08.11.2019
Narrative, die ins eigene Weltbild passen

Was für arabische Literatur wird ins Deutsche übersetzt – und warum? Eindrücke arabischer Schriftsteller*innen und deutschsprachiger Literaturübersetzer*innen. Von Leonie Nückell

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne Des:orientierungen. Alle Texte der Kolumne findest du hier.

„Bei Lesungen in Deutschland habe ich öfter das Gefühl, von mir werden bestimmte Themen erwartet, ein bestimmter Stil. Diese Erwartungshaltung ist orientalistisch“, so der palästinensische Dichter Ghassan Zaqtan Ende Oktober in Berlin. Dort war er als Schirmherr der zweiten Arabisch-deutschen Literaturtage, die dieses Jahr unter dem Titel „Verfemte Sprachen“ stattfanden.

Wenig später kommentierte der in Damaskus geborene und jetzt in Berlin lebende Lyriker, Liedtexter und Journalist Fady Jomar andersherum: Exilliteratur nähere sich in Sprache und Themen immer mehr einem Usus, der westliche Vorstellungen bediene, um übersetzt zu werden. Auch er kritisiert diese Selbstanpassung als orientalistisch.

Dass beide Erfahrungsberichte die Wechselwirkung zwischen Autor*in und Leser*innenschaft als problematisch wahrnehmen, ist interessant. Als Literaturübersetzerin führt mich das zu der Frage: Was erwartet ein Publikum in Deutschland von arabischer Literatur?

Arabische Literatur mal ganz praktisch

Zunächst einmal ist der Ausdruck „arabische Literatur“ irreführend bis verzerrend. Denn darunter wird nicht nur arabischsprachige Literatur gefasst, sondern ebenso arabische Autor*innen, die in einer anderen Sprache schreiben, sowie Exilliteratur. Und dabei haben wir noch nicht darüber nachgedacht, wer eigentlich „arabisch“ ist.

Zu arabischer Literatur zählt die frankophone, in eine Berberfamilie in Algerien geborene Schriftstellerin Assia Djebar. Ebenso der eingangs erwähnte Exilliterat Fady Jomar sowie die diesjährige Gewinnerin des Man-Booker-Preises Jokha Alharthi – ihr Roman war der erste von einer omanischen Schriftstellerin ins Englische übersetzte. 

Nach verbreiteter Zählung gibt es 22 arabische Staaten. Das meint, dass Arabisch dort Amtssprache ist, der Islam praktiziert wird und eine Mitgliedschaft in der Arabischen Liga besteht. Um das Ganze etwas genauer zu fassen: Die sogenannte arabische Welt umfasst ein Gebiet von etwa 13 Millionen Quadratkilometern und ist damit zweieinhalb Mal so groß wie die EU. Dieses Gebiet wird von knapp 420 Millionen Menschen bewohnt.

Es ist schwierig, Schätzungen zur Anzahl praktizierter Religionen zu finden. Allein im Libanon gibt es 18 anerkannte Religionsgemeinschaften. Gesprochene Sprachen sind kaum zu zählen. Für den Sudan listet Wikipedia ganze 24 – ohne die zweite Amtssprache Englisch.

Bis 2015 wenig übersetzt

Arabische Literatur sollte also in etwa so vielfältig sein, wie die gesamten Literaturen Europas bis in die Mongolei. Tatsächlich macht der arabische Büchermarkt in Deutschland eher den Eindruck, es handele sich um eine Region der Größe Dänemarks. Die mittlerweile eingestellte arabischsprachige Zeitschrift des Goethe-Instituts „Fikrun wa Fann“ zählte 2004 rund 400 übersetzte Titel. Davon sind über die Hälfte im Original nicht auf Arabisch verfasst worden. Zum Vergleich: 2015 sind in Deutschland 76.547 Titel in Erstauflage erschienen.

Übersetzer*innen aus dem Arabischen beklagen immer wieder, wie wenig Interesse von Verlagen gezeigt wird. 2016 kritisierte der wohl bekannteste Literaturübersetzer Hartmut Fähndrich in der NZZ, dass das Interesse vor allem der großen Verlage meist zu kurzfristig sei: „Begründet wird diese Haltung damit, dass im Verlag ja niemand das Original lesen und beurteilen könne, und was man davon kenne, sei nicht schmissig genug. Junge Autorin mit einer knackigen Liebesgeschichte und natürlich etwas politischer, bei uns korrekter Kritik, darüber liesse sich reden. Dies ist leider kein erfundenes Beispiel.“

Aus Erzählungen und eigener Erfahrung weiß ich, wie schwer es ist, einem Verlag einen Titel zu vermitteln. Dabei könnten die Übersetzer*innen die Lücke der mangelnden Sprachkenntnisse schließen. Auftragsarbeiten richten sich oft nach Werken, die bereits in eine andere europäische Sprache übersetzt wurden. Manchmal reicht allein, dass ein europäisches Verlagshaus die Rechte an einem arabischen Roman erworben hat. Das Vertrauen, dass deutsche Verlagshäuser dabei in den englischen oder französischen Büchermarkt setzen, ist also höher als in Menschen, die sich seit Jahrzehnten eingehend mit der Literaturszene beschäftigen.

Tatsächlich berichten Übersetzer*innen, dass sich die Auftragslage seit 2015 verbessert hat. Verdienstvolle Projekte wurden verwirklicht, wie zum Beispiel die Initiative Weiter Schreiben“, in der Autor*innen aus Krisen- und Kriegsgebieten gefördert und übersetzt werden. Nach Fähndrich waren aber „[die] Anfragen von Verlagen nach ,dem‘ Revolutionsroman drei Monate nach Beginn der ägyptischen Revolte im Januar 2011 ebenso absurd wie diejenigen nach ,dem‘ Roman über die Flüchtlingsbewegung vom Herbst 2015.“ Hier zeigt sich die Forderung, zu liefern, was gerade verlangt wird.

Abgesehen davon, dass Literatur sich nicht für schnelle Erklärungen eignet, scheint das flüchtige öffentliche Interesse an dramatischen Ereignissen Motor der Verlagsentscheidungen zu sein. Kann in so einer Situation ein geflüchteter syrischer Poet von etwas anderem dichten als vom Krieg? Ist es einer irakischen Schriftstellerin möglich, von etwas anderem als ihrer Emanzipation aus der Unterdrückung zu erzählen? Kann ein tunesischer Roman von etwas anderem als der Gewalt der Geheimdienste während der Revolution handeln?

Literatur ist eine wichtige Quelle für Innenperspektiven. Und gerade im arabischsprachigen Raum ist literarisches Schreiben oft mit politischem Engagement verknüpft worden. Hier liegt ein großartiger Fundus bereit, um Ereignisse und Entwicklungen der Vergangenheit zu verstehen. Doch wie viel Exotik braucht ein arabischer Roman, um in Deutschland gelesen zu werden?

Noch 2004 stellte der Arabist Andreas Pflitsch bei Verlagen und Publikum eine gedankliche Verknüpfung orientalistischer Stereotype und arabischer Literatur fest: „Die Erwartungshaltung des westlichen Publikums wird von den Verlagen bereitwillig bedient. Selten widersteht man der Versuchung, verkaufsfördernde Exotik in Form von Palmen, Kamelen oder verschleierten Frauen auf die Umschläge der Bücher zu drucken, auch wenn der Bezug zum Text zumeist höchst rätselhaft – also hier wirklich: schleierhaft – bleibt.“

Immerhin, ein Blick in die Onlinebuchhandlung Alam al Kutub zeigt: Das scheint sich zumindest zu ändern. Natürlich ist stets die ein oder andere Kalligraphie dabei, aber es stehen durchaus moderne Gestaltungen daneben. Mit Blick auf die Kritik Zaqtans und Jomars bleibt die Frage trotzdem berechtigt: Wie „fremd“ muss arabische Literatur klingen?

Sprachrohr für wen?

Offen bleibt auch, wer eigentlich für wen sprechen soll. Die syrische Schriftstellerin Dima Wannous meint, Literatur repräsentiere in Syrien hauptsächlich die Eliten, seltener die Menschen, die tatsächlich auf die Straße gingen und die jetzt den Krieg erlebten, weil sie nicht die Möglichkeit hatten zu fliehen: „Die meisten Intellektuellen und die Eliten bekommen nicht aus erster Nähe mit, was in ihrem Land vor sich geht. Wie sollten sie dann darüber schreiben, was passiert? Und hat es etwa seine Richtigkeit, die Geschichten jener Helden zu stehlen und darüber im Café oder zuhause zu schreiben, Krokodilstränen zu vergießen und dann wieder in das ,normale‘ Leben zurückzukehren, welches die meisten von uns führen?“

Die Lage ist also kompliziert für den arabischen Literaturkanon in Deutschland. Sollte sich die literarische Willkommenskultur halten, dürfen wir zumindest weiter mit guter Exilliteratur rechnen. Die Aussichten bald einen Science-Fiction-Roman aus Katar zu lesen, stehen aber eher schlecht.

Leonie hat Arabistik, Islamwissenschaft und Soziologie in Bochum, Hamburg und Leipzig studiert. Ihr Bezug in die Region ist vor allem durch einen zweijährigen Aufenthalt in Tunesien geprägt. Zurzeit arbeitet sie als wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Ethnologie der Universität Leipzig und als freie Literaturübersetzerin. Bei Alsharq...
Redigiert von Eva Tepest, Maximilian Ellebrecht