14.12.2015
Capoeira in Palästina: Das Recht auf Bewegungsfreiheit
Capoeira auf den Dächern Ramallahs. Photo: https://capoeirapalestine.wordpress.com
Capoeira auf den Dächern Ramallahs. Photo: https://capoeirapalestine.wordpress.com

Die traditionelle afro-brasilianische Kampfkunst Capoeira entstand aus dem Kontext des Widerstands gegen Sklaverei und Rassismus in Brasilien. In einem persönlichen Bericht schildert der Palästinenser Ramzy Natsheh, wie Capoeira sein Leben verändert hat und weshalb es für ihn nicht nur eine Sportart, sondern ebenso ein Mittel des friedlichen Widerstands ist.

Als ich sieben Jahre alt war, erlebte ich die zweite Intifada (2000-2005). Ich wohne in einer kleinen Stadt in der Nähe von Ramallah, die unter israelischer Verwaltung steht. Zur Schule ging ich in Jerusalem, was bedeutete, dass ich jeden Tag den Qalandiya Checkpoint überqueren musste, um dorthin zu gelangen. Ich musste auch durch den Checkpoint, um Mohammed zu sehen, meinen Cousin, der aber eigentlich eher wie ein Zwillingsbruder für mich ist. Wir machen alles gemeinsam. Mohammed lebte damals direkt hinter dem Checkpoint und die Soldaten standen die ganze Zeit vor seinem Haus, weshalb wir uns zwei Jahre lang fast gar nicht sehen konnten.

Es war für mich eine sehr schwierige Zeit; ich habe während der Intifada viele schreckliche Dinge gesehen und war danach vier Jahre in therapeutischer Behandlung, um wieder ein halbwegs normaler Menschen zu werden.

 Capoeirapalestine.wordpress.com Ramzy und die israelische Sperranlage in Bethlehem. Foto: Capoeirapalestine.wordpress.com

 

„Beim Training lag immer eine Spur Hass in der Luft“

Mohammed und ich, wir lieben Sport und Bewegung. Wir hörten, dass es in West-Jerusalem Capoeira-Unterricht gab und wir wollten unbedingt dorthin, um es zu lernen. Das war 2009. Eigentlich war es nach West-Jerusalem nicht weit, wenn man die Distanz betrachtet. Aber wegen der vielen Checkpoints auf dem Weg und den wechselnden Transportsystemen zwischen Ost- und Westjerusalem brauchten wir jedes Mal sehr lange dorthin und mussten direkt nach der Schule aufbrechen. Auf dem Hinweg mussten wir vier Mal umsteigen, um den Ort zu erreichen, und dasselbe um wieder nach Hause zu kommen wo wir erst um Mitternacht ankamen. Das nahm sehr viel Zeit in Anspruch.

Deshalb gründeten wir nach ein paar Jahren ein eigenes Capoeira-Zentrum in Ost-Jerusalem. Die Israelis wollten das Viertel besetzen, und um unseren Raum zu behalten, mussten wir zusehen, dass er so oft wie möglich belegt war. Deshalb gab es verschiedene Gruppen, die ihn nutzten.

Die meisten der Capoeiristas waren Israelis. Mohammed und ich fühlten uns nicht wohl mit ihnen. Es ist schwierig, mit jemandem zu trainieren, von dem du weißt, dass sein Vater oder Großvater jemanden aus seinem Heim vertrieben hatte, dass er selbst dich eines Tages vielleicht aus deinem eigenen Heim vertreiben wird. Und selbst wenn er persönlich oder seine Familie unschuldig sind, so profitieren sie dennoch vom Diebstahl der Anderen. Es war nicht leicht, beim Training lag immer eine Spur von Hass in der Luft. Und wir waren uns sicher, dass das Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte; sie hassten uns und wir hassten sie. Das sah man beispielsweise in den Rodas (Anm. der Übersetzerin: Rhoda bezeichnet einen Kreis von Capoeiristas und Musikern, in dem immer zwei Capoeiristas einen Kampf austragen): Die Israelis jubelten für ihren Capoeirista und wir für unseren.

Der Unterricht war sehr anspruchsvoll. Wir trainierten Cordão de Ouro, das ist eine Art von Capoeira mit viel Akrobatik und Sprüngen. Selbst im Unterricht konnten wir eine Spur von Rassismus spüren: Der israelische Lehrer erklärte uns Palästinensern die Bewegung immer nur ein paar Minuten lang, während er sich bei den Israelis viel mehr Zeit ließ. Aber dennoch machten wir weiter.

Bidna Capoeira und die Capoeira Freedem Collective

Eines Tages fanden wir heraus, dass es in Palästina ein soziales Projekt namens Bidna Capoeira gab, das kostenlosen Capoeira-Unterricht in palästinensischen Flüchtlingslagern in der Westbank organisierte und auch einen Kurs in Ramallah anbot. Mohammed und ich traten der Gruppe 2012 bei und lernten dort viele nette Leute kennen. Der Kurs wurde von dem Brasilianer Jorge Goia geleitet, der Lehrer für Bidna war. In Goia fanden wir einen großartigen Lehrer, der uns nicht nur die sportliche Seite, sondern auch die Philosophie hinter Capoeira näherbrachte. Goia war mehr als ein Lehrer, er war ein Freund und wir gingen oft nach dem Training zu ihm nach Hause, sangen und machten Musik.

Als Goia Palästina 2013 verließ, wurde auch der Bidna-Kurs in Ramallah geschlossen. Die Gruppe wollte aber weiter machen, deshalb übernahm Peruca, ein kanadischer Freund und Capoeirista, die Gruppenleitung und gab die Kurse. Wir gründeten gemeinsam die Capoeira Freedom Collective. (Anmerkung der Übersetzerin: Die Capoeira Freedom Collective Palestine (CFCP) bezieht sich auf die der Capoeira zugrunde liegende Philosophie von Freiheit und Widerstand gegen Unterdrückung und sieht in Capoeira nicht nur eine Sportart, sondern einen politischen Akt.)

Noch im selben Jahr veranstalteten wir ein internationales Capoeira-Treffen in der Westbank, um auf die politische Situation im Land aufmerksam zu machen. Es kamen viele Capoeiristas aus den unterschiedlichsten Ländern der Welt zusammen. Wir reisten gemeinsam durch die Westbank und spielten zusammen Capoeira.

Am 29. November 2013, dem „Internationalen Tag der Solidarität mit den Palästinensern“, organisierten unsere FreundInnen und viele Capoeiristas aus aller Welt Solidaritäts-Rodas in ihrer Heimat, um auf die andauernde israelische Besatzung Palästinas und die Gewalttaten der Israelis aufmerksam zu machen. Ein Jahr später fanden in 17 verschiedenen Ländern der Welt Rodas statt, und auch in diesem Jahr hatten wir wieder zu Solidaritäts-Rodas am 29. November aufgerufen.

„Wir glauben, dass Capoeira viel mehr als eine Sportart ist“

Es fühlt sich gut an zu sehen, dass es Menschen gibt, die unsere Geschichte kennen und unseren Kampf unterstützen.

Für Mohammed und mich ist die CFCP der beste Weg, unser Volk zu unterstützen. Wir sind nicht die Sorte Mensch, die eine Waffe tragen und kämpfen. Wir haben zu viel zu verlieren, als dass wir auf diese Weise Widerstand leisten wollen. Stattdessen nutzen wir Capoeira, um unsere Botschaften in die Welt zu tragen. Und wir glauben, dass Capoeira viel mehr als eine Sportart ist.

Capoeira hat mich in vielerlei Hinsicht zum Positiven beeinflusst. Ich habe viele Freundschaften geknüpft, mit Palästinensern und mit Menschen aus anderen Ländern. Meine Capoeira-Freunde sind meine besten Freunde, die Capoeira-Community ist mein Leben.

Wenn ich nach einem langen Arbeitstag von Jerusalem nach Hause nach Ramallah fahre, und dabei an jeder Ecke und an jedem Checkpoint von Soldaten und Polizisten überprüft werde, dann hilft es mir zu wissen, dass ich abends noch mit meinen Freunden Capoeira spielen werde. Das Tanzen hilft mir dabei, negative Energien los zu werden. Ich glaube, Capoeira ist für mich der einzige Grund, weshalb ich noch am Leben bin.

 

Dieser Artikel erschien zunächst auf Englisch auf capoeirapalestine.wordpress.com.

Mitarbeit: Mohammed H. Zughaiar

Übersetztung: Laura Overmeyer

 

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