03.10.2022
BDS ist nicht antisemitisch, aber politisch falsch
Micha Brumlik hält die BDS-Bewegung nicht für antisemitisch, aber für politisch falsch. Grafik: dis:orient
Micha Brumlik hält die BDS-Bewegung nicht für antisemitisch, aber für politisch falsch. Grafik: dis:orient

Statt die BDS-Bewegung pauschal als antisemitisch zu bezeichnen, sollten sich Kritiker:innen mehr mit den konkreten Ansätzen und politischen Forderungen auseinandersetzen, fordert Micha Brumlik.

Dieser Artikel ist Teil unseres Dossiers „BDS im deutschsprachigen Raum“. Mit den Beiträgen wollen wir verschiedenen Zugängen zur Debatte um BDS in Deutschland Raum geben. Im Editorial gehen wir auf den Hintergrund des Dossiers ein und stellen euch die Beiträge vor.

Als einer der ersten Unterzeichner der „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“ bekräftige ich an dieser Stelle Abschnitt C 14 der Erklärung: „Boykott, Desinvestition und Sanktionen sind gängige, gewaltfreie Formen des politischen Protests gegen Staaten. Im Falle Israels sind sie nicht per se antisemitisch.“

Daran ändert auch der Umstand nichts, dass – zumal in Deutschland – bei derlei Forderungen stets die Erinnerung an das nationalsozialistische „Kauft nicht bei Juden“ mitschwingt. Freilich folgt aus der Feststellung, dass die BDS-Bewegung nicht antisemitisch ist, noch lange nicht, dass ich BDS für politisch angemessen oder gar unterstützenswert halte – im Gegenteil.

Ich bin der festen Überzeugung, dass die BDS-Bewegung sowohl mit unscharfen Formulierungen als auch mit einer akademischen Personalboykottpolitik wesentliche Chancen verspielt. Nämlich jene, auch unter der israelisch-jüdischen Bevölkerung Zuspruch und Unterstützung zu finden – für ein Ende der Siedlungspolitik sowie für eine einvernehmliche Lösung der Besetzung des Westjordanlandes und Jerusalems. Sei dies nun eine Zwei-Staaten-Lösung oder – wie neuerdings von dem israelischen Philosophen Omri Boehm in der Nachfolge Martin Bubers vorgeschlagen – ein Konföderationsmodell.

Auch beim Boykott sollte differenziert werden

Mehr noch, es ist ein schwerer strategischer Fehler der BDS-Bewegung, israelische Künstler:innen, Intellektuelle und Hochschullehrer:innen alleine deshalb zu boykottieren oder auszuladen, weil sie die israelische Staatsangehörigkeit haben.[1] Das ist kontraproduktiv, zumal solche israelischen Schriftsteller:innen und Intellektuelle die israelische Besatzungs- und Siedlungspolitik teilweise schärfer und noch entschiedener als andere kritisieren, sie geradezu angreifen.

In diesem Zusammenhang bietet sich auch ein Lackmustest an, ob die BDS-Bewegung nicht doch auch antisemitische Züge aufweist: sollte auch nur ein Fall bekannt werden, bei dem die Bewegung christliche oder muslimische Personen israelischer Staatsangehörigkeit nicht boykottieren, so wäre der Beweis erbracht, dass diese Politik sich nur gegen jüdische Israelis richtet. Meine Antwort auf die Frage, ob BDS antisemitisch ist, würde sich in diesem Fall ändern.

Um was geht es der BDS-Bewegung konkret?

Aber nun zu den langfristigen strategischen Forderungen der BDS-Bewegung, die – ein weiterer Kritikpunkt – nirgends förmlich festgelegt sind. Einige von ihnen lauten:

„die ‚Besatzung und Kolonisierung allen besetzten arabischen Landes‘ beenden und die Mauer abreißen,

das ‚Grundrecht der arabisch-palästinensischen Bürger:innen Israels auf völlige Gleichheit‘ anerkennen,

und das Recht der palästinensischen Geflüchteten, in ihre Heimat und zu ihrem Eigentum zurückzukehren, zu respektieren, schützen und fördern, wie es in UN-Resolution 194 vereinbart worden sei“.

So sehr der Forderung nach völliger Gleichheit der arabisch-palästinensischen Bürger:innen Israels – zumal nach der Verabschiedung des sogenannten Nationalstaatsgesetzes aus dem Jahr 2018 – zuzustimmen ist, so sehr wäre es politisch notwendig, das in der UN-Resolution garantierte Rückkehrrecht zu präzisieren.

Tatsächlich kann eine realistische Forderung angesichts von mehr als siebzig Jahren seit der Vertreibung und Flucht der palästinensischen Araber:innen nicht mehr von einer Rückkehr in die beziehungsweise eine Rückgabe der exakt gleichen Häuser und Grundstücke ausgehen. Das „Recht auf Rückkehr“ kann daher nicht mit der faktischen Rückkehr gleichgesetzt werden – vielmehr kommt es darauf an, dieses Recht mit realistischen Kompensationsforderungen finanzieller Art umsetzbar zu machen.

Am Ende ist die Frage entscheidend: Wessen Land und welche Grenzen?

Völlig inakzeptabel aber ist die unscharfe, bewusst alles offen lassende Formulierung des ersten Ziels, „die Kolonisierung allen arabischen Landes zu beenden“. Hier schwanken die möglichen Deutungen zwischen allen Böden, die die zionistische Besiedlung seit Ende des 19. Jahrhunderts in Besitz genommen hat und den Ländereien, die israelisches Militär und militante Siedler:innen in der „Westbank“ seit 1967 in Besitz genommen haben. Auch hier kommt wieder zum Tragen, dass ohne Unterstützung wesentlicher Teile der israelisch-jüdischen Bevölkerung an keine Lösung des Konflikts zu denken ist. Deswegen wird sich die BDS-Bewegung zu einer präzisen Formulierung, um welches Land und welche Grenzen es geht, bequemen müssen.

Aus all diesen Gründen halte ich BDS zwar nicht für antisemitisch, aber für politisch weitgehend falsch.

 

[1] Dieses Vorgehen wird jedoch in FAQs der BDS-Kampagne explizit ausgeschlossen (Anm. d. Red.).

 

 

 

 

Dr. phil. Micha Brumlik, geb. 1947 ist ,Senior Advisor‘ am Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg und emeritierter Professor für Erziehungswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Von 2000 bis 2005 war er Leiter des Fritz Bauer Instituts, eines Studien- und Dokumentationszentrums zur Geschichte des Holocausts und...
Redigiert von dis:orient-Team