22.09.2018
Ägyptisches Paradox und europäisches Mantra - ein Gespräch mit Ilyas Saliba von Amnesty International über Menschenrechte am Nil
Bildquelle: https://pixabay.com/de/tor-hammer-richter-gerechtigkeit-568417/
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Am 8. September fiel in Kairo das Urteil gegen 739 Angeklagte im sogenannten Rabaa-Prozess. Ilyas Saliba ist Nahost-Referent bei Amnesty International in DeutschlandMit Alsharq spricht er über die Einordnung des Prozesses, Einschüchterungsversuche der ägyptischen Botschaft in Berlin und den Umgang mit Frustration in seinem Arbeitsalltag. Ein Interview von Anna-Theresa Bachmann. 

Das Protestcamp auf dem Rabaa al-Adawija Platz im Osten Kairos wurde am 14. August 2013 gewaltsam geräumt. Dort hatten sich Anhänger*innen des zuvor abgesetzten Präsidenten Mohammed Mursi versammelt, um gegen die Machtübernahme des Militärs zu protestieren. Mehrere hundert Protestierende kamen bei der Auflösung des Camps zu Tode oder wurden verletzt. Andere saßen seither im Gefängnis. Unter den Festgenommenen war auch der bekannte Fotojournalist Mahmoud Abu Zeid, alias Shawkan, der die Proteste dokumentieren wollte. Am 8. September fielen gegen ihn und alle weiteren Angeklagten das Urteil in Kairo.

Am 8. September fiel das Urteil gegen 739 Angeklagte im Rabaa-Prozess. Wie bewerten Sie seinen Ablauf?

Im Rahmen der Verhandlungen wurden nicht genug Zeit und Ressourcen aufgewendet, um die einzelnen Angeklagten zu überprüfen und die angebliche Beteiligung an den ihnen vorgeworfenen Straftaten zu bestätigen. Deswegen ist das Urteil eine Farce und offenbart die Politisierung der ägyptischen Justiz.

Das wird nicht zuletzt daran erkennbar, dass etwa 700 Menschen für 17 Morde an Polizisten und andere Vergehen gleichzeitig verurteilt wurden. Davon 75 zum Tode, über 40 zu lebenslangen Haftstrafen und ein Großteil der anderen Angeklagten zu langen Haftstrafen. Todesstrafen lehnt Amnesty International konsequent ab.

Wie sind diese Urteile einzuordnen?

Sie müssen im weiteren historischen Kontext des Rabaa-Massakers betrachtet werden. Der Fall beruht darauf, dass die Angeklagten in und um Rabaa waren und dort verhaftet wurden, als pro-Mursi-Gruppen nach der Machtübernahme des Militärs protestierten. Es ist paradox zu sehen, dass für diese 700 bis 800 Menschen, die dort bei der Auflösung der Proteste durch die Sicherheitskräfte umgebracht wurden, niemand zur Verantwortung gezogen wurde. Ganz im Gegenteil, erst kürzlich wurde durch den Präsidenten al-Sisi eine Art Amnestie erlassen, auf die sich die Sicherheitskräfte berufen können.

Unter den Verurteilten war auch der ägyptische Fotojournalist Shawkan, für dessen Freilassung sich Amnesty International öffentlichkeitswirksam eingesetzt hat. Er wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt, die er bereits abgesessen hat. Wie sieht Amnesty International seiner baldigen Entlassung entgegen?

Auf der einen Seite sind wir natürlich froh. Wir wissen aber noch nicht, wann er freikommen soll. Auf der anderen Seite ist das Urteil immer noch höchst problematisch. Er wurde aufgrund seines Jobs als Fotograf bei den Rabaa-Protesten festgenommen. Das fällt natürlich unter die Pressefreiheit. Vorgeworfen wurde ihm aber unter anderem die Teilnahme an der Demonstration, Aufruf zur Gewalt und ursprünglich auch Mord an einem Polizisten, für den er letztlich nicht belangt wurde.

Wir gehen davon aus, dass er komplett unschuldig verurteilt wurde. Deswegen erkennen wir das Urteil nicht an. Darüber hinaus muss er sich wahrscheinlich fünf Jahre lang täglich bei einer Polizeistation melden, was wir auch für höchst problematisch halten. Wir unterstützen deswegen auch den Einspruch, den Shawkan jetzt einlegen will.

Das Medieninteresse an Ägypten hat seit 2011 abgenommen, obwohl sich die Situation für Oppositionelle, Journalist*innen oder die LGBTQ-Community weiter zuspitzt. Auch die internationale Politik ignoriert Menschenrechtsverletzungen weitestgehend. Warum?

Man weiß in Paris, London, Berlin und Brüssel ganz genau, was dort passiert. Auch glaube ich, dass die Situation nicht nur wohlwollend begleitet wird. Inzwischen ist in Europa angekommen, dass die Menschenrechtsverletzungen in Ägypten nicht unbedingt zur Stabilität beitragen werden. Stabilität ist das nach 2011 wieder aus dem Grab geholte Mantra der europäischen Staaten gegenüber der südlichen Nachbarschaft generell – und gegenüber Ägypten im Speziellen.

In gewisser Weise ist Ägypten als Partner in der Region unerlässlich. Nicht nur für Berlin, sondern für Europa als Ganzes. Im Besonderen in der Terrorbekämpfung: Im Sinai hat Ägypten ganz eigene Probleme, aber auch darüber hinaus gibt es Anti-Terror-Kooperationen mit europäischen Staaten.

Und natürlich in der Migrationsfrage. Im Großen und Ganzen werden diese Kooperationen von der EU nicht in Frage gestellt. Aus Menschenrechtsgründen finden aber manchmal bestimmte Arten und Weisen der Kooperation nicht statt.

Zum Beispiel?

Deutschland verfolgt eine Kooperation mit ägyptischen Sicherheitsorganen, in deren Rahmen Training, Ausbildung und Ausstattung stattfindet. Letztes Jahr wurde dort aufgrund von Bedenken aus dem Auswärtigen Amt ein Kurs des Bundeskriminalamtes zu Überwachungstechniken gestrichen. Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung. Die Bundesregierung sollte sich aber generell überlegen, mit wem sie dort in Ägypten genau kooperiert.

Wie arbeitet Amnesty International angesichts der Menschenrechtslage aktuell in und zu Ägypten?

Wir haben momentan kein Büro vor Ort, aber lokale NGOs, mit denen wir intensiv zusammenarbeiten. Wir unterstützen sie dabei, sich resilienter aufzustellen, um solchen Verfahren wie dem mit der Nummer 173, in dem die gesamte unabhängige Zivilgesellschaft Ägyptens angeklagt ist, in Zukunft gemeinsam besser entgegentreten zu können. Gleichzeitig unterstützen wir auch die Rechtsbeihilfe in solchen Prozessen.

Dieses Jahr haben wir den Menschenrechtspreis an das Nadeem-Zentrum in Kairo verliehen, das seit den 1990er-Jahren psychologisch, psychiatrisch und auch medizinisch Folteropfer betreut und Dokumentationsarbeit leistet. Sie wurden vor eineinhalb Jahren geschlossen und sind im Rahmen des Verfahrens 173 angeklagt. Wir haben es durch Druck auf die deutsche Politik geschafft, dass die drei als Einzelpersonen angeklagten Direktorinnen im „Parlamentarier schützen Parlamentarier“-Programm des Deutschen Bundestages aufgenommen wurden. Sollte weiter gegen das Zentrum vorgegangen werden, macht die Teilnahme an dem Programm eine Reaktion von Seiten der deutschen Politik wahrscheinlicher.

Immer mehr frühere Aktivist*innen von 2011 leben heute teils freiwillig, teils unfreiwillig in Europa, darunter auch in Berlin. Inwieweit übt der ägyptische Staat auch im Exil Druck auf sie aus?

Ich habe bereits vor meiner Zeit bei Amnesty International einige Erfahrungen mit der Botschaft machen dürfen, zum Beispiel auf einer Veranstaltung, bei der es um Kooperationen zwischen der unabhängigen Zivilgesellschaft in Ägypten und deutschen Organisationen ging. Dort war auch Personal der ägyptischen Botschaft präsent. Die Beiträge des Botschaftsvertreters könnte man als subtile Einschüchterungsversuche gegenüber den ägyptischen Teilnehmer*innen der Veranstaltung, aber auch gegenüber Panellist*innen aus Ägypten beschreiben. Zwar sehr indirekt, sodass man daraus keinen Vorwurf machen könnte. Aber sich in die erste Reihe zu setzen und offen zu widersprechen, zu unterbrechen und darauf hinzuweisen, wer da genau vor einem sitzt, das sind gängige Methoden.

Sich täglich für Menschenrechtsverletzungen einzusetzen kann mit der Zeit sehr frustrieren. Woher nehmen Sie den Antrieb, es trotzdem zu tun?

Es ist nicht immer einfach. Doch sich mit der steigenden Anzahl von Ägypter*innen hier in Deutschland zu vernetzen, die politisch aktiv waren und es noch immer sind, gibt mir Energie. Ich war zwar erst deutlich nach 2011 das erste Mal in Ägypten, aber dieser „revolutionäre Spirit“ ist trotz der angespannten Situation immer noch am Leben. Zu sehen, dass sich Menschen noch immer für Menschenrechte und Demokratie in Ägypten einsetzen, auch wenn sie dafür in Kauf nehmen, ins Ausland zu gehen; zu sehen, dass ihnen hier dann begrenzte Mittel zur Verfügung stehen und sie es trotzdem weiter tun, das gibt mir immer wieder Kraft.

Dann gibt es natürlich auch Tage, an denen man mit Verhaftungen konfrontiert wird und man Meldungen herausschickt, um dafür zu sensibilisieren. An solchen Tagen muss man sich darauf besinnen, dass man eben nur ein kleines Rad ist, das man in die richtige Richtung zu drehen versucht. Das klappt nicht immer. Aber das heißt nicht, dass die Arbeit nicht sinnvoll ist. Um auch mit dem Frust besser umzugehen und um Schlimmeres vorzubeugen, brauchen wir innerhalb der Menschenrechts-Community eine Debatte über direkte und indirekte Traumatisierung. Nicht alle Organisationen gehen damit professionell um und stehen den Mitarbeiter*innen genügend zur Seite.

Vielen Dank für das Interview.

Theresa ist freie Reporterin und Fotojournalistin mit Fokus Westasien und Nordafrika. Sie hat in Marbug, Kairo und Lund studiert, sowie eine Ausbildung an der Reportageschule Reutlingen absolviert. Seit November 2019 ist sie die Koordinatorin des dis:orient-Magazins.
Redigiert von Clara Taxis, Diana Beck