30.09.2022
Blackout für Brot
Wohin fließt der Strom und wo wird es dunkel? In einer von Abhängigkeiten geprägten Welt - immer dem Geld nach. Grafik: Zaide Kutay
Wohin fließt der Strom und wo wird es dunkel? In einer von Abhängigkeiten geprägten Welt - immer dem Geld nach. Grafik: Zaide Kutay

Damit in Europa nicht der Strom ausfällt, schaltet Ägypten ihn ab. Dahinter steckt eine altbekannte Machtdynamik, bei der Europa von der Verschuldung des Globalen Südens profitiert, kritisiert Hannah El-Hitami.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Ägypten hat den Energiesparmodus aktiviert: Nur noch jede zweite Straßenlaterne soll nachts brennen. Geschäfte und Malls müssen ihre Klimaanlagen auf 25 Grad begrenzen und weniger helles Licht nutzen. Ministerien und staatliche Gebäude dürfen nach Feierabend nicht mehr das Licht anlassen, und Sportveranstaltungen sollen tagsüber stattfinden, damit sie keine Beleuchtung benötigen. So hat es die ägyptische Regierung im August festgelegt und angekündigt, genau zu prüfen, ob die Maßnahmen umgesetzt werden. Es geht ihr dabei aber nicht darum, Strom zu sparen, weil nicht genug da ist. Nein, der Strom soll gespart werden, weil es lukrativer ist, ihn nach Europa zu verkaufen.

Während in Deutschland darüber diskutiert wird, wann uns der „Blackout“ erreicht und ob die Polizei dann mit Eskalation und Unruhe in der Bevölkerung rechnen muss, hat Ägypten sich bereits ohne großen Aufruhr in den Stromsparmodus begeben. Das Land hat nämlich ganz andere Probleme als ein paar Stunden ohne Licht oder Klimaanlage: Es benötigt dringend ausländische Devisen, um die Versorgung seiner 100-Millionen-Bevölkerung zu sichern. An der Debatte um den Stromausfall zeigt sich wieder einmal eine altbekannte Machtdynamik: Länder des Globalen Südens verkaufen ihre besten und knappsten Produkte an Europa, um sich selbst das Allernötigste leisten zu können.

Das Beste wird exportiert

Ägypten steckt seit Jahren tief in der Wirtschaftskrise. Die Inflation erreichte im August 15,3 Prozent – mehr als doppelt so viel wie vor einem Jahr. Während die Regierung Millionenbeträge in fragwürdige Prunk-Projekte steckt, ist das ägyptische Pfund weniger wert denn je und die Reserven ausländischer Devisen schrumpfen rapide. Das bedeutet, Ägypten ist immer weniger dazu in der Lage, für Importe zu bezahlen – darunter Grundnahrungsmittel wie Weizen, aber auch Alltagsgüter wie Kleidung oder Autos.

Der Internationale Währungsfonds präsentiert weitere Kredite als einzigen Ausweg. Diese würden Ägypten noch tiefer in die Schuldenfalle ziehen und sind standardmäßig an Austeritätsmaßnahmen geknüpft. Kein Wunder also, dass der Verkauf des eigenen Stroms in Form von Erdgas als willkommene Alternative erscheint. Laut dem ägyptischen Premierminister Mostafa Madbouly könne Gas auf dem internationalen Markt zehnmal so teuer verkauft werden wie im Land selbst.

In Ägypten hört man nur leise Kritik gegenüber den Sparmaßnahmen: Ladenbesitzer:innen beklagen weniger Kundschaft, vereinzelt werden Befürchtungen vor erhöhter Kriminalität in dunkleren Straßen geäußert. Doch im Großen und Ganzen könnte der Umschwung auf dem internationalen Gasmarkt eine Chance für Ägypten sein – oder zumindest gegen akuten Mangel helfen. Europa freut sich indes über jede neue Gaslieferung und schert sich dabei herzlich wenig, um die Menschen- und Völkerrechtsverstöße neuer Partner:innen.

Doch auch wenn sowohl Ägypten als auch Deutschland von dem Gasverkauf zu profitieren scheinen, handelt es sich hierbei nicht um eine Win-win-Situation. Sie schreibt stattdessen eine Ausbeutungslogik fort, nach der Länder wie Ägypten seit Jahrzehnten abhängig gehalten werden. So sitzen sie bei Verhandlungen an einem ziemlich kurzen Hebel und müssen ihre besten Güter zu schlechten Bedingungen hergeben.

Auch für viele andere Länder in Westasien und Nordafrika ist klar, dass die knappsten Ressourcen und die Produkte mit der höchsten Qualität nicht der Bevölkerung zugutekommen, sondern für den Export vorgesehen sind. Bei traditionellen landwirtschaftlichen Produkten der Region, wie Datteln oder Oliven zum Beispiel, bekommen die Menschen im Land oft nur die Früchte zweiter Klasse, während die beste Qualität im Ausland landet.

In einer Militärdiktatur wie Ägypten bleibt den betroffenen Menschen nichts anderes übrig als das zu akzeptieren. Ohnehin dürfte auch ihnen bezahlbares Brot wichtiger sein als ein hell erleuchtetes Fußballstadion. Aber sie können im Krisenfall eben nur eins von beidem haben, während bei uns in Deutschland alles jederzeit verfügbar sein muss. Dass für unsere lückenlose Versorgung anderswo Menschen verzichten, scheinen viele als Normalzustand akzeptiert zu haben.

Hauptsache bei uns

Im Vergleich zur Situation in Ägypten wirkt es teilweise absurd, mit welcher Nervosität in Deutschland über potentielle Stromausfälle gesprochen wird – zumal diese sehr unwahrscheinlich sind und nur beim Eintreten mehrerer extremer Faktoren tatsächlich vorkommen würden. Währenddessen gehören Stromausfälle in vielen Ländern der Welt zum Alltag. In Südafrika wird seit vielen Jahren gezielt der Strom abgestellt, um zu sparen. Im Libanon ist die Stromversorgung seit Jahrzehnten sehr lückenhaft. Und in Ägypten mussten sich die Menschen insbesondere in den Jahren nach 2011 mit zeitweise täglichen Stromausfällen arrangieren. Aber natürlich nützt es nichts, die Probleme von Menschen in unterschiedlichen Ländern gegeneinander aufzuwiegen. Jeder Mensch hat Angst davor, dass sein Lebensstandard sich verschlechtern könnte – egal, ob das ein paar Stunden Dunkelheit bedeutet oder einen Laib Brot weniger auf dem Tisch.

Trotzdem offenbart der Vergleich zwischen Deutschland und Ägypten in puncto Stromausfall eine strukturelle Ungleichheit, die sich in Zukunft noch verschärfen könnte. Denn abgesehen von unvorhersehbaren Ereignissen wie Kriegen oder Pandemien hält vor allem die Klimakrise noch so einige Knappheiten bereit: ob an Wasser, Treibstoff oder Lebensraum. Wären wir als Weltgemeinschaft solidarisch, könnten wir dafür kreative Lösungen finden. Doch statt uns an den Gedanken zu gewöhnen, dass wir phasenweise auf bestimmte Dinge verzichten müssen, ruhen wir uns in Deutschland und Europa auf der Gewissheit aus, dass wir die letzten sein werden, denen es an etwas mangelt. Alles, was knapp ist, wird sich in den Ländern konzentrieren, wo das Geld herkommt. Die ehemals kolonisierten Länder bleiben indes damit beschäftigt, die schlimmsten Auswirkungen ihrer ewigen Abhängigkeit zu lindern.

 

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

 

 

 

 

 

Hannah El-Hitami, Jahrgang 1991, ist freie Journalistin in Berlin und schreibt vor allem über arabische Länder, Migration und koloniales Unrecht. Sie studierte Arabische Literatur und Kultur in Marburg und war Volontärin des Amnesty Journals. www.hannahelhitami.com/  
Redigiert von Johanna Luther, Maximilian Ellebrecht