03.07.2020
„1984“ aus Ägypten
Quelle: Pixabay
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Basma Abdel Aziz ist ägyptische Schriftstellerin, Menschenrechtsaktivistin und Psychiaterin. Ihr dystopischer Debütroman „Das Tor“ sorgte in Ägypten bereits 2013 für Furore. Nun ist er auf Deutsch erschienen.

Dies ist ein Beitrag unserer Reihe Re:zension. Seit Mai 2018 stellen wir regelmäßig ein neu erschienenes Buch vor, das wir für besprechenswert halten. Wenn Ihr Vorschläge für solche Werke habt oder mitmachen wollt, schreibt uns gerne an [email protected].

„Das Tor“ von Basma Abdel Aziz ist etwas Besonderes auf dem Buchmarkt. Denn nur wenige Autor*innen aus WANA erfahren hierzulande Aufmerksamkeit, die wie Basma Abdel Aziz vor Ort leben und wirken. Es sind meist Exil-Autor*innen, wie Rafik Schami oder Khaled Hosseini, die hohe Auflagen erzielen. Deren Bücher können die Perspektive der Menschen in WANA aber nicht direkt abbilden. Noch dazu reproduzieren viele von ihnen durch ihre märchenhafte Erzählweise häufig orientalische Klischees.

Bemerkenswert macht „Das Tor“ auch sein Genre. Hier wird auf kitschige, orientalische Bilderbögen verzichtet und ziemlich schonungslos eine bittere dystopische Geschichte erzählt. Die erinnert mehr an George Orwells „1984“ als an „1001 Nacht“.

 Arabischer Frühling trifft auf magischen Realismus

Abdel Aziz versetzt die Leser*innen in ein unbekanntes Land, das jedoch auffällige Parallelen mit dem heutigen Ägypten unter der diktatorischen Herrschaft von Abdel Fattah al-Sisi aufweist: Die Autorin zeichnet das Bild einer polarisierten Gesellschaft, regiert von einem autoritären und von Willkür geprägten Regime.

Nach Wahlen, bei denen sich Oppositionelle und Anhänger*innen des alten Regimes gegenüberstanden, und einem gescheiterten Aufstand, im Roman die „schändlichen Ereignisse“ genannt, zieht sich das Regime hinter das unvermittelt aufgetauchte Tor des nördlichen Gebäudes zurück. Dieses Tor kontrolliert von nun an alle Lebensbereiche: Für alles braucht es eine Genehmigung des Tores.

Die Kugel des Anstoßes

Hauptfigur in diesem autoritär-neoliberalen Alptraum ist der Oppositionelle Yahya, der während der „schändlichen Ereignissen“ angeschossen wurde und nun eine wandernde Kugel in seinem Körper hat. Er braucht die Billigung des allmächtigen Tores für seine lebensnotwendige Operation – und so findet er sich in der endlosen Schlange vor dem Tor wieder. Wird Yahya die Genehmigung für die lebensrettende Operation erhalten oder nicht? Niemand weiß, wie sich das Tor entscheiden wird.

Kammerspiel mit illustrem Figurenkabinett

Fast ausschließlicher Schauplatz des Romans ist die Schlange vor dem Tor. Yahya begegnet während seiner Wartezeit einem interessanten Figurenensemble: Da ist seine Freundin Amani, mit der Yahya in derselben Firma arbeitet, sein bester Freund Nagi und der Journalist Ihab, der für die einzige noch existierende Zeitung „Die Wahrheit“ schreibt.

Die Lehrerin Ines wiederum steht in der Schlange, weil sie nach der Verlesung eines regimekritischen Gedichts eine Unbedenklichkeitsbescheinigung benötigt, um weiter als in ihrem Beruf arbeiten zu können. Und dann ist da noch Umm Mabrouk, die nach den letzten Wahlen als unzuverlässig gilt und deshalb von der staatlichen Brotzuteilung ausgeschlossen wird.

Die Autorin zeichnet das Tor als einen Ort der Repression, aber auch der Solidarität. An dem die Menschen zusammenarbeiten und Bündnisse schließen. So tauchen Taxifahrer auf, die die Wartenden in der Schlange selbstlos mit Informationen versorgen. Oder Menschen halten einander Plätze frei und kümmern sich um Alte und Kranke.

Zermürbung als Schlüssel zur Herrschaft

Zentral für die Romanhandlung ist weniger brutale und direkt auf offener Straße ausgeübte staatliche Repression. Zwar leben die Menschen im Roman, wie auch in der ägyptischen Realität, in ständiger Angst vor den staatlichen Sicherheitsorganen, die Presse ist in Roman wie Realität quasi gleichgeschaltet und wie in Ägypten verschwinden auch im Laufe des Romans Menschen.

Dennoch zeigt Abdel Aziz in ihrem Roman im Kern noch ein viel komplexeres Problem auf: Das Beispiel der Gesellschaft in „Das Tor“ macht deutlich, wie die Menschen in Ägypten aber auch anderswo nicht nur durch Polizei und Militär bedroht, sondern auch durch eine von Willkür und Klientelismus geprägte staatliche Bürokratie gelähmt und in Apathie gestürzt werden.

„Die natürlichen Unterschiede im Verhalten hatten sich verflüchtigt, als hätten sie alle begonnen, in der gleichen Art und Weise zu denken. Nagi hatte erwartet, dass wenigstens einer die Regeln brechen würde, das wenigstens einer der Wartenden die Halbstarken unterstützen oder zumindest mit ihrem Aufruf zur Revolte gegen diese kuriose Situation sympathisieren würde, aber nichts geschah.” (S. 121)

Beklemmende Erzählung nicht nur über die Al-Sisi Diktatur

„Das Tor“ ist ein beklemmendes Buch, das aufzeigt, dass es für das Funktionieren einer Diktatur mehr braucht als rohe polizeiliche und militärische Gewalt. Nämlich gleichgeschaltete Medien, Propaganda und eine Bürokratie, die die Menschen kontrolliert, diszipliniert, in Apathie stürzt und mit absurden Regelungen zermürbt.

Leider ist das Buch in seiner Sprache oft genauso behäbig wie die totale Bürokratie, die es anprangert. Basma Abdel Aziz erzählt ihre Geschichte in einer sehr nüchternen, fast schon bürokratischen Sprache. Das unterstützt die bedrückende Atmosphäre des Buches zwar, der eine oder andere auflockernde Eingriff von Übersetzerin Larissa Bender hätte der Lesbarkeit aber gutgetan.

So sind die einzelnen Episoden aus der Schlange vor dem Tor sprachlich oft ermüdend. Das ist schade, denn die meisten von ihnen sind inhaltlich interessant und verraten viel über Ägypten, wie es Basma Abdel Aziz in ihrer Geschichte fantastisch verfremdet wahrnimmt. Und das macht das Lesen, oder Hören (das Buch ist auch von Richard Barenberg solide eingelesen als Hörbuch erschienen), manchmal anstrengend.

Dennoch ist „Das Tor“ eine beeindruckende Erzählung, die sich Fans von Literatur aus WANA ebenso wenig entgehen lassen sollten wie Anhänger*innen von dystopischen Romanen im Allgemeinen.

 

Basma Abdel Aziz: Das Tor. München: Heyne Verlag 2020, 288 Seiten, 14.99€. Aus dem Arabischen von Larissa Bender.

Als ungekürztes Hörbuch erschienen bei Randomhouse Audio, gelesen von Richard Berenberg, 6:38 Stunden, 17.95€.

Hat Politikwissenschaft mit Fokus auf Westasien und Nordafrika in Marburg studiert und arbeitet als Radio-Journalist in Potsdam. Für dis:orient bespricht er Romane und Sachbücher. Foto: Jörg Pitschmann
Redigiert von Elisa Söll, Anna-Theresa Bachmann