29.10.2019
„Ich spürte von Beginn an, wie ernst es den Menschen war“
Protestierende campen vor der Märtyrer-Statue im Herzen Beiruts. Foto: Johanna Luther (C)
Protestierende campen vor der Märtyrer-Statue im Herzen Beiruts. Foto: Johanna Luther (C)

Im Libanon demonstrieren Zehntausende weiterhin für grundlegende politische Veränderungen. Eine von ihnen ist Rowina Bou-Harb. Im Interview mit Johanna Luther erzählt die Libanesin von ihren Eindrücken, Forderungen und ihrem Blick in die Zukunft.

Nachdem bekannt wurde, dass die libanesische Regierung eine Steuer auf WhatsApp-Anrufe plante, trieben die immer prekärere Wirtschaftslage und die korrupte politische Elite hunderttausende Libanes*innen landesweit auf die Straße. Knapp zwei Wochen später fordern Demonstrierende weiterhin täglich und friedlich den Rücktritt der Regierung. So auch die 42-jährige Libanesin Rowina Bou-Harb. Die studierte Fotografin und Musikwissenschaftlerin ist während des Bürgerkriegs im Libanon aufgewachsen und hat ihr ganzes Leben dort verbracht. An den Demonstrationen nimmt sie als Privatperson teil.

Was ging Dir durch den Kopf, als Du das erste Mal von den Protesten hörtest?

Ich war auf der Arbeit, als ich in den sozialen Medien vom Entschluss der Regierung las, WhatsApp-Anrufe zu besteuern. Mein erster Gedanke war, dass es sich dabei vielleicht gar nicht um ein ernst zu nehmendes Vorhaben handelt, da die Benutzung von WhatsApp kostenlos ist und die Regierung nicht so einfach über diese Nutzung verfügen kann. Aber dann sah ich, wie Leute anfingen zu posten, dass wir dagegen auf die Straße gehen müssten. Da begann ich zu begreifen, dass die Entscheidung anfing, Wellen zu schlagen.

Wann hast Du Dich entschieden, auf die Straße zu gehen und warum?

Meine Entscheidung zu demonstrieren folgte eher einem intuitiven Gefühl als langen Überlegungen. Ich fühlte, dass es den Menschen ernst war. Gleichzeitig hatte ich Angst, dass die Proteste durch die Regierung und ihre Anhänger*innen schnell wieder entwertet und verspottet würden. Aber glücklicherweise waren die Libanes*innen sich dessen bewusst und gingen trotzdem landesweit auf die Straße. Denn der Grund hinter diesen Protesten ist ein Gefühl, dass die Menschen schon viel länger haben, hervorgerufen durch die vielen Hindernisse, denen sie in ihrem täglichen Leben durch die Abwesenheit eines funktionalen Staates und der grassierenden Korruption ausgesetzt sind.

 privat

Kannst Du das genauer erläutern?

Ein aktuelles Beispiel: In den Tagen vor Beginn der Proteste gab es im Libanon verheerende Waldbrände, insbesondere im Shouf-Gebirge südlich von Beirut. Im Zuge derer wurde den Libanes*innen die Korruption ihrer Regierung erneut sehr deutlich vor Augen geführt. Denn während der Löscharbeiten kam heraus, dass das Budget, welches für die Wartung von drei modernen und gespendeten Löschhelikoptern vorgesehen war, seit Jahren gestohlen wurde.

Die Helikopter konnten daher nicht abheben und die enormen Schäden in den Wäldern verhindern. Stattdessen waren die Menschen gezwungen, sich selbst zu organisieren und die Feuerwehrkräfte, die ohnehin zu erheblichen Teilen aus Freiwilligen bestehen, eigenhändig zu unterstützen. Die libanesische Regierung musste schließlich Notfallunterstützung aus Zypern anfragen; auch Jordanien schickte zwei Löschflugzeuge.

Was war es also, das Dich und viele andere konkret dazu brachte, zu protestieren?

Am Anfang hatte ich keinen konkreten Einzelgrund im Kopf; es gibt unheimlich viele Gründe, warum ich gegen die Regierung protestieren möchte. Vor allem aber war es ein überwältigendes Gefühl von Wut: Ich will, dass diese Politik aufhört. Meine Entscheidung war im ersten Moment also vor allem emotional und weniger rational begründet.

Dann fingen wir an, klarer darüber nachzudenken und Menschen begannen von ihren alltäglichen Kämpfen zu berichten, die ihnen diese Regierung auferlegt. Die noch nicht mal in der Lage ist, grundlegende öffentliche Güter und Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Beispielsweise gibt es für ältere Menschen kein wirkliches Rentensystem. Grundsätzlicher ging es mir darum, dass die Korruption endlich beendet wird.

Was sind nun Deine konkreten Forderungen, für die Du weiterhin demonstrierst?

Das erste und wichtigste Ziel ist, dass die aktuelle Regierung zurücktritt und ersetzt wird. Diese Regierung ist korrupt und tief verstrickt in die gleichen politischen Muster, die wir schon seit dem Bürgerkrieg haben. Das Hauptproblem ist, dass religiöse Zugehörigkeit das politische System nach wie vor enorm prägt und die alten politischen Eliten am Leben erhält. Dass ganze Familienstammbäume libanesischer Politiker*innen, die zum Teil im Bürgerkrieg Parteien formierten, nach wie vor die Politik dominieren, muss aufhören.

Temporär müsste die Regierung meiner Meinung nach durch eine technokratische Expert*innenregierung ersetzt werden, um dann vorgezogene Parlamentswahlen abzuhalten. Im Zuge derer sollte die Religionszugehörigkeit endlich von der Politik getrennt werden. Das muss zeitnah geschehen, damit die Menschen sich noch im Klaren darüber sind, dass nur ein ziviles Bündnis eine derartige Aufgabe meistern kann. Denn die aktuell so starken Emotionen werden schnell verpuffen. Wenn die Wahlen erst viel später anstehen, könnten viele Menschen die Argumente und vor allem auch das Gefühl der Proteste schon vergessen haben.

Nach den ersten zwei Protesttagen setzte der Premierminister Saad al-Hariri eine 72-Stunden-Frist für seine Regierung und präsentierte nach deren Ablauf ein Reformpapier mit verschiedenen Maßnahmen; insbesondere zur Stabilisierung der wirtschaftlichen Situation. Wie schätzt Du diese Reformvorschläge ein, können sie die Forderungen der Bevölkerung erfüllen?

Entscheidend ist nicht, was in diesem Reformpapier steht, sondern dass die Menschen der Regierung grundsätzlich nicht mehr vertrauen. Denn wie kannst Du jemandem vertrauen, dass er innerhalb von 72 Stunden eine Lösung findet, nachdem er dich 30 Jahre lang angelogen hat? Wieso wurden diese Maßnahmen dann nicht schon vorher ergriffen, sondern erst jetzt? Die Politiker*innen haben Angst, ihren Einfluss und ihre Posten zu verlieren, durch die sie auch staatliche Gelder veruntreuen können.

Inhaltlich gibt es außerdem eine ganze Menge Dinge, die in dem Papier überhaupt nicht vorkommen, zum Beispiel die Frage, wie mit all dem umgegangen werden soll, was die politischen Eliten in der Vergangenheit bereits gestohlen haben. Was ist zum Beispiel mit dem gesamten Küstenstreifen oder Beirut Downtown? Korrupte Regierende haben den Menschen ihr Land gestohlen und darauf massenhaft illegal Gebäude errichtet. Menschen, die offensichtlich politisch wie auch moralisch fehlgeleitet sind, führen seit fast 30 Jahren das Land; da kann ein derartiges Reformpapier keine*n mehr überzeugen.

Die Regierung weigert sich bislang allerdings, im Gesamten zurückzutreten und stützt sich dabei auch auf das Argument, es würde sonst ein politisches Vakuum und Chaos entstehen. Das könnte auch die ohnehin schon desolate wirtschaftliche Situation nochmal deutlich verschlimmern, so das Argument. Außerdem hätten die Proteste keinerlei konkreten Konzepte und Repräsentant*innen, die die politische Führung übernehmen könnten. Was hältst Du von diesen Einwänden?

Ich finde das ziemlich billig. Die Politiker*innen tun so, als ob sie unverzichtbar seien, um Angst zu schüren. Sie spekulieren mit diesen Drohgebärden, dass die Leute aufgeben und wieder nach Hause gehen, denn im Grunde haben sie Angst vor den Menschen auf der Straße. Deshalb erzählen sie uns jetzt, wir sollen ihnen noch eine Chance geben, weil wir ohne sie auf eine gefährliche Situation zusteuern. Dabei leben wir schon jetzt mit täglicher Gefahr, denn nichts ist gefährlicher als die desolate Lage des Landes und die steigende Armut. Daran ist die jahrelange Politik der Regierung schuld.

Auch den zweiten Einwand kann ich nicht gelten lassen: Es gibt sehr kompetente Menschen, zum Beispiel libanesische Wissenschaftler*innen und Ökonom*innen, die bereits inhaltliche Vorschläge gemacht haben, wie wirtschaftliche und politische Veränderungen erzielt werden können. Die aktuellen Politiker*innen sind selbst überhaupt nicht kompetent für ihre Aufgabenbereiche. Minister*innen kommen auf korrupte Weise ins Amt, Menschen werden aufgrund ihrer Beziehungen und nicht aufgrund ihrer Kompetenz eingestellt; dieses Argument kann also nicht überzeugen.

Welchen Einfluss haben die Proteste auf den Alltag der Menschen?

Einen enormen Einfluss! Die gesamte letzte Woche waren Schulen, Universitäten, Banken und viele weitere Einrichtungen und Geschäfte geschlossen. Die Hauptverkehrsadern in und zwischen den Städten werden immer wieder von Protestierenden blockiert; ich habe selbst an einem spontanen Konzert mitten auf einer großen Kreuzung in Beirut teilgenommen. Viele Menschen gehen täglich stundenlang auf die Straße, einige campen auf den Plätzen – die Proteste haben eine überragende Präsenz und sind sehr real für die Menschen.

Letzten Samstag waren über ein Fünftel der gesamten Bevölkerung auf der Straße. Wie fühlt es sich an, Teil eines derartigen Protests zu sein?

Nach der WhatsApp-Entscheidung war klar: Das war’s jetzt; ihr habt den Bogen endgültig überspannt. Es hat sich das erste Mal wirklich echt angefühlt. Es ist tatsächlich die libanesische Bevölkerung, die spontan auf die Straße geht. Diese Proteste sind nicht voreingenommen oder von einer bestimmten politischen Richtung eingefädelt. Die Wut, die sich aus unseren täglichen Erfahrungen speist, ermöglicht es all diesen Menschen, ihre Zugehörigkeiten, seien sie politisch oder religiös, zur Seite zu schieben und gemeinsam zu demonstrieren.

Für mich persönlich war dieses Gefühl von Wut sehr intensiv. Ich will, dass die Regierung zurücktritt. Es reicht! Und ich meine das ernst. Wenn man das laut ausspricht, schlägt das Herz direkt viel schneller. Man spürt eine Verantwortung, für die Sache einzustehen. Ich habe mit meinen Freund*innen noch nie so viel und so lange über Politik gesprochen wie seit Beginn der Proteste. Die Menschen ermutigen sich gegenseitig.

Was Du gerade beschrieben hast, sind ja in erster Linie die Dynamiken auf den Demonstrationen selbst. Denkst Du, dass diese Erfahrungen auch über die Proteste hinaus etwas verändern werden?

Dieses neue Gefühl der Libanes*innen, wirklich zusammenzustehen, hat schon jetzt etwas verändert. Denn wer auch immer die Macht übernimmt – sofern wir es denn schaffen, dass die aktuelle Regierung zurücktritt –, muss sich im Klaren sein, dass die Menschen die neue Führung sehr kritisch beobachten werden und sich auch gegen sie gemeinsam erheben könnten. Die Menschen haben ihre Angst vor der politischen Führung überwunden. Es war die ersten Tage ein völlig unglaubliches Gefühl, dass all diese Menschen ihren politischen Hintergrund beiseitegelassen haben und Menschen aus ganz unterschiedlichen politischen oder religiösen Lagern und sozialen Schichten auf einmal gemeinsam demonstrierten. Die Proteste haben die Libanes*innen zusammengebracht – politisch und auch ganz real auf der Straße.

Wie geht es nun weiter?

Ich denke, es ist wichtig zu verstehen, dass diese Protestbewegung noch viele unterschiedliche Stadien durchlaufen muss, um wirklich grundsätzliche und anhaltende Veränderungen erzielen zu können. Zum Beispiel haben Künstler*innen angefangen, sich stärker in die Proteste einzubringen. Viele Studierende und Lehrende sind in den Streik getreten und unterrichten stattdessen auf den Straßen, am Ort des Geschehens. Unheimlich viele Menschen sind in den sozialen Medien aktiv.

Wir brauchen diese unterschiedlichen politischen Formen, denn wir können diesen intensiven Straßenprotest nicht ewig aufrechterhalten. Um den unterschiedlichen Stimmen innerhalb der Proteste Gehör zu verschaffen und Dialoge zu befördern, benötigen wir daher vielfältige Kanäle. Das wird uns noch viel Zeit und Kraft kosten.

Johanna studiert im Master Religion & Kultur sowie Jura in Berlin. Zuvor lebte sie zwei Jahre zum Studium in Beirut und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit transregionalen Themen zwischen Europa und WANA. Dabei interessiert sie sich für interdisziplinäre Herangehensweisen zwischen Rechts- und Sozialwissenschaft und Möglichkeiten des...
Redigiert von Maximilian Ellebrecht, Diana Beck