01.09.2023
Angstsilhouetten
Antisemitismus fühlt sich für Marina wie eine eine nebulöse Angstsilhouette an. Grafik: Zaide Kutay
Antisemitismus fühlt sich für Marina wie eine eine nebulöse Angstsilhouette an. Grafik: Zaide Kutay

Täglich denkt unsere Kolumnistin Marina Klimchuk über Antisemitismus nach. In den merkwürdigsten Formen schleicht er sich in ihr Leben. Spätestens mit der Affäre um Hubert Aiwanger wächst ein Gefühl: Hilflosigkeit.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

In meiner Kindheit und als Jugendliche in Bayern habe ich keinen Antisemitismus erfahren. Manchmal denke ich, ich war naiv und erkannte ihn einfach nicht. Ich möchte Menschen nichts unterstellen. Vielleicht liegt es auch daran, dass alle in meinem Umkreis immer wussten, dass ich jüdisch bin, ich es aber in Gesprächen nicht so oft zum Thema mache – nicht aus Unbehagen. Ich verspüre einfach kein Bedürfnis danach und die Leute fragen selten, aber alle gehen damit immer vollkommen selbstverständlich um. Mein Jüdisch-Sein ist meins und es gibt viele andere Themen, über die ich gerne spreche.

Im letzten Jahr taucht Antisemitismus überall in meinem Leben plötzlich auf, in den merkwürdigsten Formen. Ich habe zum ersten Mal begonnen, darüber zu sinnieren, ob er mir Angst macht. Es ist keine Angst um meine körperliche Unversehrtheit. Eher eine abstrakte Angst, mehr eine nebulöse Angstsilhouette. Ich habe sozusagen Angst vor der Möglichkeit von Antisemitismus und was sie für mein Leben, für Deutschland, für die Welt bedeuten könnte. Ich weiß, wie privilegiert diese Form von Angst ist – andere Menschen, orthodoxe Jüdinnen und Juden, People of Color, Muslima mit Hijab, denen man ihre „Andersartigkeit“ ansieht, sind viel direkter von Menschenfeindlichkeit betroffen.

Sind Hitlergrüße wieder „in“?

Vor einigen Wochen saß ich in Hamburg an der Elbe und trank mit meinen Freundinnen Sekt vom Penny-Markt für 2,99 Euro. Zwei Besoffene pöbelten uns an, sie wollten uns kennenlernen. Wir reagierten nicht. Daraufhin sagte der eine zum anderen: „Lass die, das sind ganz feine Damen, die teuren Sekt trinken. Die kommen von der Rothschild-Gesellschaft.“ Meine nicht-jüdischen Freundinnen sagten daraufhin gar nichts. Auch ich schwieg. Ich war benommen, wusste nicht, was ich sagen könnte. Ich glaube, sie hatten nicht wahrgenommen, dass das antisemitischer Sprech ist.

Ich kenne solche Situationen aus meinem Alltag früher nicht. War etwas anders, hat man nicht so geredet? War es schon immer so und es fiel mir einfach nicht auf? Bin ich vielleicht einfach paranoid, seit ich wieder in Deutschland und nicht mehr in Israel lebe?

Für eine Recherche verbrachte ich vor ein paar Wochen einige Tage in einem Ferienlager für jüdische Teenager. Zwei Mädchen aus München erzählten mir von ihrem Ethikunterricht in der Schule. Alle dort seien Muslime, worüber sie nicht besonders glücklich waren. Ein kurdischer Junge aus dem Irak habe neulich den Hitlergruß gezeigt. „Nicht zum Spaß, der wusste genau, was der tut.“  Als der Lehrer sich umdrehte, tat der Junge so, als ob er seine Hand nur ausgestreckt habe, um sich zu melden. Das Mädchen verpetzte ihn, er durfte nicht auf Klassenfahrt mit. Von der Schule geflogen sei er nicht. Das enttäuscht sie. Auch ihrer Freundin hat auf der Straße mal eine Gruppe Jugendlicher den Hitlergruß gezeigt, erzählte sie. Man rief die Polizei. Die sagte ihnen, sie müssten jetzt die Klügeren sein.

Sind Hitlergrüße wieder cool? Waren sie es vielleicht schon immer, nur eben nicht in meinem Freundeskreis, und ich habe es verpasst? Wie zuverlässig sind die Statistiken zu dem Thema, kann ich ihnen vertrauen?

Die Zahl der gegen Juden und Jüdinnen gerichteten und gemeldeten Gewalttaten ist im vergangenen Jahr gestiegen – von 63 solcher Delikte im Jahr 2021 auf 88 Delikte im Jahr 2022, berichtet der Spiegel. Unter die Kategorie Gewalttaten fallen in der Statistik des Bundeskriminalamts etwa gefährliche Körperverletzungen oder räuberische Erpressung, hinzu kommen Brandanschläge und Volksverhetzungsdelikte.

Meine Stimme versagt

Und jetzt Hubert Aiwanger. Wie kann das sein? Ein Land, das bei jeder Gelegenheit und jeder Israelkritik Antisemitismus wittert und unter bedeutungsschwangerer Empörung irgendwelche Forderungen stellt, lässt so einen Minister im Amt. Nicht irgendeinen, sondern einen ekelhaften Rassisten, der politisch permanent am rechten Rand schwimmt. In einer Zeit, in der Rechtsradikale euphorisch ihre Wahlsiege feiern. Wer geglaubt hat, man wolle jüdisches Leben in Deutschland tatsächlich schützen, fühlt sich verarscht. Bestimmt, da bin ich mir ganz sicher, wird Markus Söder auch dieses Jahr wieder beim Anzünden der Chanukka-Lichter auf dem Jakobsplatz in München dabei sein.

In den sozialen Medien wütet man so laut, dass ich weit wegrennen will. Alle versuchen, sich im Sinne ihrer eigenen politischen Zwecke zu überschreien und ich kann mir nie sicher sein, wann es eigentlich noch um Inhalte, um die Sache selbst, geht.

Kann es sein, dass das politische System in Deutschland Jüdinnen und Juden nur dann zu schützen bereit ist, wenn es für dieses System nicht unbequem wird? Wenn es nicht eine Palästinenserin wie Nemi El-Hassan ist, die wegen einer Springer-Hetzkampagne ihren Job verliert, sondern ein Markus Söder einen Hubert Aiwanger entlassen müsste?

Als Journalistin ist meine Stimme meine Waffe.

Gerade versagt meine Stimme. Da ist nur Hilflosigkeit.

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Marina ist in der Ukraine geboren und als Kind nach Deutschland eingewandert. Sie ist freie Journalistin, leitete bis zur Corona-Pandemie politische Studienreisen in Israel und Palästina und führte Gruppen durch die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Im Moment besucht sie die Reportageschule in Reutlingen.
Redigiert von Sophie Romy, Regina Gennrich