02.07.2013
Die Armee gegen Mursi - Das kurze Gedächtnis der Ägypter
Graffito eines Opfers des Stadionmassakers von Port Said
Graffito eines Opfers des Stadionmassakers von Port Said

Die Armee übernimmt wieder das Kommando in Ägypten. Das Militär hat Präsident Mohammed Mursi seiner Macht beraubt - und die Menschen auf den Straßen jubeln. Doch die ägyptische Armee hat längst bewiesen, dass sie unfähig ist, das Land zu führen. Für die Entwicklung des Landes lässt das nichts Gutes erwarten.

Es waren Bilder, wie sie Ägypten zuletzt vor mehr als zwei Jahren erlebt hat. Jubelnde Menschen, hupende Autos, Feuerwerk, das in den Himmel steigt – am Montagnachmittag war die Freude in Kairo und anderen ägyptischen Städten gewaltig.

Der Grund für den ausgelassenen Jubel: Die Armee hat Präsident Mohammed Mursi de facto die Macht aus den Händen genommen. In einer Fernsehansprache des Verteidigungsministers Abd al-Fatah al-Sisi gab der Oberste Militärrat (SCAF) der Politik 48 Stunden Zeit, „die Forderungen des Volkes“ zu erfüllen. Auch wenn der Name des Präsidenten in der Erklärung kein einziges Mal fällt, ist die Botschaft dahinter klar: Wenn die Regierungsgegner, die am Sonntag mehr Menschen auf die Straße gebracht hatten als während des Aufstands gegen Mubarak, den Druck bis Mittwochnachmittag aufrechterhalten, wird Mursi entmachtet.

Die Muslimbrüder haben nach derzeitigem Stand nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder sie setzen bis dahin Mursi ab und nominieren einen anderen Präsidenten – oder sie rufen selbst vorzeitige Neuwahlen aus.

Die Armee ist für schwere Menschenrechtsverstöße verantwortlich

In jedem Fall ist die Armee auf absehbare Zeit wieder der wichtigste politische Akteur am Nil. Sie hat angekündigt, einen politischen Fahrplan vorzulegen, falls – wie zu erwarten – bis Mittwochnachmittag Muslimbrüder und Opposition sich nicht auf einen Kompromiss einigen können. Wie dieser Fahrplan aussehen soll, ist fraglich.

Doch die Erfahrung der 16 Monate zwischen Februar 2011 und Juni 2012, in denen das Militär schon einmal das Land führte, lässt nichts Gutes erwarten – dem Jubel vieler Ägypter zum Trotz. Denn damit übernehmen wieder jene die Kontrolle über Ägypten, die für Massaker und Menschenrechtsverstöße verantwortlich sind, welche die Verfehlungen der Mursi-Regierung bei weitem in den Schatten stellen. Die Armee trägt unter anderem die Verantwortung für:

- die brutale Räumung des Tahrir-Platzes;
- die rücksichtslose Niederschlagung der Straßenkämpfe auf der Mohammed-Mahmud-Straße in Kairo;
- das Massaker gegen christliche Demonstranten in Maspero;
- das tatenlose Zusehen beim Massaker gegen Fußballfans in Port Said;
- „Jungfräulichkeitstests“ an ägyptischen Demonstrantinnen;
- die Verhaftung von mehr als zehntausend Ägyptern und ihre rechtswidrige Verurteilung durch Militärtribunale.

Dazu kommt noch die seit Jahrzehnten bestehende Kontrolle des Militärs über weite Teile der ägyptischen Wirtschaft, die maßgeblich dazu beiträgt, dass die Vermögen im Land extrem ungleich verteilt sind und Millionen Menschen vom ohnehin bescheidenen Aufschwung abgekoppelt wurden.

Die Opposition setzt auf den Putsch

Kurzum: Das Schicksal der 85 Millionen Ägypter liegt wieder in den Händen derer, die maßgeblich Schuld an der derzeitigen desaströsen Lage haben. Trotzdem sind viele Ägypter glücklich über die Intervention des Militärs, weil sie die Armee für die einzige Institution halten, die derzeit dazu in der Lage sei, das Land zu führen.

Das Schlimme ist: Wahrscheinlich haben sie damit sogar recht. Mohammed Mursi und die Muslimbrüder haben Ägypten in einer schwierigen Lage übernommen und es nicht verstanden, die Probleme des Landes anzugehen. Obwohl nur von einer knappen Mehrheit der Wähler ins Amt gehoben, agierte Mursi wie ein Präsident, der allein den Muslimbrüdern und ihren Anhängern verpflichtet ist.

Doch die Opposition hat es allen Beteuerungen zum Trotz wie schon vor der Präsidentenwahl 2012 nicht geschafft, sich zu einigen und eine alternative Vision für ein zukünftiges Ägypten zu liefern. Prominente Oppositionelle wie Mohammed ElBaradei und Amr Mussa stilisieren sich zwar immer als Präsidenten im Wartestand, doch sie führen die Regierungsgegner nicht – sie versuchen nur, auf der Protestwelle zu segeln, die vom Bündnis „Tamarod“ initiiert wurde. Die Opposition hat darauf gesetzt, dass sich die Armee auf ihre Seite schlagen würde – einen Plan, der darüber hinausgeht, hat sie nicht. Und das Vertrauen ins Militär wurde schon einmal enttäuscht.

Die Muslimbrüder werden Mursis Sturz nicht widerstandslos hinnehmen

Vor allen Dingen ist niemand in Sicht, der das polarisierte Land einen könnte. Denn auch wenn in den vergangenen Tagen Millionen Ägypter gegen Mursi und die Muslimbrüder auf die Straße gegangen sind: Es gibt auch Millionen, die noch immer fest hinter dem Präsidenten stehen, der in Wahlen gekürt wurde, die allgemein als frei und fair bewertet wurden. Das Vertrauen in Wahlen und demokratische Institutionen dürfte durch die Militärintervention nicht gerade gestärkt werden – übrigens über die Grenzen Ägyptens hinaus.

Tausende Muslimbrüder haben unter dem Mubarak-Regime jahrelang im Gefängnis gesessen und Folter über sich ergehen lassen. Viele halten Mursi als gottesfürchtigen Muslim ohnehin für einen Führer, der über jeden Zweifel erhaben ist und nicht in Frage gestellt werden darf. Diese Anhängerschaft wird den nahenden Sturz ihres Präsidenten kaum widerstandslos hinnehmen.

Man kann Mursi daher ablehnen und den Mut der Millionen Demonstranten in Kairo, Alexandria, Beni Suef und anderen Orten bewundern. Für das demokratische Experiment in Ägypten ist das Einschreiten der Armee dennoch verheerend.