Ausgleich zu schaffen.

Lea ist seit 2011 bei Alsharq. Sie hat Internationale Politik und Geschichte in Bremen und London (SOAS) studiert und arbeitet seitdem als Journalistin. Mehrere Jahre hat sie in Israel und Palästina gelebt und dort auch Alsharq-Reisen geleitet. Lea ist heute Redakteurin bei der Wochenzeitung Die Zeit.