11.02.2019
Antikriegsbewegung in Babylon
Gegen den Irak-Krieg wurden Aktionen, Demonstrationen und Kampagnen in der ganzen Bundesrepublik organisiert. Auch nach dem Ende der größten Protestwelle 2003 wurden die Aktivitäten fortgesetzt. (Collage unter Verwendung von Plakaten des Heidelberger Forums gegen Militarismus und Krieg und der Antiimperialistischen Koordination, sowie des bundesweiten Aktionsbündnisses 15. Februar, mit freundlicher Genehmigung der Designerin Uta Eickworth und von arbeiterfotografie.com.)
Gegen den Irak-Krieg wurden Aktionen, Demonstrationen und Kampagnen in der ganzen Bundesrepublik organisiert. Auch nach dem Ende der größten Protestwelle 2003 wurden die Aktivitäten fortgesetzt. (Collage unter Verwendung von Plakaten des Heidelberger Forums gegen Militarismus und Krieg und der Antiimperialistischen Koordination, sowie des bundesweiten Aktionsbündnisses 15. Februar, mit freundlicher Genehmigung der Designerin Uta Eickworth und von arbeiterfotografie.com.)

2003 setzte die deutsche Antikriegsbewegung ein starkes Zeichen gegen den drohenden Irak-Krieg. Heute dagegen zeigt sie sich unfähig, in die vielen internationalen Konflikte, die aktuell in der Region ausgetragen werden, einzugreifen. Ein kritischer Blick zurück legt die Parallelen zu damals offen und kann helfen, die derzeitige Ohnmacht der Bewegung zu überwinden. Von Leon Wystrychowski

Unter die deutsche Antikriegsbewegung (AKB) fallen sowohl die überwiegend pazifistische Friedensbewegung als auch die heterogene radikale Linke. Beide Strömungen organisieren seit den 1950ern Protest und Widerstand gegen die Militärpolitik der Bundesrepublik und ihrer Partnerstaaten. Das Ende des Kalten Krieges stürzte die politische Linke in eine tiefe Krise und weckte zugleich bei Teilen der Friedensbewegung die Hoffnung, dass die Zeit für Abrüstung und Dialog gekommen sei. Das aber sollte sich bald als Illusion entpuppen. Dem Golfkrieg im Jahr 1991 folgte 1999 die NATO-Intervention in Jugoslawien. Dass ausgerechnet eine Regierungskoalition aus SPD und Grünen Deutschland in den ersten Krieg nach 1945 führte, spaltete die Friedensbewegung. Die Außenpolitik dieser beiden Parteien in den folgenden Jahren verstärkte die Entfremdung noch weiter.

Die »üblichen Verdächtigen« auf der Straße

Nach den Anschlägen des 11. September machte die US-Regierung schnell deutlich, dass sie nicht nur eine militärische Intervention in Afghanistan plante, sondern auch den Irak angreifen wollte. Als die Drohungen aus Washington 2002 immer lauter wurden, machte die globale AKB mobil. Weltweiter Aktionstag war der 15. Februar 2003. In rund 600 Städten Europas gingen Millionen Menschen auf die Straße. Der Aufruf zur bundesweiten Demo in Berlin, dem 500.000 Personen folgten, wurde von dutzenden Organisationen getragen. Zugleich war damit der quantitative Höhepunkt der Bewegung erreicht.

Nach Kriegsbeginn am 20. März schrumpften die Teilnehmer*innenzahlen frappierend. Ein Grund mögen Enttäuschung und Ohnmachtsgefühle gewesen sein. Laut Umfragen hatten viele Protestierende daran geglaubt, sie würden den Krieg aufhalten. Auch die Tatsache, dass die Bundesregierung sich nicht der »Koalition der Willigen«, die den US-amerikanischen Angriff unterstützten, anschloss, dürfte hemmend gewirkt haben. Angesichts der Bundestagswahlen im Herbst 2002 verweigerte Rot-Grün eine Beteiligung am Militäreinsatz. Der drohende Krieg war in Deutschland höchst unpopulär: Die Ablehnung in der Bevölkerung lag zu der Zeit je nach Umfrage zwischen 71% und 97%. Trotzdem beschränkte sich die Beteiligung an den Protesten weitgehend auf »die üblichen Verdächtigen«. Eine Erhebung unter den Berliner Demonstrant*innen am 15. Februar ergab, dass diese in der Mehrheit jung und links waren. Entsprechend konstatierte der Sozialforscher Dieter Rucht, dass das geläufige Bild der Bewegung »als eines breiten Querschnitts der Bevölkerung (...) im Großen und Ganzen falsch« sei.[1]

Nach dem Niedergang der großen Protestwelle engagierte sich nur noch eine überschaubare Zahl von Aktivist*innen gegen den Krieg. Sie versuchten vor allem, die zugrunde liegenden politischen und wirtschaftlichen Interessen sowie die negativen Auswirkungen auf die irakische Bevölkerung in die Öffentlichkeit zu tragen. Gleichzeitig wurden die Rolle der offiziell nicht beteiligten BRD kritisiert und symbolische Protestaktionen, etwa Menschenketten oder Blockaden der US-Airbase in Ramstein, durchgeführt.

Auch Vereine wie die Deutsch-Irakische Gesellschaft und andere Organisationen verschiedener arabischer Communities mobilisierten mancherorts zu Protesten gegen den Krieg. Ein für 2004 anberaumter Kongress in Berlin wurde durch die deutschen Behörden unterbunden. Dagegen hielten sich die islamischen Verbände auffällig zurück, obwohl der »War on Terror« weithin als Feldzug gegen die islamische Welt wahrgenommen wurde. Abgesehen von vereinzelter Beteiligung an interreligiösen Friedensgebeten und Stellungnahmen gegen den Krieg, war von dieser Seite kaum öffentlicher Widerspruch zu vernehmen.[2] Zwar vermeiden insbesondere die großen islamischen Verbände generell öffentliche kontroverse Auseinandersetzungen mit internationalem politischen Bezug. Dr. Abdolah Hoveyes, Historiker an der Uni Bochum, erklärt das Schweigen vor und während des Irak-Kriegs jedoch anders: »Offiziell bezog man Stellung gegen den Krieg. In Wahrheit aber begrüßten viele den Sturz der säkularen Baath im Irak.« Die muslimische Basis, die dem Militäreinsatz äußerst ablehnend gegenüber stand und sich an Demonstrationen beteiligte, habe dadurch keine eigene, wahrnehmbare Stimme gehabt. Tatsächlich verbat etwa die DITIB den 25.000 Teilnehmer*innen einer Demo »gegen Terror« Ende 2004 ausdrücklich, sich gegen den Irak-Krieg zu äußern.[3]

Neue Weltordnung, neue Herausforderungen

Die globale AKB war währenddessen mit neuen Fragestellungen konfrontiert. Das Phänomen »Terrorismus« musste als Argument für Kriege entkräftet werden. Die Aktivist*innen stellten dem »War on Terror« die Parole »Krieg ist Terror« entgegen.

Mit Bushs »Crusade« im sogenannten Greater Middle East zeichnete sich zudem ab, dass »der Islam« zum neuen Feindbild des »Westens« aufstieg. Das Schreckgespenst hieß Al-Qaida - und das säkulare Baath-Regime im Irak galt den USA und ihren Verbündeten absurderweise als dessen Alliierter. Das Thema »Islamismus« rückte vor allem im Zusammenhang mit dem Mord an dem aufgrund islamfeindlicher und antisemitischer Äußerungen umstrittenen niederländischen Regisseur Theo van Gogh, den Anschlägen von Madrid und London, aber auch den Wahlsiegen Ahmadinedschads im Iran und der Hamas in der Westbank und dem Gazastreifen ins öffentliche Blickfeld. Das mit diesem Überfokus einhergehende Ausmaß der Islamfeindlichkeit in Deutschland erfassten viele Menschen, wenn überhaupt, erst nach dem Mord an der Dresdnerin Marwa El-Sherbini 2009 und der Sarrazin-»Debatte« im darauf folgenden Jahr.

Pauschalisierende und meist negativ genutzte Begriffe wie »Islamismus«, »radikal islamisch« oder »fundamentalistisch« wurden in den Medien der AKB kritisch diskutiert. Die Mehrheit der AKB konzentrierte sich darauf, Muslim*innen vor pauschalen Terrorvorwürfen in Schutz zu nehmen und stellte die im herrschenden Diskurs konstruierte Gefahr, die angeblich vom »Islamismus« ausgehe, infrage. Zugleich wird bis heute oft auf die gezielte Förderung verschiedener »islamistischer« Akteure vor allem durch die USA und die Golfstaaten verwiesen. Dieser Mehrheitsposition stand eine Minderheit gegenüber, die in einigen »islamistischen« Bewegungen ein »antiimperialistisches Moment« erkannte. So wurden etwa Hizbollah-Fahnen auf Friedensdemos getragen. Dies stieß schnell auf den Vorwurf der »Querfront«, also einem Zusammenschluss linker mit rechten Kräften.

Diesen Begriff gebrauchten vor allem die sogenannten »Antideutschen« (ADs), die ihre Hochzeit in den Jahren nach 2001 hatten. Aufgrund ihrer »bedingungslosen Solidarität mit Israel« unterstützen sie sämtliche »westliche« Kriege in den arabischen Ländern, inklusive der im Irak. Den Islam erklärten sie bald nach 9/11 quasi zum neuen Faschismus. Entsprechend gehören sie, obwohl bis heute oft der politischen Linken zugeordnet, nicht zur AKB. Vielmehr befand diese sich in ständiger Auseinandersetzung mit den ADs, die regelmäßig Antisemitismusvorwürfe gegen Teile der Bewegung erhoben, Veranstaltungen sprengten oder am Rande von Demonstrationen mit Israel- und USA-Fahnen provozierten. Konflikte zwischen ADs und Kriegsgegner*innen wurden meist inhaltlich, aber auch mehrfach physisch ausgetragen.[4]

Internationale Solidarität - aber mit wem?

Daneben stand die Bewegung vor dem Dilemma, dass im globalen Süden nach dem Untergang der Sowjetunion kaum relevante, aus ihrer Sicht progressive Bewegungen übriggeblieben waren. Als kurz nach der Kapitulation der irakischen Armee Anfang April 2003 ein Volksaufstand im Irak ausbrach, standen die Kriegsgegner*innen vor der Frage, ob dieser unterstützt werden sollte. Anders als in den hiesigen Medien meist dargestellt, wurde der irakische Widerstand von einer breiten Front aus säkularen bis hin zu islamischen Akteur*innen getragen. Militärisch setzten sie auf Guerilla-Taktik gegen das ausländische Militär. Daneben kam es zu Protesten, Streiks und zivilem Ungehorsam. Von Al-Qaida im Irak (AQI), die spektakuläre Anschläge mit oft zahlreichen zivilen Opfern verübte, grenzte sich der nationale Widerstand ab. Trotzdem stand diese Volksbewegung keinesfalls unter linker Hegemonie. Den militärischen Kern stellten ehemalige Armeegeneräle und alte Baathisten verschiedener politischer Couleur. Anders als etwa in Vietnam oder Südafrika handelte es sich also nicht um Akteur*innen, mit denen Visionen einer gesellschaftlichen Alternative verbunden werden konnten, sondern solche, die häufig bereits unter dem alten Regime gedient hatten. Es galt also, sich in einer neuen, unliebsamen Realität zu positionieren.

Ab Herbst 2003 sammelten Aktivist*innen unter dem Aufruf »10 Euro für den irakischen Widerstand«[5] Geld für die Iraqi Patriotic Alliance (IPA), einen Zusammenschluss aus Linksnationalist*innen und »Islamist*innen«. Nach einem reißerisch aufgemachten TV-Beitrag in der ARD[6] entbrannte eine Diskussion in der AKB. Die Kritiker*innen warfen den Initiator*innen vor, »Saddam-Anhänger« zu unterstützen. Die Deutsche Friedensgesellschaft erklärte, »wer Geld für Waffen sammelt und das Abschießen von Soldaten gutheißt«[7] sei kein Pazifist. Die Befürworter*innen hielten dagegen, nur die irakische Bevölkerung hätte zu entscheiden, mit wem und auf welche Weise sie gegen die Invasion kämpfen wolle. Zudem verwiesen sie auf andere nationale Befreiungskämpfe. Tatsächlich haben deutsche Linke immer wieder Geld für Aufständische gesammelt, etwa in Algerien, Vietnam oder Lateinamerika. Dabei wurde meist ganz offen erklärt, Waffen kaufen zu wollen. Der 10€-Kampagne für die IPA dagegen ging es laut Thomas Zmrzly, einem der Initiator*innen, gar nicht primär um militärisches Gerät. »Das wurde von den Gegnern nur so dargestellt«, erklärt er. »Waffen zu bekommen war aber im Irak gar kein Problem. Wir wollten vor allem ein Zeichen für die Legitimität des Widerstands setzen.«

Dieser geriet allerdings zunehmend unter Druck. Im 2006 ausbrechenden konfessionell aufgeladenen Bürgerkrieg wurden die nationalen Kräfte zwischen AQI, Besatzungs- und Regierungsarmee zunehmend zerrieben. Die USA gewannen sunnitische Führer für ein Bündnis gegen AQI, woraufhin sich andere Kämpfer mit Aktionen gegen die US-Army zurückhielten. Als auch die schiitischen Kämpfer um Muqtada as-Sadr 2008 ihre Waffen niederlegte, war der militante Widerstand de facto geschlagen, auch wenn Kämpfe und ziviler Widerstand zum Teil weitergingen. Allerdings brachen die Beziehungen der deutschen Aktivist*innen zur IPA schon vorher ab. Von rivalisierenden Gruppen war ihr vorgeworfen worden, »vom Ausland« finanziert zu werden, ein sensibler Punkt für eine Bewegung, die für die nationale Selbstständigkeit kämpft. Was geschah also mit dem Geld? Laut Zmrzly wurde es vor allem für Anwälte ausgegeben, da mehrere IPA-Vertreter*innen in Europa inhaftiert wurden. Das Thema Irak wurde aus Sicht der AKB indes bald von den Kriegen Israels gegen die Hizbollah im Libanon und die Hamas im Gazastreifen überschattet.

Der sogenannte Nahe Osten als Schlüsselfrage

Schon 2003 konnte die AKB also nur ein gewisses gesellschaftliches Spektrum mobilisieren. Und schon damals waren sich die Aktivist*innen uneinig in der wesentlichen Frage, unter welchen Bedingungen in einem Krieg welche gesellschaftlichen Kräfte vor Ort unterstützt werden sollten. Als das Thema Irak 2014 wieder auf die Tagesordnung rückte, war die Lage noch komplizierter: Bürgerkriege in Irak und Syrien, das Vordringen des sogenannten Islamischen Staates (IS) und Einmischungen und Verflechtungen regionaler Großmächte und globaler Player. Teile der AKB schlugen sich nun auf die Seite Assads und Irans, der aber im Irak gemeinsam mit den USA Bagdad stützt. Andere stehen auf Seiten der syrischen Kurden, die bis zuletzt mit den USA verbündet waren. Konsens scheint nur die Ablehnung des IS, weshalb auch die Forderung des Friedensbündnisses zum Ostermarsch Rhein/Ruhr, es müsse »mit allen Konfliktparteien, auch dem IS verhandelt werden«,[8] auf breite Ablehnung in der AKB stieß. Von Geschlossenheit in der Bewegung kann mit Blick auf den sogenannten Nahen Osten also heute wie damals kaum die Rede sein.

Die Region aber ist derzeit entscheidend für das Weltgeschehen. Fast sämtliche Kriege nach 1989 führte »der Westen« dort. Von Öl und Geostrategie über die sogenannte Flüchtlingsfrage und den aktuell erstarkenden Rassismus hierzulande bis zur Konfrontation mit Russland sind die heute relevanten politischen Fragen alle mit dem westasiatischen Teil der islamischen Welt verbunden. Ohne überzeugende und konsensfähige Positionen für die Region, dürfte der AKB die Einmischung in das ungebrochen brutale Weltgeschehen auch in Zukunft schwerfallen.

 

[1] Prof. Dr. Rucht legt in seinem Artikel von 2004 die Ergebnisse einer breit angelegten Umfrage unter Kriegsgegner*innen in Europa und den USA dar, und diskutiert deren Bedeutung für die Bewegung in der BRD: www.wissenschaft-und-frieden.de/seite.php?artikelID=0298.)

[2] Nicht berücksichtigt wird hier die propagandistische oder materiellen Unterstützung politischer sogenannter Salafisten für Gruppen wie Al-Qaida.

[3] Maike Naber: Terror hat keine Religion, Deutsche Welle 23.11.2004. (www.dw.com/de/terror-hat-keine-religion/a-1404539-0.)

[4] Einen fundierten Überblick über die Entwicklung der »Antideutschen« zumindest bis Mitte 2004 hat Patrick Hagen in seiner Magisterarbeit ›Die Antideutschen und die Debatte der Linken über Israel‹ vorgelegt.

[5] Aufruf nachzulesen in Intifada Nr. 13(9.2003), S. 32 und unter: www.antiimperialista.org/de/node/3305.

[6] https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2017/terrorpazi100-ardplayer_image-d4add4fb-7b63-45bd-98ec-30658ab7cf39_theme-daserste.html. Ivo Bozic, einer der Produzenten des Beitrags, ist interessanterweise Mitbegründer der »antideutschen« Wochenzeitung Jungle World und schreibt u.a. auch für den Blog Achse des Guten.

[7] Zitiert nach Markus Bernhard: 10 Euro für den irakischen Widerstand - Panorama Bericht droht, die Friedensbewegung zu spalten, in: Friedensforum 1/2004. (www.friedenskooperative.de/friedensforum/artikel/10-euro-fuer-den-irakischen-widerstand-panorama.)

[8] Aufruf zum Ostermarsch Rhein Ruhr 2017. (www.ostermarsch-ruhr.de/aufruf17.pdf.)

Leon studiert Geschichte und Orientalistik/Islamwissenschaft an der Ruhr-Uni Bochum mit den Schwerpunkten Politik und Neuere und Neueste Geschichte. Bislang besuchte er Ägypten, die Türkei, Iran, Israel, Palästina und Oman.
Redigiert von Julia Nowecki, Charlotte Wiemann