28.07.2025
Was das Urteil gegen Alaa M. bedeutet
Der Prozess wurde am Oberlandesgericht Frankfurt am Main geführt. Wikimedia Commons.
Der Prozess wurde am Oberlandesgericht Frankfurt am Main geführt. Wikimedia Commons.

Am 16. Juni ging der Prozess gegen den ehemaligen syrischen Arzt Alaa M. in Frankfurt zu Ende. Der ECCHR unterstützte einen Nebenkläger. Rechtsanwalt Patrick Kroker spricht im Interview über die Signalwirkung des Urteils.

[Triggerwarnung: Dieser Artikel enthält explizite Beschreibungen von sexualisierter Gewalt und Folter. Bitte sei achtsam mit dir, insbesondere wenn dich dieses Thema betrifft.]

Patrick, du hast den Fall von Alaa M. als Leiter der Arbeit des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) zu Menschenrechtsverbrechen in Syrien eng begleitet. Kannst du kurz zusammenfassen, was verhandelt wurde und wie der Prozess ablief?

Dieser Fall ist einer der größten und längsten, die es bisher gab zu Syrien. 2019 gab es die ersten Hinweise darauf, dass jemand als Arzt hier in Deutschland tätig sei, der im syrischen Foltersystem aktiv war. Daraufhin gingen die Ermittlungen los und die Beweislage hat sich weiter verdichtet. Ein paar Tage nach dem das Al-Khatib-Verfahren vor dem Oberlandsgericht Koblenz beendet war, wurde dann der Prozess gegen Alaa M. in Frankfurt am Main eröffnet – das Timing war aber Zufall.

Nach 186 Verhandlungstagen und der Anhörung von 50 Zeug:innen, ging der Prozess nun zu Ende. Er hat eine hohe Relevanz, weil er auf einer Makroebene das System der Militärkrankenhäuser im Folterapparat des Assad-Regimes beleuchtet.

Leider ist dieser Fall besonders schockierend, auch im Vergleich zu anderen Folterfällen. Ursprünglich waren 18 verschiedene Fälle von Misshandlung durch diesen Arzt Gegenstand der Anklage, die er alle eigenhändig begangen haben soll. Diese Fälle reichen von Schlägen bis hin zu Taten, bei denen er brennbare Flüssigkeit über die Genitalien eines Jugendlichen gegossen hat und diese dann anzündete. Diese Foltermethode ist gleichzeitig sexualisierte Gewalt und ein Fall zumindest versuchter Vernichtung der Fortpflanzungsfähigkeit.

Andere in der Anklage benannte Verbrechen sind eine OP ohne Narkose und zwei Tötungen. Gerade diese sind für das Verfahren besonders relevant, weil sie das Strafmaß definieren.

Im Laufe dieser dreieinhalb Jahre Prozess haben sich von diesen 18 Fällen 11 herauskristallisiert, die auch vor Gericht jetzt abgeurteilt werden konnten.

Als ECCHR habt ihr bei diesem Verfahren die Nebenklage unterstützt. Was bedeutet das Urteil für die Betroffenen?

Wir als ECCHR haben eine Person unterstützt, dessen Bruder durch Alaa M. getötet wurde. Obwohl der Bruder in Haft bereits epileptische Anfälle gehabt hatte, was Alaa M. wusste, wurde er nicht adäquat behandelt. Am nächsten Tag lag er tot in der Zelle.

Zusätzlich kam es im Vorfeld des Prozesses zu Einschüchterungen von Zeug:innen und ihrer Familien in Syrien, was das Verfahren schwieriger gestaltete. Deswegen ist es gut, dass das Verfahren jetzt zu Ende ist.

Angestoßen wurde das Verfahren, weil syrische Geflüchtete Alaa M. in Deutschland wiedererkannt haben, wo er als Arzt tätig war. Kannst du darüber mehr berichten?

Der erste Hinweis kam von einem Geflüchteten, der beim BAMF ausgesagt hat, dass im Militärkrankenhaus in Homs Leute durch Giftspritzen getötet wurden. Dadurch sind die deutschen Behörden das erste Mal auf Alaa M. aufmerksam geworden und haben den Geflüchteten vernommen.

Dieser eine Geflüchtete recherchierte selbst weiter und machte gegenüber deutschen Behörden darauf aufmerksam, dass Alaa M. mittlerweile hier in Deutschland als Arzt praktiziert. Daraufhin kam das ganze ins Rollen. Über die Benennung potenzieller Zeug:innen bildete sich ein ganzes Netzwerk an Zeug:innen und auch Nebenkläger:innen. Aber auch syrische zivilgesellschaftliche Organisationen haben viele Informationen für den Prozess geliefert.

Wo du gerade zivile Organisationen erwähnst, habt ihr Partnerorganisationen, die euch in diesem Fall aus Syrien unterstützt haben?

Ja, es ist jetzt keine nach Außen sichtbare Kooperation, aber wir haben mit dem Syrian Justice and Accountability Center (SJAC) zusammengearbeitet. Ein zweiter Partner war das Syrian Center for Legal Research and Studies und da besonders der auch in Deutschland bekannte syrische Menschenrechtsanwalt Anwar Al Bounni. Außerdem gab es Kontakte zu dem Syrian Network for Media and Freedom of Expression (SCM) und dem Syrian Network for Human Rights.

Das war und ist besonders wichtig, um Hintergrundinformationen direkt aus Syrien zu erhalten. In so einem Strafprozess muss alles so unmittelbar wie möglich sein, da reicht kein Videotelefonat nach Syrien. Beweismittel müssen im Gerichtssaal direkt vorgebracht werden und das macht es manchmal schwierig. Deswegen werden „Beweismittel“ oder Aussagen von Personen benötigt, die hier in Deutschland verfügbar sind.

In Syrien selbst ist die juristische Aufarbeitung momentan noch immer nicht möglich und so wie es aussieht, wird das auch noch länger nicht der Fall sein.

Wie gestaltet sich der juristische Aufarbeitungsprozess in Syrien? Gibt es hier schon erste Ansätze oder Gedanken? Ist es nach dem Sturz von Assad im Dezember 2024 nun möglich, eine Übergangsjustiz aufzubauen?

Es scheint sehr viel im Fluss zu sein, aber es ist zu früh, um dazu ein Urteil abzugeben.

Die Rhetorik der neuen Machthaber ist grundsätzlich für eine Aufarbeitung der Verbrechen des Assad-Regimes. Taten sind bisher wenige gefolgt. Seit Mai gibt es eine Kommission für Übergangsjustiz und es dominiert die Rhetorik, dass die syrische Regierung die Aufarbeitung selbst in die Hand nehmen möchte. Die syrische Zivilgesellschaft ist da skeptisch, weshalb Impulse von außen größtenteils sehr begrüßt werden. Diese Urteile bauen so auch Druck auf die neue Regierung in Syrien auf und schaffen Präzedenzfälle.

Werden in Deutschland denn schon weitere Verfahren wegen Folter in Syrien vorbereitet?

Ja, es wird weitere Verfahren geben. In einigen Fällen sind schon Festnahmen erfolgt. Diese sind auch öffentlich bekannt. Im Juli 2025 wurden fünf Männer festgenommen, denen Tötungen und Folter in Jarmuk vorgeworfen werden. Jarmuk ist ein palästinensischer Stadtteil von Damaskus, der aus einem Flüchtlingslager entstand. Das ist vom Umfang ein deutlich größerer Fall als der von Alaa M., der am 16. Juli 2025 nun auch durch die Bundesanwaltschaft angeklagt worden ist.

Im Zusammenhang mit dem Verfahren in Koblenz wurde am 27. Mai eine weitere Festnahme getätigt, das ist der neueste Fall. Aus dieser Festnahme wird wohl ein weiteres Verfahren entstehen, es wird meiner Meinung nach nicht das letzte sein. Unter den vielen, vielen, Menschen aus Syrien, die in Deutschland leben, befinden sich Personen, die schlimme Verbrechen erleben mussten. Daneben gibt es auch Vereinzelte, die diese Verbrechen begangen haben. Es gibt Vermutungen, dass deren Anzahl seit dem Sturz des Assad-Regimes im Dezember letzten Jahres eher noch gestiegen sind, da viele Täter aus Syrien fliehen mussten und möglicherweise Verwandte oder Bekannte in Deutschland haben.

Die Bundesregierung hat aufgrund der unklaren politischen Situation in Syrien vorerst alle Verfahren zu Aufenthalt, Asyl oder Staatsbürgerschaft eingefroren. Kannst du einschätzen, ob das Urteil des Gerichts Auswirkung auf die Debatte über die Zukunft der syrischen Geflüchteten haben wird?

Vor dem Fall des Assad-Regimes ging die Debatte schon in Richtung „Normalisierung“ mit der syrischen Regierung. Hauptsache war für die deutsche Politik, die Zahl der Geflüchteten zu begrenzen. Trotzdem war klar, dass Syrien nicht als sicher eingestuft werden kann.

Syrien ist immer noch ein Staat, dessen Bürger:innen Schutz brauchen oder zumindest verdienen. Doch dafür müssen andere Argumente angeführt werden, als jetzt dieses Verfahren, das ja das alte Regime betrifft. In der aktuellen Debatte geht es vielmehr um die weiter andauernde Gewalt, die Unsicherheit. Zum Beispiel geht es um Taten, die Ahmed al-Scharaa und andere in der Regierung begangen haben und weiter begehen. Damit meine ich einmal HTS (Haiʾat Tahrir al-Scham) selbst, aber auch die Milizen aus Afrin, die er da eingesetzt hat. Auch diese Milizen begehen Verbrechen, zum Teil wird dazu in Deutschland auch ermittelt. Angesichts dieser Tatsachen muss man sagen, dass sich an dem Bedarf an Schutz für Syrer:innen eigentlich nichts geändert hat. 

 

 

 

 

Henriette studierte Vorderasiatische Archäologie und Islamwissenschaft im Master in Berlin, London und Amman und arbeitete und lebte im Sudan, Tunesien, Syrien, Tadschikistan, Aserbaidschan und Russland. Sie arbeitet als Sozialarbeiterin im Bereich Migration und promoviert in der Iranistik zu Kurd*innen in Russland.
Redigiert von Clara Taxis, Regina Gennrich