18.09.2025
Die EU intensiviert ihre Abschottungspolitik in Nordafrika
Foto: olleaugust, Pixabay
Foto: olleaugust, Pixabay

Das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) wirft der EU vor, Mitschuld an Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Libyen zu tragen. Jake Soria von ECCHR berichtet über Migrant:innen in Libyen und die EU-Grenzpolitik. 

Die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache „Frontex“ habe keine Wahl, sagte kürzlich dessen Exekutivdirektor Hans Leijtens über die Zusammenarbeit der Agentur mit den libyschen Behörden. „Ich möchte niemanden nach Libyen zurückschicken, aber das ist die einzige Möglichkeit, wie wir vorgehen können.“ Diese Aussage ist vielsagend – illegal und politisch bezeichnend –, denn das Völkerrecht verbietet die Zusammenarbeit mit Täter:innen internationaler Verbrechen.

Das Migrationsregime der EU ist auf diese Zusammenarbeit angewiesen. Hinter juristischen Klauseln verbirgt sich die Eindämmungspolitik: die Auslagerung von Gewalt an libysche Akteure. Dies ist keine Folge, sondern ein Merkmal der europäischen Grenzkontrolle. Die EU spricht von der Notwendigkeit der Eindämmung von Migration, jedoch ist diese Politik eine neue Form kolonialer Logiken der Kontrolle entlang der maritimen Grenzen. Rassistische Hierarchien bestimmen, wer sich frei bewegen, leben und geschützt werden darf.

Libyen ist seit langem Transitland für Menschen auf dem Weg nach Europa. Nach dem Sturz Gaddafis 2011 und dem Beginn der andauernden Konflikte in Libyen, begannen bewaffnete Gruppen und staatliche Akteure Profit aus Inhaftierungen von Menschen auf der Flucht zu schlagen. Europa nutzte diese Instabilität, um die EU-Außengrenzen über das Mittelmeer hinaus zu externalisieren.

Die schrecklichen Bedingungen, denen Menschen auf der Flucht in Libyen ausgesetzt sind, sind kein Geheimnis. Sie wurden von den Vereinten Nationen, Menschenrechtsorganisationen und Medien ausführlich dokumentiert. Willkürliche Inhaftierungen, Folter, sexuelle Gewalt und Versklavung sind weit verbreitet und systematisch. Europa hat wenig unternommen, um die Rechte der Betroffenen in Libyen zu schützen. Stattdessen hat es die Zusammenarbeit mit Libyen vertieft.

Wir bei ECCHR – eine gemeinnützige internationale Menschenrechtsorganisation, die seit vielen Jahren Verbrechen gegen Menschen auf der Flucht in Libyen verfolgt und unter anderem 2021 und 2022 Mitteilungen an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) einreichte – sehen die Abschottungspolitik der EU als eine Strategie, Menschen auf der Flucht in Libyen abzufangen, zurückzuschicken und festzunehmen. Die EU arbeitet dafür direkt mit den lokalen Sicherheitskräften zusammen. Das soll die Ankunft von Migrant:innen in Europa verhindern, ungeachtet der auf dem Spiel stehenden Menschenleben.

Diese Vorgehensweise ist vermeidbar und verstößt gegen internationales Recht. Die Staats- und Regierungschefs der EU müssen die Abschottungspolitik beenden, sonst müssen sie mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen, z.B. durch den Internationalen Strafgerichtshof.

Die Abschottungspolitik in Libyen

Unter Abschottungspolitik ist die Kooperation zwischen der EU und anderen Staaten wie Libyen gemeint. Das Land hat Abkommen mit Italien und Malta, die augenscheinlich keine Menschenrechte verletzen. Erklärte Ziele sind die Eindämmung „illegaler“ Migration, Menschenhandels und Seenotrettung. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die europäische Unterstützung Libyens direkte schwere Menschenrechtsverletzungen und internationale Verbrechen gegen Menschen auf der Flucht fördern.

Zwischen 2015 und 2022 stellte die EU Libyen über 700 Millionen Euro zur sogenannten „Migrationssteuerung“ zur Verfügung. Zusätzlich versorgte sie Libyen mit Ausrüstung, Schulungen und Kommunikationsinfrastruktur. Frontex kooperierte direkt mit den libyschen Kräften, indem sie Koordinaten von Booten in Seenot weitergab, damit die Passagiere nach Libyen zurückgepushed werden konnten.

Vor allem die sogenannte libysche Küstenwache profitiert von den EU-Hilfen. Der Zusatz „sogenannt“ ist bewusst gewählt, da die sogenannte libysche Küstenwache keine zivile Seebehörde ist, sondern ein loses Netzwerk militarisierter Akteure, die von den Konflikten Libyens profitieren. Die EU unterstützte die Etablierung der libyschen Such- und Rettungszone (SAR-Zone), für die die sogenannte libysche Küstenwache zuständig ist. Diese wendet Gewalt an, um Migrant:innen beim Überqueren des Mittelmeeres zu hindern. Darunter das Rammen von Booten sowie Schlagen und Schießen auf Menschen. Trotz des Urteils eines italienischen Gerichts, das entschied, dass die sogenannte libysche Küstenwache wegen regelmäßiger Völkerrechtsbrüche keine legitime Behörde der SAR-Zone ist, arbeitet die EU weiterhin mit ihr zusammen.

Außerdem haben europäische Akteure, darunter Frontex und maltesische Behörden, die Koordinaten von Booten mit Migrant:innen an Bord an die Tareq Bin Zeiad Brigade (TBZ) weitergegeben, eine Miliz, die mit Khalifa Haftar, dem De-facto-Herrscher über Ostlibyen, verbündet ist, um Migrant:innen an der Überfahrt nach Europa zu hindern. Amnesty International hat die TBZ einer „Reihe von Gräueltaten“ beschuldigt, darunter Kriegsverbrechen und andere internationale Verbrechen.

Libyen führt auf dem Mittelmeer Pullbacks durch und inhaftiert die Migrant:innen anschließend. Überlebende berichten von unmenschlichen Bedingungen in den Haftanstalten. Diese sind überfüllt, den Menschen mangelt es an Nahrung, Wasser und medizinischer Versorgung. Inhaftierte beschreiben fast tägliche Gewaltanwendung, darunter Vergewaltigungen, Schläge und Folter. Viele werden versklavt, das heißt, sie werden zu sexueller Sklaverei, Zwangsarbeit und/oder zur Teilnahme an bewaffneten Konflikten zwischen libyschen bewaffneten Gruppen gezwungen. Ein Überlebender berichtete, man habe ihm gesagt: „Wer zu uns kommt, ist ein Sklave, und wir entscheiden über sein Schicksal.“ Diese Zustände verletzen nicht nur Menschenrechte, sondern sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

David Yambio, Menschenrechtsaktivist und Überlebender der Abschottungspolitik Libyens, beschreibt: „Europa führt die Folter nicht selbst durch. Das wäre zu schmutzig, zu direkt. Stattdessen bezahlt es andere dafür. Durch Abkommen. Durch ‚Partnerschaften‘. Millionenbeträge werden an diejenigen gezahlt, die Gefängnisse außerhalb des völkerrechtlichen Rahmens betreiben. Das menschliche Leid ist kein Zufall. Es ist geplant. Es soll andere davon abhalten, zu kommen.“

Die Zusammenarbeit der EU mit Libyen verstößt gegen das Völkerrecht: Wer wissentlich mit Täter:innen zusammenarbeitet, die systematischen Verstöße begehen, trägt Mitverantwortung für diese Verbrechen. Die anhaltende Zusammenarbeit Europas mit der sogenannten libyschen Küstenwache und der TBZ verstößt nicht nur gegen das völkerrechtliche Grundprinzip der Nichtzurückweisung (non-refoulement) – dieses verbietet die Rückführung von Menschen an Orte, an denen ihnen ernsthafter Schaden droht –, sondern kommt auch einer Mittäterschaft an Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleich. Daher ist die Entscheidung eindeutig: Die Zusammenarbeit mit Libyen muss eingestellt und die Abschottungspolitik beendet werden.

Die Ausweitung der Abschottungspolitik

Die EU feiert die Abschottungspolitik als Erfolg, da weniger Menschen nach Europa gelangen, und drängt dazu, die Kooperation mit Nicht-EU-Staaten weiter auszuweiten. Im Jahr 2024 erklärte der maltesische Premierminister Abela: „Wenn wir Libyen nicht mit konkreten Maßnahmen und voller Unterstützung zur Seite stehen, wird das Problem letztendlich an den Küsten der Europäischen Union landen.

Beunruhigend ist, dass die EU ihre Abschottungspolitik kontinuierlich ausweitet. Auf der Grundlage der Zusammenarbeit in Libyen hat Europa ähnliche Abkommen mit Sicherheitsdiensten der restlichen nordafrikanischen Staaten unterzeichnet. Auch diese haben zu Gewalttaten gegen Menschen auf der Flucht geführt. Ähnlich wie in Libyen, hat die EU kürzlich eine tunesische SAR-Zone anerkannt, die der tunesischen Küstenwache erlaubt, Menschen auf See abzufangen und gewaltsam nach Tunesien zurückzubringen. Seitdem nutzen tunesische Sicherheitskräfte europäische Finanzmittel und Ausrüstung, um Menschen auf der Flucht systematisch in Wüstenregionen auszusetzen. Dort sind sie dem Tod und libyschen bewaffneten Gruppen ausgesetzt.

Ein möglicher Weg zu Gerechtigkeit

Der Weg über den IStGH bietet eine Möglichkeit zur Gerechtigkeit. Es gibt bereits eine offene Untersuchung in Libyen, unter anderem zu internationalen Verbrechen gegen Migrant:innen. Europäische Akteure versuchen jedoch, die Untersuchung zu verhindern. Ein Beispiel dafür ist der Fall von Osama Elmasry Njeem, einem libyschen Staatsangehörigen, gegen den der IStGH einen Haftbefehl wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen, wie Folter, Mord, Versklavung und Vergewaltigung im Mitiga-Gefangenenlager in Tripoli, erlassen hatte. Italien nahm Elmasry fest, aber statt ihn dem IStGH auszuliefern, brachte ihn ein Staatsflugzeug nach Libyen zurück. Dies soll wegen hochrangiger politischer Einflussnahme passiert sein. Dies ist ein Verlust für die internationalen Bemühungen um Gerechtigkeit und zeigt, dass der IStGH die Verbindungen zwischen libyschen Gruppen und europäischen Behörden untersuchen muss. Eine solche Untersuchung wäre ein wirksames Instrument, um der Abschottungspolitik und den als „Migrationspolitik“ verkauften Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein Ende zu setzen.

 

 

 

 

 

 

Jake Soria ist US-amerikanischer Jurist und war bis vor Kurzem Legal Fellow im Programmbereich „Völkerstraftaten und rechtliche Verantwortung" beim European Center for Constitutional and Human Rights in Berlin. Dort arbeitete er zur juristischen Aufarbeitung von Verbrechen gegen Menschen auf der Flucht in Libyen und im Mittelmeerraum.
Artikel von Jake Soria
Redigiert von Hannah Jagemast, Regina Gennrich, Vanessa Barisch
Übersetzt von Regina Gennrich