15.12.2023
Von Kandahar bis Gaza
„Meine Texte erinnern an wiederkehrende Kapitel eines einzigen Buches.“
„Meine Texte erinnern an wiederkehrende Kapitel eines einzigen Buches.“

Es existieren Parallelen in der selektiven Anwendung der Menschenrechte für Afghanistan, Palästina und den Globalen Süden. Das zeigt Gemeinsamkeiten von Gleichgültigkeit auf, findet Mina Jawad.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Seit über einem Jahr schreibe ich, dass Afghanistan in der Berichterstattung nicht genügend Aufmerksamkeit erhält. Und wie ein Mantra seit über zwei Jahren, dass die Hungersnot in Afghanistan immer noch anhält. Immer noch ist Frauen und Mädchen der Zugang zur höheren Bildung verwehrt. Und als wäre das nicht schlimm genug, trafen Afghanistan im Oktober gleich mehrere schwere Erdbeben. Über 2000 Menschen kamen dabei ums Leben, ganze Dörfer wurden dem Erdboden gleich gemacht und über 100.000 Menschen sind von den Auswirkungen der Beben betroffen. Nicht einmal einen Monat danach hat die pakistanische Regierung alldem die Krone aufgesetzt: „Undokumentierte“ afghanische Geflüchtete müssen nach Afghanistan zurückzukehren – dürfen ihr Vermögen aber nicht mitnehmen. Fast 400.000 Menschen sind „zurückgekehrt“, Tausende leben nun als Binnengeflüchtete unter widrigsten Bedingungen, ohne Hab, Gut und Obdach hinter der afghanischen Grenze. Einer weiteren Million droht dasselbe Schicksal.

Auf die anhaltend unwürdigen Bedingungen in Afghanistan aufmerksam zu machen, ist frustrierend. Als seien die Mädchen und Frauen, denen der Zugang zur Bildung verwehrt ist, sowie die Opfer der Erdbeben, des Hungers und der Abschiebungen nur Zahlen. Nur Ereignisse, die zur Kenntnis genommen werden können. Wenn überhaupt. Frustrierend ist außerdem, dass die wenigen Möglichkeiten, überhaupt darüber zu schreiben, wenig Raum dafür lassen, Perspektiven einzubringen. Es scheint mir, als sei ich vorwiegend damit beschäftigt zu berichten oder Erzählungen zu entzerren. Aber ich weiß auch, dass in Zeiten unterdrückter Wahrheiten ungehörte Geschichten innerhalb dieser Wahrheiten unweigerlich zu kurz kommen.

Meine Texte erinnern an wiederkehrende Kapitel eines einzigen Buches. Dies liegt nicht an einem Stillstand Afghanistans oder an einer Unbeweglichkeit der Bevölkerung. Der wahre Grund ist, dass Afghanistan und seine Menschen nie das Privileg der Selbstbestimmung erfahren durften. Eine Wahrheit, die lange vor mir, im ersten Kapitel erzählt und nicht gehört wurde. Die Forderung nach neuen Geschichten scheint mir derart perfide, als sei die Welt gelangweilt von den Grundbedürfnissen des Globalen Südens. Als bräuchten wir leichte Lektüre um Betroffene als Menschen zu sehen. Als würde der Globale Norden nicht selbst ständig die gleiche Platte der Ausbeutung abspielen.

Es wäre allzu leicht, in dieser Spirale aus Leid und Verlust, vielleicht sogar Hoffnung, in der sich Afghanistan befindet, bloß ungehörte Geschichten zu erzählen – Geschichten, die zwar ergreifend sind, aber letztlich nur als journalistische rhetorische Fingerübungen dienen. Geschichten, die so glatt und konsumierbar sind, dass sie kaum herausfordern. Doch in diesen Zeiten des Vergessens, in diesen Tagen, wo das Gedenken so flüchtig ist wie Morgennebel, wäre es mehr als nur perfide, mich auf bloße Symptome zu konzentrieren, während die tief verwurzelten Ursachen weiterhin ihren zerstörerischen Tanz aufführen. Afghanistans heutige Symptome sind ein Echo globaler Versäumnisse. Eine Geschichte von Profit und Macht, in der der Globale Norden nicht Zuschauer, sondern Profiteur ist. Die Probleme Afghanistans sind nicht in einem Vakuum entstanden. Sie sind das Produkt eines globalen Systems, das Ungleichheit und Ungerechtigkeit nährt.

Aus „War on Terror“ nichts gelernt

Davon wollen Profiteure ausländischer Invasionen und 20 Jahre Okkupation wenig wissen. Verfeindete afghanische Lager verschiedener Taliban-Gegner:innen bezichtigen sich gegenseitig; oder suchen die Schuld für die heutige Misere beim innerafghanischen politischen Gegner oder einzig und allein bei den Nachbarländern, bevorzugt Pakistan. Dass die USA 20 Jahre später zugibt, dass es bei der Invasion in Afghanistan nie um Demokratie und Frauenrechte ging – eine Behauptung, die nach 9/11 noch über fast zwei Jahrzehnte als Verschwörungstheorie diffamiert wurde – wird dabei gerne ausgespart.

Demnach ist es nicht nur unzureichend, sondern geradezu Heuchelei, die Leiden der Palästinenser:innen auszusparen. Die jüngsten Angriffe der Hamas, die am 7. Oktober 2023 unschuldige israelische Zivilist:innen ermordeten, als alleinigen Auslöser für das Leiden auszumachen, ist ebenso irreführend wie die Lage Afghanistans als Folge der Angriffe des 11. Septembers 2001 zu reduzieren.

Die Parallelen zu Rhetorik, Berichterstattung und Rationalisierung jeglicher Repression sind derart offensichtlich, dass es wehtut. In welchem Verhältnis standen die „Gegenangriffe“ und Rache für 9/11? Das wissen Iraker:innen und Afghan:innen besonders gut. In Zeiten unterdrückter Wahrheiten wäre es eine Farce, wenn wir 20 Jahre Kriegsverbrechen in Afghanistan und Irak beklagen, nur um dann zu schweigen, wenn sich die Geschichte woanders wiederholt. Die Parallelen sind so offensichtlich, dass sie keiner weiteren Erklärung bedürfen sollten. Eigentlich.

Auch die Anschuldigungen und Diffamierungen gegen jene, die für die Würde und Rechte der Palästinenser:innen eintreten sind nicht neu. Vorwürfe des Islamismus und von Verschwörungstheorien gab es auch im Zuge vom „War on Terror“ haufenweise. Ein Generalverdacht gegen muslimisch und arabisch gelesene Menschen: gegen alle, die sich nicht uneingeschränkt mit den USA solidarisierten oder wie auch immer nicht eindeutig genug von den Angriffen des 11. September distanzierten.

Wesentlich drastischer und entscheidender haben vor allem die Bevölkerungen von Afghanistan, Syrien, Irak und Jemen einen hohen Preis gezahlt. Seit dem 11. September sind schätzungsweise 4,5 Millionen Menschen in „Kriegszonen“ ums Leben gekommen, 38 Millionen Menschen sind vertrieben worden. Weitere Folgen bestanden im Aufstieg des IS und der Rückkehr der Taliban. Dass es nie um Krieg gegen den Terror, Demokratie und Frauenrechte ging, stellte sich nicht als Verschwörungstheorie heraus, Osama bin Laden wurde nicht in Afghanistan gefunden und die irakischen Massenvernichtungswaffen bis heute nicht. Plot-Twist: Es gab sie nie.

Der Widerstand gegen die unmenschliche Politik und Kriegsverbrechen der USA war keineswegs eine Billigung der Anschläge vom 11. September. Warum also sollte die Verteidigung der Würde der Palästinenser:innen als Unterstützung des Angriffs vom 7. Oktober angesehen werden?

Ein swipe zwischen Katzenvideos und Überlebenskampf

Die Behauptung, man würde sich nicht ausreichend mit den israelischen Opfern solidarisieren, ist bodenlos und übersieht die eigene Heuchelei: Israelische Opfer werden zu Recht als Individuen betrachtet, während Palästinenser:innen zu bloßen Zahlen degradiert werden, entmenschlicht mit derselben Rhetorik, die auch Afghan:innen und Iraker:innen erfahren haben. Des Weiteren liegt auch eine moralische Armutserklärung darin, die Angaben zu den Todesopfern auf palästinensischer Seite als „Hamaszahlen“ zu diskreditieren, obwohl die WHO im Wesentlichen die Zahlen bestätigen kann. Darüber hinaus: Ist etwa nicht jedes Opfer eines zu viel? Die Zahl palästinensischer Todesopfer hat 17.000 überschritten. Während institutionelle Beobachter:innen der Vereinten Nationen vor einem drohenden Genozid warnen, spricht der Professor für Genozidstudien Raz Segal von einem „Lehrbuchbeispiel eines Genozids“.  Ganz im Gegensatz zum dominanten öffentlichen Diskurs im globalen Norden, allen voran Deutschland, der es sich verbittet, den Begriff Genozid in Betracht zu ziehen.

Hinzu kommt, dass die Forderung und Erwartung an die Menschen, die unter Generalverdacht stehen, sich von der Hamas zu distanzieren, der selben Logik folgt, welche alle zivilen Opfer der 9/11-Kriege kollektiv in Sippenhaft nimmt und zu „Kollateralschaden“ verklärt: Man ist kein Individuum, sondern kollektiv verantwortlich und muss sich daher distanzieren.

Ebenfalls Gegenstand der Forschung ist, dass Menschen im globalen Süden ihrer rechtlichen Schutzmaßnahmen und Rechte beraubt werden – als verzichtbar oder außerhalb des Schutzes des internationalen Rechts angesehen werden – was zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen und humanitären Krisen führt. Solche, in denen sich die Palästinenser:innen und Afghan:innen befinden.

Menschenrechte scheinen für den Großteil der Bevölkerung des globalen Südens nicht zu gelten. Und das Völkerrecht nicht für alle. Das, was in Afghanistan und Palästina geschieht, und jede Ungerechtigkeit, die den Bevölkerungen des globalen Südens widerfährt, liegt daran, dass die universellen Menschenrechte alles andere als universell sind. Während 75. Jahre der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gefeiert werden, stellt sich die Frage, für wen diese gelten? Während Palästinenser:innen aus Gaza ihren eigenen Überlebenskampf inmitten der Angriffe der israelischen Armee dokumentieren, ist es eine Frage des Algorithmus und viel mehr der eigenen Entscheidung, ob wir auf sozialen Medien zwischen Katzenvideos und Make-up-Tutorials durch Videos von Menschenrechtsverletzungen scrollen. Der Globale Norden beharrt darauf, dass das Töten notwendig sei, um das Morden zu stoppen. Die Kipppunkte des dystopischen Daseins sind längst überschritten. Und nichts daran ist unterhaltsam. Es ist einfach nur ekelhaft.

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

 

 

Mina Jawad ist freie Autorin. Sie befasst sich mit der Konstruktion von Raum, Gender und ihren Wechselwirkungen. Ihre Schwerpunkte liegen in postkolonialer Analyse in Kunst, Kultur und Gesellschaft. Mina Jawad is a freelance writer. She works on the construction of space, gender and their interactions. Her work focuses on postcolonial analysis in...
Redigiert von Sophie Romy, Regina Gennrich