19.12.2017
Bibis Bürde: Netanjahu und der Siedlungsbau
Kein ideologischer Siedler - sondern getrieben von pragmatischen Argumenten: Benjamin Netanjahu. Foto: Russia Presidential Press and Information Office/Wikicommons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Prime_Minister_of_Israel_Benjamin_Netanyahu.jpeg#/media/File:Prime_Minister_of_Israel_Benjamin_Netanyahu.jpeg), Lizenz: CC BY 4.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0), Montage: Alsharq
Kein ideologischer Siedler - sondern getrieben von pragmatischen Argumenten: Benjamin Netanjahu. Foto: Russia Presidential Press and Information Office/Wikicommons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Prime_Minister_of_Israel_Benjamin_Netanyahu.jpeg#/media/File:Prime_Minister_of_Israel_Benjamin_Netanyahu.jpeg), Lizenz: CC BY 4.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0), Montage: Alsharq

Israels Premierminister Benjamin Netanjahu präsentiert sich in Fragen der Siedlungspolitik gern moderat. Dennoch wachsen die israelischen Siedlungen unter seiner Amtszeit weiter – starkem internationalen Protest zum Trotz. Wie lässt sich dieses Paradox erklären?

 Dieser Text ist Teil einer Serie zum Krieg von 1967. Alle Beiträge der Serie findet Ihr hier

Über Jahre brüstete sich der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu auf internationaler Ebene damit, während seiner Amtszeit seit 2009 keine neuen Siedlungen im besetzten Westjordanland und Ostjerusalem in Auftrag gegeben zu haben. Erst im Februar 2017 kündigte sein Kabinett an, als Reaktion auf die vom obersten israelischen Gericht anberaumte Räumung der Siedlung Amona eine komplett neue Siedlung zu gründen.

Dennoch wachsen die – nach Völkerrecht illegalen – Siedlungen seit Beginn von Netanjahus zweiter Amtszeit im Jahr 2009 weiter: Ende 2016 zählte die siedlungskritische israelische Nichtregierungsorganisation Peace Now 131 Siedlungen und über 90 illegale Außenposten – provisorische Siedlungen, oft nicht mehr als eine Baracke oder ein Bauwagen, errichtet von radikalen Gruppen. Diese Außenposten sind auch nach israelischem Recht illegal. Aber allzu oft legalisiert sie die israelische Regierung nachträglich und gliedert sie an bestehende Siedlungen an – eine Taktik, die auch in den letzten drei Kabinetten Netanjahus (2009-2013, 2013-2015 und 2015-heute) üblich war und die Behauptung, dass Israel unter Netanjahu keine neuen Siedlungen mehr gebaut habe, hinfällig werden lässt.

Die internationale Staatengemeinschaft hat ihren Ärger über die israelische Siedlungspolitik wiederholt geäußert und mithilfe von UN-Resolutionen adressiert. Schon in den 1970er Jahren hat der UN-Sicherheitsrat die ersten Siedlungen als „ernsthaftes Friedenshindernis“ verurteilt. Bis heute reißt diese Kritik nicht ab. Auch wenn die jüngste Verurteilung der Siedlungspraxis durch den UN-Sicherheitsrat im Dezember 2016 keine rechtlichen Auswirkungen hat, gilt der Image-Schaden für Israel als enorm. Die Vehemenz, mit welcher der Siedlungsbau voranschreitet, lässt nicht nur altbekannte Kritiker Israels den Kopf schütteln. Selten hat sich die US-Regierung klarer von der Praxis des israelischen Verbündeten distanziert, den Siedlungsbau als illegitim bezeichnet und durch seine Enthaltung – statt des US-üblichen Vetos – die UN-Resolution 2334 ermöglicht, in welcher die Siedlungen als illegal bezeichnet werden. Doch Israel baut fleißig weiter.

Netanjahu ist kein ideologischer Siedler

Dabei ist Netanjahu selbst kein klassischer Siedlungspolitiker. Im Gegensatz zum nationalreligiösen Lager innerhalb der Siedler*innenbewegung glaubt Netanjahu nicht an eine Erlösung durch Besiedlung. Wenig kümmert sich der israelische Premierminister um die Bedeutung Hebrons für das Judentum, und wenig wartet er auf die Ankunft des Messias. Entsprechend seiner Rolle als Politiker, der sich das Thema Sicherheit auf die Fahne geschrieben hat, ist Netanjahus Interesse an „Judäa“ und „Samaria“, so die Bezeichnung fürs Westjordanland in der Siedler*innenbewegung, eher irdischer Natur: Gemäß dem Allon-Plan von 1967, der die Besiedlung des Gebiets in erster Linie als Mittel sah, einen militärischen Präsenzblock an Israels Grenzen zu Jordanien und Ägypten zu ziehen, sind die Siedlungen für Netanjahu ein strategisches Mittel im Kampf gegen terroristische Angriffe und zur Sicherung der israelischen Bevölkerung –  so das Narrativ. Damit sind sie für den israelischen Premier aber auch antastbar, sobald die Rahmenbedingungen stimmen und Sicherheit gegeben ist. 

Von militärischen Stützpunkten zur Sicherheitsbekämpfung sind die Siedlungen derweil weit entfernt. Immerhin leben dort derzeit über 400.000 Menschen (Ostjerusalem ausgenommen), und ein nicht unerheblicher Teil davon nicht einmal aus ideologischen Gründen, sondern aus finanzieller Not oder politischer Gleichgültigkeit.

Das weiß auch Netanjahu. Dennoch macht der israelische Regierungschef selten Gebrauch von seinem politischen Recht, die Veröffentlichung neuer Bauausschreibungen zu untersagen oder einen generellen Bau-Stopp zu verhängen. Und das, obwohl der Likud-Vorsitzende in mehreren Friedensinitiativen gezeigt hat, dass er durchaus zu Einschränkungen im Siedlungsbau bereit ist: 2009 veranlasste Netanjahu auf Drängen der Obama-Regierung und gegen den Widerstand von Teilen seines Kabinetts einen neumonatigen Baustopp für neue Wohnblöcke innerhalb bestehender Siedlungen im Westjordanland; die Siedlungen in Ostjerusalem sowie bereits begonnene Ausbauten waren von dem „Freeze“ ausgenommen. Und erst kürzlich veröffentliche die linksliberale israelische Zeitung Ha’aretz Dokumente, aus denen hervorgeht, dass Netanjahu im Zuge der Friedensinitiative 2013-2014 durchaus bereit war, Siedlungsland im Falle eines Friedensabkommens zu evakuieren und an die Palästinensische Autonomiebehörde abzutreten. Ein echter Hardliner sieht anders aus.

Und trotzdem wachsen die Siedlungen weiter. Netanjahu bedient sich derweil seines fabelhaften Englischs und seiner geschulten Rhetorik, um der internationalen Gemeinschaft zu erklären, der Siedlungsbau sei kein Hindernis für den Frieden. Die palästinensische Forderung nach einer Evakuierung käme hingegen einem Aufruf zu „ethnic cleansing“ gleich.

Das israelische Parteiensystem begünstigt den Siedlungsbau

Der Grund dafür ist: Im fragilen israelischen Vielparteiensystem, in dem die Prozenthürde zum Eintritt in die Knesset bei nur 3.25 Prozent liegt, in dem Regierungskoalitionen aus bis zu acht Parteien keine Seltenheit sind und vorgezogene Neuwahlen an der Tagesordnung, haben kleine Parteien große Macht. Leicht können sie der amtierenden Regierung die Stimmen entziehen, wenn sie ihre Interessen nicht vertreten sehen – und neue politische Verbündete sind meist schnell gefunden.

In der Siedlungspolitik kommt dies der kleinen nationalreligiösen Partei HaBayit HaYehudi („jüdisches Heim“) zugute, die sich als Interessenvertretung der ideologischen Siedler*innen auf parteipolitischer Ebene versteht. Deren Parteivorsitzender Naftali Bennet, ehemaliger Direktor des Siedler*innen-Rats Yesha und lautstarker Befürworter einer teilweisen Annexion des Westjordanlands, wettert schon lange gegen Netanjahu – und gibt, wann immer die Siedlungspolitik international diskutiert wird, den „Koalitionspartner aus der Hölle“: Im Zuge der Friedensgespräche 2013-2014 kritisierte Bennet Netanjahus Umgang mit den Siedler*innen in den besetzten Gebieten als „ethical befuddlement“ [ethische Verwirrungstaktik]. Die Regierungskoalition, in der HaBayit HaYehudi eine Mehrheit sicherte, drohte zu zerbrechen. Und 2010, als die US-Regierung mit Außenministerin Hillary Clinton alles daransetzte, Netanjahu im Zuge der Friedensgespräche zu einer Verlängerung des Siedlungsbaustopps zu bewegen, drohte die Partei, sich aus der Koalition zurückzuziehen: Netanjahus Regierungsmehrheit war in Gefahr. Das israelische politische System macht es der Siedler*innenpartei einfach, in dieser Form Druck auf die eigene Regierungskoalition auszuüben und Zugeständnisse an die internationale Staatengemeinschaft im Bereich des Siedlungsbaus zu verhindern.

Das weiß auch der Premierminister: Während der Vorbereitung der Friedensgespräche mit den palästinensischen Vertretern machte Netanjahu dem US-amerikanischen Vermittler John. F. Kerry deutlich, dass sein Kabinett die von palästinensischer Seite geforderte Freilassung von 104 Gefangenen nur durch die Entstehung von 2000 neuen Wohneinheiten in den Siedlungen billigen würde.

Auch der Likud driftet nach rechts

Dabei übt nicht nur die Partei „Jüdisches Heim“ Druck auf den Regierungsvorsitzenden aus. Auch innerhalb Netanjahus eigener Partei gibt es Widerstand gegen Netanjahus „liberale“ Positionen. Immerhin hat sich der Premierminister bis dato nicht endgültig von der Zweistaatenlösung verabschiedet, obwohl deren Unmöglichkeit für viele Likudniks bereits politische Realität ist. Der Likud drängt nach rechts, das zeigt sich nicht erst, seit die derzeitige Kultusministerin Miri Regev Anfang 2014 einen Plan zur Teilannexion des Westjordanlands vorbrachte . Als der langjährige Likudpolitiker und Sohn des ehemaligen Regierungschefs Menachim Begin, Benny Begin, im November letztes Jahr gegen das Regulierungsgesetz stimmte, das die Enteignung palästinensischen Landes zur Nutzung für private Zwecke legalisiert, wurde er für mehrere Wochen suspendiert. In einem solchen Klima ist es aus Netanjahus Perspektive durchaus sinnvoll, sich nicht allzu liberal und friedensfreundlich zu präsentieren – auch wenn er derzeit keinen ernsthaften Herausforderer innerhalb der eigenen Partei zu befürchten hat. Inwiefern sich die derzeit laufenden Ermittlungen in verschiedenen Korruptionsverdachtsfällen auf Netanjahus Vormachtstellung auswirken, bleibt dabei abzuwarten.

Netanjahu ist pragmatisch – und will um jeden Willen im Amt bleiben. Erst kürzlich ließ der 67-jährige durchblicken, sich durchaus ein weiteres Jahrzehnt als Ministerpräsident vorstellen zu können. Um dieses Ziel in der volatilen israelischen Parteienlandschaft erreichen zu können, sind vor allem zwei Eigenschaften wichtig: inhaltliche Flexibilität – und die Bereitschaft, rechte politische Inhalte auch gegen die eigene politische Präferenz zu vertreten. So mag Netanjahu kein Siedler im klassischen Verständnis des Begriffs sein. Aber er ist Machtpolitiker genug, um die Bedeutung des Politikfelds in einer immer weiter nach rechts driftenden israelischen Gesellschaft zu erfassen und entsprechend zu handeln – immerhin 65 Prozent der jüdischen Israelis gehen davon aus, dass die Siedlungen einen positiven Beitrag für Israels Sicherheit leisten, und 61 Prozent halten das Westjordanland nicht für ein besetztes Gebiet. Dass Netanjahu dabei die Balance halten und die internationale Staatengemeinschaft besänftigen muss, die die israelische Siedlungspraxis als illegal verurteilt, ist „Bibis Bürde“.

Doch diese dürfte sich seit einigen Monaten leichter tragen lassen: Seit Donald Trump auf den Siedlungskritiker Obama gefolgt ist, reibt sich die israelische Rechte die Hände – zurecht, wie jüngst bei Trumps Jerusalem-Entscheidung zu sehen war. Schon mit der Wahl von Trump wurden Rufe nach einer sofortigen Teilannexion der West Bank laut. Und auch wenn die langfristige Nahoststrategie der neuen US-Regierung noch in den Sternen steht, sind sich die Siedlungsbefürworter*innen sicher, dass es innerhalb der internationalen Gemeinschaft nun einen Siedlungsgegner weniger gibt. Auch Netanjahu scheint zufrieden: Für ihn gibt es in seinem doppelten Spiel nun immerhin einen Gegenspieler weniger.

 

Quellen:

Birnbaum, Ben/ Tibon, Amir (2014): The Explosive, Inside Story of How John Kerry Built an Israel-Palestine Peace Plan—and Watched It Crumble. In: The New Republic, 21.07.2014. Text abrufbar unter: https://newrepublic.com/article/118751/how-israel-palestine-peace-deal-died (Zugriff am 04.09.2017)

Harkov, Lahav (2014): Ministers reject Regev proposal to annex Westbank settlements, in: Jerusalem Post, 09.02.2014. Text abrufbar unter: http://www.jpost.com/Diplomacy-and-Politics/Ministers-reject-Regev-proposal-to-annex-West-Bank-settlements-340844 (Zugriff am 04.09.2017)

Israeli Democracy Institute/ Guttman Research Center (2017): Monthly Peace Index. Statistiken abrufbar unter: http://www.peaceindex.org/files/Peace_Index_Data_May_2017-Eng.pdf (Zugriff am 04.09.2017).

Levinson, Chaim (2016): Likud Lawmaker Suspended From Knesset Committee After Voting Against Outpost Legalization Bill, in: Ha’aretz, 06.12.2016. Text abrufbar unter: http://www.haaretz.com/israel-news/1.757378, (Zugriff am 04.09.2017)

Netanyahu, Benjamin (2016): „No Jews“. Video abrufbar unter:  https://www.youtube.com/watch?v=G8CUFSHB114 (Zugriff am 04.09.2017)

Peace Now (2016): http://peacenow.org.il/en/settlements-watch/settlements-data/population (Zugriff am 04.09.2017).

Tibon, Amir (2017): Exclusive: Obama’s Detailed Plans for Mideast Peace Revealed - and How Everything Fell Apart, in: Haaretz (08.06.2017), Text abrufbar unter: http://www.haaretz.com/israel-news/.premium-1.794292 (Zugriff am 04.09.2017)

Verter, Yossi (2015): Netanyahu Isn’t Seeking Another Term. He's Thinking Decades, in: Ha’aretz, 15.09.2015. Text abrufbar unter: http://www.haaretz.com/israel-news/.premium-1.676444 (Zugriff 04.09.2017)

 

Ebenfalls in dieser Serie erschienen:

Alsharq-Serie „1967: 50 Jahre danach.“ Eine Art Vorwort.

Die Vorgeschichte: Wie es 1967 zum Krieg zwischen Israel und seinen Nachbarn kam

Die Kampfhandlungen: Wie Israel 1967 seine Nachbarn überrumpelte

Der Kriegsbeginn 1967 in der Nahost-Presse: Euphorie überall

Fortsetzung der Presseschau: Stell Dir vor, es ist Kriegsende und kaum einer schreibt es

Die Folgen des Juni-Kriegs 1967,in Israel

1967: Wendepunkt für die arabische Linke – am Beispiel von Georges Tarabischi

Die Folgen von 1967 in Ägypten: Nach dem Krieg ist vor dem Krieg

Nasser und der Krieg 1967: Zwischen politischem Kalkül und Improvisation

Wenn über Erinnerungen Gras wächst – palästinensische Ruinen im Ayalon Canada Park

Israel und die Golan-Drusen: 50 Jahre Provisorium

1967 – Als der Zionismus in die eigene Falle ging

Folgen von 1967 in Jordanien: Eine palästinensische Identität entsteht

Vom Messianismus zur Mittelklasse: Israelische Siedlungen im Westjordanland

Ein deutscher Sieg? Verdächtiger Enthusiasmus im Krieg von 1967

Die neuen Pioniere: Siedler im Westjordanland als Erben des Arbeiterzionismus 

Über 50 Jahre Mauern im Kopf: Der intra-konfessionelle Streit um die Klagemauer

Gedanken vom Rand des Gazastreifens: „Das Leben ist hier und dort unmöglich

50 Jahre nach 1967: Wie die Besatzung aus dem Bewusstsein verschwindet

Charlie hat 2017 das erste Mal für das Magazin geschrieben und ist seit Anfang 2018 fest dabei. In ihrem Studium der Politik- und Nahoststudien hat sie sich schwerpunktmäßig mit der Innen- und Siedlungspolitik Israels befasst. Bei dis:orient schreibt und redigiert sie und ist Teil des Rezensionsteams.