23.04.2023
Die ersten 100 Tage der neuen israelischen Regierung
Israels Regierung nach 100 Tagen im Amt. Bild: Claire DT/KI
Israels Regierung nach 100 Tagen im Amt. Bild: Claire DT/KI

Die Abraham-Abkommen kommen schleppend voran, die Sicherheitslage im Land ist kritisch und die Justizreform spaltet die Gesellschaft.

Die Bewertung einer Regierung nach den ersten 100 Tagen gründet auf der Annahme, dass die strategischen Ziele in dieser Zeit gesetzt und erste Erfolge sich bereits eingestellt haben sollten. Andernfalls sei die Legislaturperiode zum Scheitern verurteilt. Zwar ist die 100-Tage-Regel empirisch fragwürdig, im Falle der häufig wechselnden israelischen Regierungen ermöglicht sie jedoch, auf eine Reihe unterschiedlicher Berichte zurückzugreifen, die sich mit den ersten hundert Tagen unterschiedlicher – von Benjamin Netanjahu geführter – israelischer Regierungen beschäftigen.

Vergleicht man die Berichte, weisen sie sowohl untereinander als auch zur Bilanz der aktuellen Regierung zahlreiche Parallelen auf. Beobachter:innen zeigten sich zumeist nach kurzer Zeit enttäuscht von Netanjahus jeweiliger Regierungskoalition und bemängeln reale Fortschritte. Die Themen sind seit eh und je die gleichen:

Zum sechsten Mal das Gleiche

Seit Netanjahus erstem Amtsantritt als Premierminister im Jahr 1996, beklagen die Beobachter:innen die fehlende Bereitschaft zum Dialog im Friedensprozess und später die mangelnden Perspektiven zu Verhandlungen mit den Palästinenser:innen. Alle Jahre wieder hagelt es Kritik für ein aufgeblähtes und zu teures Kabinett mit einer Reihe unerfahrener und fachfremder Minister:innen. Besonders aktuell erscheint der wiederkehrende Vorwurf, rechte Kräfte zu legitimieren und den allgemeinen Rechtsruck der israelischen Parteienlandschaft durch die Wahl eigener Koalitionspartner zu befördern.

Auch ein angespanntes Verhältnis zu den USA von Anbeginn der Amtszeit an ist kein neues Phänomen. Im Jahr 2009 verlangte der damalige US-Präsident Barack Obama von Netanjahu einen Siedlungsstopp im Westjordanland und stoß mit dieser Forderung auf Widerstand. Die gegenwärtige Beziehung zwischen Netanjahu und Biden ist vergleichbar schlecht. Netanjahu wartet seit Amtsantritt im November 2022 immer noch auf eine Einladung nach Washington – obwohl er aufgrund der langjährigen Bekanntschaft mit dem US-Präsidenten zu Amtsbeginn einen erheblichen Vertrauensvorschuss genoss.

Dass eine israelische Regierung unter Netanjahu nach hundert Tagen im Amt in der öffentlichen Meinung eher schlecht abschneidet, belegen Umfrageergebnisse von damals und heute. 2009 rutschte Netanjahu in Umfragen hinter den damaligen Verteidigungsminister Ehud Barak. Nach den Erhebungen von Anfang April diesen Jahres steht er mittlerweile hinter dem ehemaligen General und alternierendem Ministerpräsidenten Benny Gantz sowie dem Oppositionsführer Yair Lapid.

Die verfehlten Ziele der jetzigen Regierung

In seiner Antrittsrede sowie der ersten Sitzung des derzeitigen Kabinetts am 29. Dezember 2022 formulierte Netanjahu mehrere Ziele. Darunter die Verhinderung eines nuklearen Irans, die Ausweitung der Beziehungen mit arabischen Staaten innerhalb der Abraham-Abkommen sowie die Stärkung der inneren Sicherheit. Alles Themen, auf die sich die Mehrheit der israelischen Bürger:innen, ungeachtet ihrer Haltung zur aktuellen Regierung, einigen können. Doch nach 100 Tagen ist die Bilanz ernüchternd: Iran verbesserte seine geopolitische Position und auch in Bezug auf das Abraham-Abkommen und die Sicherheit im Land sind viele Befragte der Ansicht, dass die israelische Regierung eher hinderlich als förderlich agiere. Noch zu Beginn der neuen Regierungszeit war Saudi-Arabien als potenzieller Kandidat für die Aufnahme offizieller Beziehungen mit Israel im Rahmen der Abraham-Abkommen im Gespräch. Nicht nur, dass sich diese Hoffnung bislang nicht erfüllt hat, stattdessen findet gegenwärtig eine Wiederannäherung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran statt – was das von Israel favorisierte Szenario einer gemeinsamen regionalen Sicherheitsarchitektur mit den Saudis in weite Ferne rücken lässt. Auch die Beziehungen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) wurden entgegen der formulierten Regierungsziele nicht weiter vertieft. Die ohnehin schwierigen nachbarschaftlichen Beziehungen mit Jordanien erfuhren einen neuen Tiefpunkt.

Verantwortlich dafür waren unter anderem das Vorgehen der rechtsreligiösen israelischen Regierung in den besetzen Gebieten, gewaltsame Ausschreitungen von radikalen Siedler:innen im palästinensischen Dorf Huwara sowie der Umgang mit den heiligen muslimischen Stätten in Jerusalem während des Fastenmonats Ramadan, die in Saudi-Arabien, VAE, Jordanien und weiteren Teilen der arabischen Welt eine öffentliche Verurteilung nach sich zogen.

Chaos und Einzelinteressen

Das Verhältnis beschädigten zudem die Auftritte einzelner israelischer Kabinettsmitglieder, wie beispielsweise von Finanzminister Bezalel Smotrich, der bei seinem Besuch in Paris die Existenz des palästinensischen Volkes verneinte, während sein Sprechpult die Karte eines Großisraels einschließlich Jordaniens zeigte. Und auch Verkehrsministerin Miri Regev geriet in die Kritik, nachdem sie sich auf einer Konferenz öffentlich negativ über Dubai äußerte. Besonders schädlich war der provokative Aufstieg auf den Tempelberg des extremistischen Ministers für nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir, gleich zu Beginn seiner Amtszeit am dritten Januar. All diese Vorgänge brachten Netanjahu dazu, auf Twitter öffentliche Schadensbegrenzungen vorzunehmen.

Der Anschein einer chaotischen Regierung mit lauter Einzelinteressen veranlasste darüber hinaus die Vereinigten Arabische Emirate (VAE) dazu, die Einladung an Netanjahu bislang bereits mehrmals zu verschieben, da es ihm nicht gelang, sein Kabinett auf Linie zu bringen. In Jordanien wurde sogar die Ausweisung des israelischen Botschafters gefordert.

Zeitgleich verschlechterte sich die Sicherheitssituation von Israelis dramatisch. Seit Jahresbeginn sind über 15 jüdische Israelis in Terrorattacken getötet worden. Die Anzahl der Opfer tödlicher Auseinandersetzungen innerhalb des sogenannten arabischen Sektors, d.h. unter arabischen Israelis, ist doppelt so hoch wie letztes Jahr zum gleichen Zeitpunkt. Die Sicherheit der Palästinenser:innen in den besetzen Gebieten ist ohnehin kein Ziel dieser Regierung. Zudem waren mehrere Gesetze und Initiativen darauf gerichtet, das Leben der Palästinenser:innen in der West Bank zusätzlich zu erschweren – mit Sanktionen gegen die Palästinensische Autonomiebehörde, einem beschleunigten Bau weiterer Siedlungseinheiten sowie der teilweisen Annullierung des Rückzugsgesetzes von 2005, bei der im Zuge der Räumung des Gazastreifens vier israelische Siedlungen in der nördlichen West Bank geräumt werden mussten.

Die Auseinandersetzung um die Justizreform

Die heftigste Entwicklung der ersten hundert Tage ist jedoch die öffentliche Auseinandersetzung um die Justizreform, die bereits in der ersten Regierungswoche vom Justizminister Yariv Levin aus dem Likud angekündigt wurde, ohne dass im Wahlkampf der Partei davon die Rede gewesen wäre. Im Zentrum der Reform steht die Schwächung der Judikative, nach der die Richter des Obersten Gerichts einerseits politisch besetzt werden sollen und andererseits durch die Mehrheit der Knesset-Abgeordneten überstimmt werden können.

Der Widerstand gegen die vermeintliche Reform, die von ihren Gegnern lieber als Putsch bezeichnet wird, führte zu wochenlangen Demonstrationen. Die Debatte mobilisierte Hunderttausende Israelis aus Wirtschaft, Wissenschaft, Armee und anderen Bereichen, einschließlich der Gewerkschaften. Das Ausmaß der Proteste war so groß, dass die Arbeitsfähigkeit einzelner staatlicher (Sicherheits-)Institutionen als gefährdet angesehen wurde. Als Reaktion auf die Proteste eskalierte ein Zuständigkeitsstreit zwischen der Polizei und dem Ministerium für nationale Sicherheit, sowie dem Premierminister und der Generalstaatsanwältin.

Eine drohende Regierungskrise, eine irritierte Wirtschaft, sowie heftige Kritik aus In- und Ausland brachten Netanjahu am 27. März dazu, die Reform erst einmal auszusetzen. Präzedenzlos waren die besorgten Äußerungen aus der jüdischen Diaspora, deren etablierte Institutionen sich sonst mit öffentlichen Kommentaren zu Israel zurückhalten. Die Demonstrationen gehen jedoch weiter. Mittlerweile protestieren auch die Befürworter:innen der Reform. Für beide Seiten hat sich die Auseinandersetzung zu einem Kampf über den zukünftigen Charakter des Staates ausgeweitet.

Die Bilanz ist ernüchternd

Die ersten 100 Tage der neuen Regierung zeichnen also ingesamt ein wenig erfreuliches Bild. In der kurzen Zeit legte die Regierung um Netanjahu in außen- wie sicherheitspolitischen Fragen ihr Unvermögen offen und vertiefte zudem die Spaltung innerhalb der israelischen Gesellschaft. Nach knapp hundert Tagen im Amt musste die israelische Regierung zusätzlich auf Angriffe aus Gaza, dem südlichen Libanon und der syrischen Grenzregion gleichzeitig reagieren. Verschiedene von Iran unterstützte Terrorgruppen, Hamas und Hizbollah nutzten die Gelegenheit, um vereint in einer dreifachen Front an ihre Anwesenheit zu erinnern. Es bleibt zu hoffen, dass der Rückschluss der ersten hundert Tage auf die gesamte Legislatur sich auch dieses Mal als falsch erweist.

 

 

 

Lidia Averbukh arbeitet seit Jahren zur israelischen Innen- und Außenpolitik sowie den deutsch-israelischen Beziehungen. 2021 wurde sie an der Bundesuniversität München über das israelische Rechtssystem promoviert.
Redigiert von Hanna Fecht, Charlotte Wiemann, Claire DT