03.10.2019
Revolution der Arbeitslosen
Proteste am 1. Oktober in Bagdad. Foto: Privat.
Proteste am 1. Oktober in Bagdad. Foto: Privat.

Seit zwei Tagen protestieren tausende Menschen im Irak. Was treibt sie auf die Straße?  Dis:orient hat mit einem der Aktivisten aus Bagdad gesprochen – bis die Regierung das Internet abstellte. Von Ansar Jasim

In den letzten Monaten gab es immer wieder kleinere Proteste im Irak, nun gibt es seit Tagen Massenproteste. Kannst du uns mehr zu den Hintergründen erklären und wie es dazu kommen konnte?

Es gibt viel angestaute und anhaltende Wut im Irak. Wir haben eine hohe Arbeitslosigkeit, aber keinen Schutz für Arbeitslose. Es gibt keine Lösungen von politischer Seite dafür. Unser politisches System ist zum Scheitern verurteilt und unsere politischen Wahlen auch. Das muss man wissen, bevor man sich anschaut, was jetzt passiert.

Vor eineinhalb Monaten hat die Mardschaʿiya[1] zu Protesten eingeladen, aber niemand hat darauf reagiert. Kurze Zeit später hat dann eine andere Gruppe, Tayyar al-Hikma[2], ebenfalls zu Protesten aufgerufen, und die Fraktionen der Hashd Al-Shaabi[3] ebenso. Aber darauf wurde auch nicht wirklich reagiert. Selbst die Menschen im Süden des Irak, wo der Hashd Al-Shaabi sehr populär ist, sind diesen Aufrufen nicht gefolgt.

Die Sache ist aus meiner Sicht in Zusammenhang mit der Reise des Ministerpräsidenten Adil Abd Al-Mahdi nach China zu sehen: Er hat dort wirtschaftliche Verträge mit China zum Aufbau des Irak abgeschlossen und die Milizen der Hashd Al-Shaabi hatten Angst, daran nicht ausreichend beteiligt zu werden.

Wie hat sich die Situation dann so zugespitzt, dass es zu den Massenprotesten am Dienstag kam?

Nach den Demonstrationen in Ägypten gegen Machthaber al-Sisi, haben einige Arbeiter*innen, Arbeitslose, zivile Aktivist*innen und Linke gesehen, dass jetzt eine Chance besteht, Leute mobilisieren zu können. Warum gehen wir nicht auch auf die Straßen? Das waren keine Solidaritätsdemonstrationen mit Ägypten, aber die Leute haben ihren Mut von den Ägypter*innen genommen. Es wurden also individuelle Aufrufe verbreitet, am Dienstag den 1. Oktober zu Protesten auf die Straße zu gehen.

Haben dich diese Massenproteste überrascht?

Nein, seit sechs Monaten gibt es verschiedene Proteste und Sit-Ins von den frischen Uni-Absolvent*innen, die eine Anstellung beim Staat verlangen. Die irakische Regierung hat dann am zweiten Tag der Proteste in Ägypten begonnen, die Proteste in Bagdad mit Gewalt auflösen zu wollen. Das hat total viel Wut bei den Bewohner*innen in Bagdad ausgelöst und hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Parallel dazu wurde der stellvertretenden Leiter der Irakischen Anti-Terror Einheit Abdel-Wahab Al-Saadi – dem Iraqi Counter-Terrorism Service, kurz: ICTS – entlassen. Das ist jemand, der zum einen recht populär ist, weil er sich bewiesen hat im Kampf gegen Daesh [abwertende Bezeichnung für die Terrorgruppe „Islamischer Staat“, Anm. d. Red.]. Zum anderen gilt er als nicht-konfessionalistisch und genießt deswegen viel Beliebtheit. Auch deswegen lag seine Entlassung im Interesse des Iran.

Das heißt es gibt mehrere Gründe für die jetzigen Proteste: die anhaltende Unzufriedenheit mit der sozialen Situation, das Vorbild Ägypten, die Unterdrückung der Proteste der Absolventen*innen und zuletzt die Entlassung von Abdel-Wahab Al-Saadi.

Die Menschen wollen nicht, dass Abdel-Wahab Al-Saadi sie regiert oder so. Sie wollen auch nicht, dass das Militär eine wichtige Rolle einnimmt. Aber sie wollen keine Willkür. Sie wollen den Sturz des Regimes und den Aufbau eines besseren Systems. Die Idee eines „zivilen Staates“ hat bei vielen an Glaubwürdigkeit verloren, auch wenn die Leute genau das wollen.

Was meinst du damit?

In der Vergangenheit haben viele Gruppen das Wort „zivil“ benutzt und es somit bedeutungsleer gemacht. Die Aktivist*innen konnten die Idee des „Zivilen“ nicht mit Inhalt füllen. Die Leute wollen einen Wandel. Es handelt sich gerade um populären Massenprotest, nicht um Politaktivist*innen, die deutlich formulieren, was sie fordern. Die Menschen wollen Lösungen, sie wollen ein Ende der Korruption und des konfessionalistischen Systems. Sie wollen, dass der Ministerpräsident zurücktritt. Sie wollen Arbeitsplätze, sie wollen simple Dienstleistungen und Freiheiten.

Warum sind die Menschen an einem Dienstag auf die Straßen gegangen und nicht an einem Freitag?

Sie haben sich dazu entschieden, gerade weil es kein Freitag ist. Vor allem die Sadrist*innen und die Kommunist*innen hatten freitags zu Protesten aufgerufen. Die Demonstrant*innen wollten sich jetzt anscheinend davon distanzieren. Zweitens, wollten sie auch ganz einfach zeigen, dass sie arbeitslos sind und genau deswegen eben an einem Wochentag protestieren können.

Wer macht bei diesen Protesten mit?

Die Protestierenden kommen aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen und Schichten und vor allem aus ganz Bagdad. Später gab es dann auch Proteste in vielen Städten des Irak. Die große Mehrheit bilden aber die Arbeitslosen. Am 1. Oktober war es morgens eigentlich eher eine kleine Demonstration. Ab circa 15 Uhr wurde die Demonstration immer größer, wir waren Hunderttausende. Die Regierung hat extrem brutal reagiert: am ersten Tag wurden drei Menschen getötet und 1.600 verletzt. Außerdem wurden die Protestierenden von den Sicherheitskräften bis in ihre Heimatviertel verfolgt. Daraufhin haben sich die Protestierenden in ihren Bezirken zurückgezogen und Reifen angezündet, um die Sicherheitskräfte davon abzuhalten, in die Bezirke einzudringen.

Was sind zentrale Orte des Protests und warum?

Am zweiten Tag, also dem 2. Oktober, sind massenweise Menschen in Richtung Tahrir-Platz gekommen. Der Tahrir-Platz ist ein Symbol für uns, wie in Ägypten, als Ort des Massenprotests. Es waren aber weniger Teilnehmer*innen als am Vortag. Sie wurden von den Regierungskräften mit beispielloser Gewalt konfrontiert. Es wurde scharfe Munition benutzt und selbst Panzer wurden aufgefahren. Das Militär wurde in Bagdad gegen die Zivilist*innen eingesetzt.

Derzeit gibt es also Proteste sowohl auf dem zentralen Tahrir-Platz als auch in den Bezirken selbst. Angespornt von diesen Protesten sind dann auch Menschen in anderen Gebieten des Irak auf die Straße gegangen. In Maisan, in der Nähe von Nadschaf, wurde das Provinz-Rathaus angezündet. Der Sitz der Badr-Milizen und der Milizen der Dawa-Partei wurden ebenso angezündet. In Basra halten die Massengroßdemonstrationen an.

Bei den anhaltenden Massenprotesten in der südirakischen Stadt Basra gab es im vergangenen Jahr eine große Beteiligung von Frauen. Ist das auch dieses Mal so?

Es beteiligen sich auch Frauen, aber leider nicht sehr viele. Einige Feminist*innen haben am 2. Oktober mit uns am Tahrir-Platz protestiert, wurden aber ebenso mit Gewalt vom Staat konfrontiert. Auch in Nadschaf waren Frauen bei den Protesten mit dabei

Wie organisieren sich Demonstrant*innen derzeit?

Es gibt keine Partei oder Gruppe, oder irgendeinen Führer, der die Proteste anführt. Das sind populäre Massenproteste. Einige Intellektuelle, zivile Aktivist*innen und auch Gruppen wie die „zivilen Koordinationskomitees“, die sich im Laufe der vergangenen Proteste, vor allem in Basra, gegründet hatten, haben die Proteste solidarisch unterstützt, aber nicht angeführt. Das heißt es gibt derzeit auch keine wirkliche Proteststrategie. Diese Demonstrationen sind ziemlich natürlich entstanden. Ich nehme an, dass sie sich in die ärmeren Viertel zurückziehen werden und dann zu Methoden des zivilen Ungehorsams übergehen werden.

Wer unterdrückt die Proteste und wie?

Es sind das Militär und die Anti-Riot-Einheiten, welche die Proteste unterdrücken. Sie sind nicht in zivil verkleidet, sondern tun dies in ihrer offiziellen Kleidung. Anders als etwa in Ägypten, haben wir in Ägypten keine Baltajiya, also in zivil gekleidete Schlägertrupps, die auf die Demonstrant*innen losgehen.

Die Proteste werden mit scharfer Munition, mit Rauchgranaten und Tränengas konfrontiert. Die Verhaftungen haben direkt von der Straße stattgefunden, die Menschen werden also nicht aus ihren Häusern mitgenommen. Circa 2.000 Menschen wurden festgenommen und in die Gefängnisse gebracht, sie verschwinden hoffentlich also nicht einfach.

Wie schützen sich die Protestierenden?

Sie benutzen Hefe, Essig und Pepsi gegen das Tränengas und versuchen nasse Tücher auf die Tränengaskanister zu werfen, damit sich das Gas nicht ausbreitet.

Was hat dich an diesen Protesten teilnehmen lassen?

Ich habe gesehen, dass es vor allem Arbeitslose sind, die protestieren und ihre Rechten einfordern. Ich selber bin auch arbeitslos. Ich stehe zudem vollkommen hinter den Forderungen: eine komplette Veränderung unseres jetzigen Systems und ein aktiver Kampf gegen die Korruption, die Bereitstellung von Arbeitsplätzen und einer Art Arbeitslosenversicherung – so etwas haben wir ja nicht.

Was sind deine Erwartungen an die nächsten Tage?

Ich habe nicht die Erwartung, dass die Regierung auf die Forderungen reagiert, weil es gar nicht in ihrer Hand liegt. Das Thema ist viel größer und tief politisch. Im Irak spielen imperialistische Interessen und die Teilhabe an und Ausbeutung von Ressourcen noch immer eine Rolle.

Von wem erhofft ihr euch Unterstützung?

Wir brauchen die Unterstützung internationaler Menschenrechtsorganisationen, insbesondere von den Vereinten Nationen und Amnesty International. Wir haben ja jetzt etliche politisch Inhaftierte. Darum muss sich gekümmert werden.

Wir brauchen die mediale Aufmerksamkeit für das, was hier passiert. An alle, die sich für den Irak und die Proteste hier interessieren: Werft ein Auge auf uns, redet mit uns, unser Recht zum Protest muss geschützt werden!

 

[1] Oberste Autorität für Schiiten im Irak. Setzt sich für freie Wahlen im Irak ein und steht dem iranischen politischen Model des „Welayat-e Faqih“ („Statthalterschaft des Rechtsgelehrten”) kritisch gegenüber.

[2] Die National Wisdom Movement wurde 2017 von Ammar Al-Hakim, ehemaligem Anführer des Islamic Supreme Council of Iraq (ISCI) gegründet mit dem Anspruch eine nicht islamische, nationale Bewegung zu gründen.

[3] Volksmobilmachungskräfte bestehend aus schiitischen Milizen, die inzwischen offiziell unter Kontrolle des Innenministeriums stehen.

Redigiert von Anna-Theresa Bachmann, Maximilian Ellebrecht