21.04.2019
Flucht nach Tunesien: Immer noch besser als Libyen
Libyen sind sie entkommmen. Nun harren Geflüchtete und Migrant*innen im Aufnahmezentrum des Roten Halbmondes im südtunesischen Medenine aus. Foto: Maximilian Ellebrecht
Libyen sind sie entkommmen. Nun harren Geflüchtete und Migrant*innen im Aufnahmezentrum des Roten Halbmondes im südtunesischen Medenine aus. Foto: Maximilian Ellebrecht

Missbrauch und Gewalt in Libyen drängen immer mehr Geflüchtete und Migrant*innen dazu, in Tunesien Schutz zu suchen. Doch auch dort warten Schwierigkeiten. Eine Reportage von Maximilian Ellebrecht

Heute sind es nur sieben – deutlich weniger als die 40 am Vortag. Während ein Mann in seinem Büro ein äthiopisch-eritreisches Ehepaar registriert, verweilen die anderen fünf im unmöblierten Flur. „Ruhig bleiben, wir kümmern uns um euch“, steht auf einem Poster an der Wand. Sie sehen noch etwas verloren aus an diesem sonnigen Märzmorgen im staubigen Süden Tunesiens. Sie sind gerade erst eingetroffen im Aufnahmezentrum für Geflüchtete und Migrant*innen, das der tunesische Rote Halbmond am westlichen Stadtrand von Medenine unterhält.

Einer der Neuankömmlinge ist Pierrot. In verschlissener Jogginghose sitzt der 25-jährige Kameruner breitbeinig auf einem Rucksack, der seine wenigen Habseligkeiten enthält. 17 Tage ist es her, seitdem er mit einem Freund im westlibyschen Küstenort Zuwara in ein Auto stieg, dessen Fahrer sie in die Nähe der tunesisch-libyschen Grenze schmuggelte. Eine Nacht wanderten die beiden unter sternenklarem Himmel durch den Wüstensand nach Tunesien. 16 Nächte hat er wegen irregulären Grenzübertritts in tunesischem Gewahrsam verbracht, bis ihn die Polizei vor der Unterkunft in Medenine absetzte. Heute ist sein erster Tag in Freiheit.

Über Libyen nach Europa?

Pierrot hat eine strapaziöse Reise hinter sich. Zwei Jahre sind vergangen, seitdem Perspektivlosigkeit und die Hoffnung auf ein besseres Leben ihn dazu trieben, seine Heimat zu verlassen. Mit mehr als 30 anderen Menschen klammerte er sich auf der Ladefläche eines Pick-ups fest, als ein Schleuser ihn durch die Sahara nach Libyen schmuggelte – vor Augen nur ein einziges Ziel: Europa.

Die westlybische Hafenstadt Sabrata, damals Zentrum der Überfahrten nach Italien, erreichte Pierrot unversehrt. Doch dann kam alles anders als geplant. Als in Sabrata Mitte September 2017 mehrwöchige Gefechte zwischen bewaffneten Gruppen ausbrachen, machten sich die Schlepper mit dem gezahlten Geld davon. Pierrot landete in einem von der libyschen Migrationsbehörde betriebenen Internierungslager, konnte sich aber freikaufen und fuhr in den 30 Kilometer östlich gelegenen Küstenort Zawiya.

Ein halbes Jahr später zwängte sich Pierrot mit mehr als 150 Menschen auf ein völlig überladenes Gummiboot – am 23. April 2018, erinnert er sich ohne nachdenken zu müssen. Aber in Europa kam er nie an. Drei Tage lang trieb die Gruppe ziellos auf dem Mittelmeer, bis die von Italien und der Europäischen Union aufgerüstete libysche Küstenwache das Boot aufgriff und die Passagier*innen zurück nach Libyen schiffte. An Land wurden die Passagier*innen umgehend verhaftet – willkürlich, wie Menschenrechtsorganisationen immer wieder betonen.

„Wer kein Geld hat, kommt da nie wieder raus“

Sechs Monate lang war Pierrot anschließend eingesperrt – unter schrecklichen Bedingungen, berichtet er: „Sie haben uns in einer Zelle verrotten lassen – mehr als 50 Menschen in einem Raum, ohne Matratzen, ohne Decken. Morgens bekommst du ein trockenes Brot und abends eine Schüssel Nudeln ohne Soße – sonst nichts.“ Hemmungslos schlugen die Wächter auf Gefangene ein, um Geld zu erpressen, sagt er. „Wer kein Geld hat, kommt da nie wieder raus.“

Pierrot rief schon am ersten Tag seine Eltern an. „Ich sterbe, wenn ihr nichts unternehmt“, bettelte er. Als seine Familie ein halbes Jahr später endlich genug Geld zusammengekratzt hatte, wollte Pierrot nur noch raus aus Libyen. „Ich habe gesehen, wie Menschen zu Tode geschlagen wurden, wie Menschen mit gebrochenen Beinen versuchten, vor ihren Peinigern wegzurennen“, sagt er und senkt seine großen, gutmütigen Augen. „Solche Bilder wirst du nie mehr los.“

Pierrot (links) und sein Freund warten darauf, einen Schlafplatz zugewiesen zu bekommen

Pierrot ist mit seinen Erlebnissen nicht allein. Ausnahmslos berichten die Bewohner*innen in Medenine davon, in Libyen in einen höllischen Kreislauf von Ausbeutung und Gewalt geraten zu sein. Sie erzählen von massiv überfüllten Lagern, in denen sie eingesperrt, geschlagen, vergewaltigt und grausam gefoltert wurden. Sie berichten, unbezahlt auf Plantagen oder Baustellen geschuftet zu haben. Einige wurden auf dem Mittelmeer abgefangen und nach Libyen zurückgebracht. Andere haben ein halbes Vermögen an Milizen und Schlepper bezahlt, ohne es jemals auf ein Boot geschafft zu haben. Sie alle sind nach Tunesien gekommen, um dieser Hölle zu entfliehen. Doch wartet hier wirklich die ersehnte Rettung?

Die Kapazitäten sind längst überschritten

In einem Zimmer am Ende des Flures verweilt eine Gruppe junger Männer aus Somalia, Eritrea und dem Sudan. Ein paar von ihnen finden auf einem der wenigen Betten Platz. Die meisten sitzen auf ausgelegenen Schaumstoffmatratzen, die fast den gesamten Raum ausfüllen. Vor ein geöffnetes Fenster ist ein Tuch gespannt, damit die Hitze nicht hereindringt.

Nachts schlafen hier 30 Menschen auf engstem Raum, berichten die Männer. 30 tunesische Dinar erhalten Bewohner*innen wöchentlich in Form von Einkaufsgutscheinen – umgerechnet weniger als 35 Euro im Monat. Zum Leben reicht das kaum. „Fleisch haben wir hier noch nie gesehen“, sagt ein Mann aus Eritrea, der Brot in eine große Metallschüssel bröselt und die Krümmel anschließend mit dampfender Tomatensoße zu einem trostlosen Brei vermengt. „Einmal habe ich zwei Tage lang gar nichts gegessen“, ergänzt ein anderer.

Fest steht: Die Kapazitäten des Zentrums sind längst überschritten. Obwohl die Unterkunft auf 110 Personen ausgelegt ist, leben hier nun rund doppelt so viele. Vor den Mülltonnen im Hof häuft sich der Abfall. Eines von insgesamt drei Badezimmern steht unter Wasser, weil die Abflüsse verstopft sind. Von drei spärlich ausgestatteten Küchen verfügen nur noch zwei über einen funktionierenden Gasherd. Alle Flure des dreistöckigen Hauptgebäudes sind mit Matratzen ausgelegt – auch vor den Badezimmern.

Doch die Probleme gehen über sichtbare Missstände hinaus. Für Pierrot wird Tunesien die letzte Station auf seiner Reise sein. Er will mit Unterstützung der Internationalen Organisation für Migration (IOM) nach Kamerun zurückkehren. Pierrot sagt: „Lieber in Armut leben als sterben, ohne irgendetwas zu erreichen.“ Doch viele Bewohner*innen sind vor Gewalt, Verfolgung und Unterdrückung geflohen. Für sie ist eine Rückkehr keine Option. Manche warten seit Monaten vergeblich darauf, bei der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR einen Asylantrag zu stellen. Sie sitzen fest – und träumen weiterhin von einem Leben in Europa. Denn auch von UNHCR anerkannte Flüchtlinge dürfen in Tunesien nicht legal arbeiten.

Die IOM unterstützt Migrant*innen bei einer „freiwilligen“ Rückkehr in ihr Heimatland, doch für viele Bewohner*innen ist das keine Option

Wie lange geht das noch gut?

Eine gute Stunde Autofahrt über buckelige Landstraßen entfernt, in einem Café am Strand der Hafenstadt Zarzis, sitzt ein Mann, der die schwierigen Zustände in Medenine gut kennt. Sein Name ist Mongi Slim. Seit zwei Jahrzehnten ist der Mitte 60-jährige, der in Medenine eine Apotheke betreibt, ehrenamtlicher Vorsitzender des Roten Halbmondes in der Region. Obwohl er wegen eines Todesfalls in der Familie in Zarzis ist, schwingt in seiner Stimme auch Begeisterung mit, wenn er von der Arbeit des Roten Halbmondes spricht. Er sagt: „Humanitäre Hilfe ist wie ein Virus, den man sich einfängt und nie wieder los wird.“

Slim erkennt den Ernst der Lage. In Libyen sitzen zehntausende Geflüchtete und Migrant*innen weiterhin fest, darunter Tausende in unbefristeter Gefangenschaft. Gleichzeitig spreche sich herum, dass in Tunesien humanitäre Hilfe warte, so Slim. Wenn es mit den Ankünften so weitergeht, werde der tunesische Rote Halbmond dieses Jahr bis zu 6.000 Menschen versorgen, schätzt er – weit mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr. Auch zwei andere von UNHCR und IOM finanzierte Unterkünfte in Medenine sind schon jetzt „rappelvoll“, so Slim. Noch seien die Ankünfte irgendwie zu bewältigen. Aber wie lange noch? Slim mahnt: „Wir müssen uns vorbereiten. Wir brauchen dringend mehr Unterkünfte.“

Doch für mehr Unterkünfte fehle vor allem eines: Geld. Vom tunesischen Staat, der mit der schlechten Wirtschaftslage kämpft, erhält der Rote Halbmond keine finanzielle Unterstützung. Auch von anderen Geldgebern komme nur wenig, so Slim. „Die tunesische Regierung hat andere Prioritäten“, sagt er verständnisvoll. „Aber wo sind die Europäer?“ Gerne würde er den Menschen ein Leben in Würde bieten. Doch er fühlt sich alleingelassen und sagt: „Niemand steht hinter uns.“

Mongi Slim, Vorsitzender des tunesischen Roten Halbmondes in Medenine, am Strand von Zarzis. Er kennt die schwierigen Zustände in Medenine gut

„Ich habe Schlimmeres gesehen“

Zurück in Medenine, sinkt die Sonne langsam hinter den Horizont. Während sich im grauen Hof einige Männer einen Ball zuschießen, steht Pierrot am Rande der unasphaltierten Straße vor der Unterkunft. Einen Schlafplatz hat er noch nicht gefunden. Doch auch wenn ihm mittlerweile klar ist, dass er es auch in Tunesien nicht leicht haben wird, bleibt er gelassen. „Ich habe Schlimmeres gesehen“, sagt er und lacht. Immer noch besser als Libyen.

Inzwischen hat das Aufnahmezentrum in Medenine seine Tore dauerhaft geschlossen. Nicht nur die schwierigen Bedingungen, sondern vor allem der Unmut, den die überfüllte Unterkunft bei Anwohner*innen auslöste, führten zu der Entscheidung, die Unterkunft schnellstmöglich aufzugeben, so Slim einige Wochen später am Telefon. Asylbewerber*innen aus Ländern wie Eritrea, Somalia und dem Sudan wohnen mit finanzieller Unterstützung von UNHCR nun entweder in zwei neu eröffneten Unterkünften in Zarzis oder dezentral in Mietwohnungen in Zarzis oder Medenine.

Migrant*innen wie Pierrot, die kein Asyl suchen, wurden in die andere vom Roten Halbmond unterhaltene Unterkunft in Medenine verlegt. Bis zu 60 Tage lang bietet der Rote Halbmond Migrant*innen ohne Asylgesuch ein Dach über den Kopf, damit sie sich über ihre Zukunft Gedanken machen können. Dann müssen sie Neuankömmlingen den Platz überlassen, so Slim. Wer danach in Tunesien bleiben möchte, ist auf sich allein gestellt.

Komfortabel hat es Pierrot auch in seiner neuen Unterkunft nicht. „Es gibt keinen Strom, kein fließendes Wasser und keine Betten“, schreibt er über Facebook. „Aber immerhin sind wir hier nur vier Personen auf einem Zimmer.“ Dass Menschen je nach Nationalität unterschiedlich behandelt werden, kann er trotzdem nicht nachvollziehen. Er fragt: „Sind wir nicht alle gleich?“

 

Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag wurde verfasst, bevor im April 2019 heftige Kämpfe um die libysche Hauptstadt Tripolis ausbrachen.

Maximilian hat in Leipzig, Amman und London Politik, Arabisch und internationale Entwicklung studiert. Er lebt in Leipzig, arbeitet mit Geflüchteten und schreibt nebenher als freier Autor. Bei dis:orient betreut er seit 2020 die Kolumne „Des:orientierungen“ und ist unter anderem Teil des Social-Media-Teams.
Redigiert von Diana Beck, Julia Nowecki