02.11.2018
Gangsta’s paradise? Was der Hype um „arabische Clans“ über deutsche Männlichkeit verrät
Eva Tepest ist Journalistin und freie Autorin mit Sitz in Berlin.
Eva Tepest ist Journalistin und freie Autorin mit Sitz in Berlin.

Modedesigner, Serienmacher und Investigativreporter machen arabische Gangster zu ihrem Kapital. Was daran problematisch ist. Eine Kolumne von Eva Tepest.

Dieser Text ist Teil der Alsharq-Kolumne „Des:orientierungen“. Alle Texte der Kolumne findet ihr hier.

Neukölln ist in aller Munde – und das nicht erst seit die Familienministerin Franziska Giffey, ehemalige „Bürgermeisterin des Unruhebezirks“ (Süddeutsche), die sich „mit kriminellen Clans und illegalem Sperrmüll“ auskennt (Welt), vom „Brennpunkt in den Bund“ (Stuttgarter Zeitung) wechselte. Seitdem im September der Intensivtäter Nidal R. auf offener Straße erschossen wurde, ist die Aufregung noch größer, wenn es um den Berliner Stadtteil geht, der mit seinen über 320.000 Einwohnern eigentlich eine Großstadt sein könnte.

„So herrschen Araber-Clans in unserer Hauptstadt“, titelt die Bild-Zeitung im Oktober. Die dazugehörige Doku „Clans von Berlin“ behandelt „Waffen- und Drogenhandel, Erpressung, [und] Raubtaten“ in Serie. Darin deckt „BILD auf, wie kriminelle Mitglieder dieser Clans sich gegen ihre Konkurrenz durchgesetzt haben und die Berliner Unterwelt beherrschen.“

Ein wahres Fest für manche Journalist*innen war auch das Begräbnis von Nidal R., von dem in der Berliner Zeitung als „Höhepunkt“ in einer Reihe von „Auseinandersetzungen zwischen kriminellen verfeindeten Großfamilien“ die Rede war: „2000 Männer und ein paar Frauen. Es sind polizeibekannte Clan-Oberhäupter und Straftäter unter den Trauergästen.“

Mode, Medien und TV: „Street Credibility” als Kapital

Einen etwas anderen Ton schlägt das Sex&Crime-Magazin Vice ein. Wer auf Vice.de nach „Araber-Clan“ sucht, findet Dutzende Ergebnisse – von „Das wahnsinnige Leben des Berliner Schwerkriminellen, den man vor seinen Kindern erschoss“ bis „Vier Araberinnen erzählen, wie sie ihre arrangierten Ehen verhindert haben.“ Ganz oben in der Liste steht auch der Text „Wir haben die neue Serie 4 Blocks mit echten Berliner Gangstern geschaut.“

2017 erschien die erste Staffel der Erfolgsserie „4 Blocks“, in deren Mittelpunkt der Libanese Ali „Toni“ Hamady steht, der einen kriminellen Neuköllner Familienclan anführt. Seit Anfang Oktober läuft die zweite Staffel. Drehbuchautor und Regisseur Marvin Kren ist überzeugt, ein realistisches Bild der Berliner Clans gezeichnet zu haben.

Die Gangsta-Buddies des Vice-Reporters sind hingegen weniger zufrieden: Sie finden es etwa befremdlich, dass die meisten Drogen in „4 Blocks“ auf der Straße verkauft werden. Tatsächlich hätten heute vor allem Kokain-Taxis den Markt übernommen. „Heute gehst du nicht mehr zu den Drogen, die Drogen gehen zu dir“, berichtet einer der Gesprächspartner, mit denen er Fanta trinkt und Flips nascht.

Dabei hatte Kren die TV-Authentizität dadurch herstellen wollen, dass in „4 Blocks“ Gangster-Rapper wie Massiv und Veysel seine Drogenkriminellen darstellen. Marvin aus Wien und sein Team casteten ihre „Jungs“ mitten in der Hood: „Die Straße ist die beste Schauspielschule“. Bei all der Authentizität wird dann auch mal einem wie Massiv eine Bühne geboten, der in seinen Rap-Texten immer wieder antisemitische Stereotype verwendet und zum „Jihad“ gegen Israel aufruft.

Gangsta-Style inspiriert auch die Modewelt

Die Suche nach authentischer Repräsentation des Gangster-Milieus umtreibt auch die Modeindustrie. Das Magazin Modzik etwa publizierte eine Mode-Strecke, die sich der Ästhetik von Sonnenbrillenverkäufern auf den Straßen Frankreichs bedient. Auch die Tracksuit-Jackets von Pierpalo Piccolio auf dem Laufsteg von Valentino sind inspiriert vom Gangsta-Style.

Das kritisiert der marokkanische Photograph Ilyes Griyeb. Insbesondere französische Designer*innen und Kulturschaffende, so Griyeb, machten in den letzten Jahren neben den Banlieues Frankreichs die Metropolen Nordafrikas zu ihrem Kapital. Denn dort fänden sie – nur drei Flugstunden entfernt – gesellschaftliche Realitäten, an deren Komplexität sie sich auf ihrer Suche nach authenticity – „THE creative token of the 2010s“ – berauschten: „With the return of 1990’s fashion, the figure of the ‘racaille’ (sportswear loving North-African or African alpha male) has made a come back for creators, overused in fashion, photography and cinema.“

Das eklatanteste Beispiel sei der jüngste Hype um „The Blaze“, das franko-algerische Musikerduo, die in „Virile“ in ihren Trainingsanzügen über den Dächern Algiers kiffen, tanzen und sich ein bisschen näher kommen. Problematisch daran: Laut Griyeb sind es gerade die Symptome ihrer sozioökonomischen Probleme, die arabische Länder für europäische Kulturschaffende interessant machten: „What we see overall is a fetishization of those countries social troubles.“

Die meisten Crime-Reporter der Boulevard-Zeitungen sind ebenso weiß, wie die weißen Vice-Reporter, die sich mit echten Gangstern treffen, um Gangster-Soaps zu schauen oder die Modemacher, die ihre Jogginghosen für 500 Euro aufwärts an den Mann bringen. Was soll der Hype um die „Pin-up-Gangster“?[1]

„Pin-up-Gangster": Die „Araber” als Vexierbild

In seiner Streitschrift Desintegriert Euch! nimmt der Essayist und Lyriker Max Czollek das „Gedächtnistheater“ der Deutschen aufs Korn. Die „Juden“,[2]so argumentiert Czollek, dienen in dieser Inszenierung post-NS dazu, die Deutschen um die Bürde der Vergangenheit zu erleichtern. Denn solange sie die ihnen zugewiesene Rolle der gut Integrierten spielten, müssten die Deutschen sich nicht allzu tiefgehend mit der realen Vernichtung des Judentums auseinandersetzen.

Stattdessen, so Czollek, können sie sich als Vergangenheitsbewältigungsweltmeister gerieren und eine „christlich-jüdische Leitkultur“ herbeifantasieren – in Abgrenzung von den gar nicht gut integrierten „Muslimen“. Analog zu Czolleks Juden dienen die Gangster-„Araber“[3]in doppelter Hinsicht dazu, dass Selbstbild der Deutschen[4]zu stabilisieren.

Im deutschen Integrationstheater sind sie die harten Typen mit der weichen Schale. Auf der einen Seite sind sie die toughen, straßengestählten Antisemiten, Frauenschläger und, well, Gangster, die Marvin und Daniel nicht sein dürfen. Auf der anderen Seite treffen sie sich auf Flips und Soft Drinks mit Reportern zu Netflix & Chill, lieben ihre Brüder und dürfen sie, wie im „Blaze“-Video, auch mal anfassen. Da ist es natürlich besonders hilfreich, dass die Traum-Welt der Araber-Clans ebenso frei von Frauenfiguren ist wie die Polizei-Redaktion der Berliner Tageszeitungen. „What can emerge from the omnipresence of men is the absence of women.“

Die Position des Arabers fungiert dabei als ein Vexierbild: als Bild eines Gegenstandes, dessen Konturen die Umrisse zweier spiegelbildlich gesehener Figuren offenbaren. Arabische Männlichkeit ist das, wovon sich der Deutsche abgrenzt – antisemitisch, gewaltsam, frauenfeindlich und gay sind immer die anderen. Und parallel zum Rechtsruck in Parteien und Öffentlichkeit wird diese Abgrenzung von Neukölln TM immer wichtiger: Denn der Ort, der von „Armut, Kriminalität, Islamismus“ gebeutelt wird, verdeutlicht die „verfehlte Integrationspolitik“ – und rechtfertigt im Zweifelsfall, die Schotten ganz dicht zu machen.

Auf der anderen Seite ist die von Weiblichkeit und political correctness bereinigte Welt brüderlicher bis homoerotisch aufgeladener Araber-Clans ein Traumbild. Als weißer Deutscher auch einmal ungehemmt Goldkette tragen und mit einem tiefer gelegten Mercedes um den Kotti fahren, ohne post-ironischen Cloud Rap machen zu müssen? Bring it on.

Dabei ist das dreifach scheiße. Scheiße ist, dass die Kategorie „Araber“ eben keine gelebte plurale Vielfalt im post-migrantischen Deutschland abbildet, sondern meistens ziemlich eindimensional und damit rassistisch ist. Scheiße ist auch die soziale Elendsromantik, die sich „Arab Street Fashion“ aneignet und über die real existierende Armut in den Pariser Banlieues und unter syrischen Geflüchteten am Ende der Berliner Karl-Marx-Straße hinweg sieht. Scheiße ist zuletzt die Verherrlichung einer patriarchalen (Alb-) Traumwelt, in der nach Lust und Laune gemordet und Frauen unterdrückt werden können. Und Rassismus, Klassismus und Frauenfeindlichkeit sind nicht geil. Egal, ob du Boulevard-Reporter bist oder zu häufig „Der Pate" gesehen hast.

 

[1]Max Czollek, Desintegriert euch!, Hamburg 2018, hier S. 124.

[2]Hier meint Czollek nicht die konkreten Juden und Jüdinnen in Deutschland, sondern „die ihnen zugewiesene abstrakte Rolle im Gedächtnistheater”. Czollek 2018, hier S. 15.

[3]Als „Araber“ bezeichne ich, angelehnt an Czollek, nicht die tatsächliche Vielfalt (post-) migrantischer arabischer, kurdischer, türkischer und/oder deutscher Identitäten von Männern, die sich (auch) als Araber identifizieren, sondern die Rolle, die ihnen zugewiesen wird.

[4]Als „deutsch” bezeichnet Czollek eine „Dominanzposition”, die als solche zu bezeichnen relevant ist, solange es „keinen Zentralrat der Deutschen gibt, der sich von Terroranschlägen deutscher Terroristen distanziert (Czollek 2018, 10).

Eva Tepest hat Arabistik und Middle Eastern Studies in Leipzig, Kairo und Lund studiert. Nach beruflichen Stationen in verschiedenen Forschungsprojekten arbeitet sie jetzt als Journalistin und Autorin mit Sitz in Berlin – u. a. für die dis:orient-Kolumne, Adopt a Revolution und verschiedene Zeitungen und Magazine.
Redigiert von Julia Nowecki, Daniel Walter