06.08.2021
Die Herrschaft der Kredite
Gefangen im Netz der internationalen Geldgeber:innen: Tunesiens Wirtschaft ist von starken Abhängigkeiten geprägt. Illustration: Kat Dems
Gefangen im Netz der internationalen Geldgeber:innen: Tunesiens Wirtschaft ist von starken Abhängigkeiten geprägt. Illustration: Kat Dems

Tunesien gilt seit 2011 als Vorbild für demokratischen Wandel. Dabei wird selten erwähnt, wie sehr internationale Kreditgeber:innen eine echte Mitbestimmung im Land verhindern. Kein Wunder, dass die Lage sich nun zuspitzt, findet Hannah El-Hitami.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne Des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Wenn europäische und US-amerikanische Medien in diesen Tagen von den Ereignissen in Tunesien berichten, klingt das oft so, als wären die Länder persönlich enttäuscht von einer Musterschülerin, die auf die schiefe Bahn geraten ist. Von „der einzigen Demokratie, die vor zehn Jahren aus dem Arabischen Frühling hervorgegangen ist“, ist dort die Rede und von einem „demokratischen Leuchtturm in Nahost“, der als Belohnung für seine Leistung großzügig finanziell unterstützt worden sei. Die Verunsicherung ist groß darüber, dass in Folge großer Proteste Präsident Kais Saied Ende Juli Regierungschef Hichem Mechichi entlassen und das Parlament eingefroren hat.

Es stimmt, dass Tunesien als einziges Land in Westasien und Nordafrika (WANA) durch die Proteste ab 2010 seine Diktatur in ein demokratischeres System umwandeln konnte. Doch die aktuelle Berichterstattung zeigt erneut, wie verkürzt und oberflächlich Beobachter:innen aus dem Globalen Norden die Protestbewegungen in der Region  wahrnehmen. Von Anfang an fokussierten Europa und die USA ihr mediales und politisches Interesse auf Demokratie und Meinungsfreiheit und konnten dabei als vermeintliche Vorbilder und Mentor:innen auftreten. Sie blenden jedoch nach wie vor aus, dass ihre eigene wirtschaftliche Einflussnahme der tunesischen Demokratie im Wege steht, weil sie als Geldgeber:innen politische Entscheidungen beeinflussen und diese damit dem öffentlichen Diskurs entziehen.

Die Folgen dieser eurozentrischen Sichtweise werden nun immer deutlicher in einem Land, in dem die Demokratisierung des politischen Systems das Leben der Menschen nicht nachhaltig verbessern konnte. Dafür gibt es viele Gründe: Die Zersplitterung der politischen Parteien, korrupte Strukturen, Missmanagement und nicht zuletzt die Pandemie. Doch ein entscheidendes Hindernis für einen nachhaltigen demokratischen Wandel wird meistens vergessen: die Schuldenpolitik der reichsten Länder und des Internationalen Währungsfonds (IWF).

Nur ein paar Monate Freiheit

Seit dem Sturz von Diktator Ben Ali im Januar 2011 hat der IWF Tunesien drei Kredite gewährt. Über den aktuellen verhandelt die Regierung seit Monaten, erschwert durch den Widerstand großer Teile der Bevölkerung und der mächtigen tunesischen Gewerkschaft UGTT. Denn die Kredite sind an unpopuläre Konditionen geknüpft. In den letzten Jahren hat der IWF Tunesien dazu verpflichtet staatliche Subventionen für Grundnahrungsmittel und Landwirt:innen zurückzuschrauben, den Markt zu Ungunsten der lokalen Produktion für ausländische Investor:innen zu öffnen und die Währung abzuwerten. All diese Maßnahmen sind zwar hervorragend dazu geeignet, Tunesien zu einer attraktiven Teilnehmerin der internationalen Exportwirtschaft zu machen, jedoch kaum dazu, das Leben der Bevölkerung zu verbessern.

Ende 2011 wurde in Tunesien erstmals frei gewählt, seit 2013 muss das Land sich neuen Strukturanpassungsprogrammen des IWF unterwerfen, um Kredite zu bekommen. Der Sturz einer jahrzehntealten Diktatur bot also keine Gelegenheit für wirtschaftspolitischen Wandel. Die Tunesier:innen seien nur ein paar Monate wirklich frei gewesen, selbst ihre Politik zu gestalten – dann habe der IWF übernommen, sagte Chafik Ben Rouine vom Observatoire Tunisien de l’Economie bei einem Online-Panel anlässlich des zehnjährigen Revolutionsjubiläums. „Die Message war, dass wir Freiheit aufgeben müssen, um wirtschaftlichen Wohlstand und Arbeitsplätze zu bekommen.“

Gesetze würden wie Waren verkauft – und zwar nicht nur an den IWF: Auch die EU knüpfte dringend notwendige Kredite an Reformen im eigenen Interesse. Mit einem umstrittenen Freihandelsabkommen versucht sie außerdem, sich wirtschaftliche Vorteile zu sichern und die Migration über das Mittelmeer zu stoppen. Und schon in den allerersten Monaten der Massenproteste in Tunesien, Ägypten und Syrien vereinbarten die G8-Staaten im Deauville-Abkommen, wie sie die Umbrüche wirtschaftlich begleiten würden – laut Ben Rouine ein Versuch sicherzustellen, dass die Revolutionen in neoliberale Wirtschaftsmodelle münden würden.

Demokratie ist kein Selbstzweck

Wie soll eine Bevölkerung Freiheit und Selbstbestimmung erreichen, wenn sie über wichtigste Bereiche ihres Zusammenlebens – Arbeit, soziale Gerechtigkeit, Wohlfahrt – nicht entscheiden darf? Denn entgegen dem, was Berichte über Graffiti-sprayende, fließend Englisch sprechende Facebook-Revoluzzer:innen hier in Europa suggerierten, ging es den Menschen in WANA 2011 nicht in erster Linie darum, so modern und frei zu sein, wie wir es angeblich sind. Hauptsächlich kämpften sie gegen Armut, Perspektivlosigkeit und gravierende soziale Ungleichheit.

Natürlich richteten sich die Proteste in WANA auch gegen Polizeigewalt und staatliche Unterdrückung. Doch Meinungsfreiheit und Demokratie sind keine Selbstzwecke. In Tunesien hat es seit 2011 vor allem auch zahlreiche Demonstrationen gegen Arbeitslosigkeit, die Wirtschaftskrise, die Inflation und wachsende Verschuldung gegeben. Diese hätten vor 2011 in dieser Form vielleicht nicht stattfinden können, und es ist gut, dass sich das geändert hat. Trotzdem hat sich die Staatsverschuldung seitdem auf 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verdoppelt. Mehr als ein Drittel der Jugend ist arbeitslos und immer mehr Menschen haben sich öffentlich das Leben genommen – genau wie damals der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi, dessen Selbstverbrennung die Proteste 2011 auslösten. So wichtig es sein mag, dass Menschen ihre Meinungsfreiheit nutzen können, um Korruption zu kritisieren oder wählen zu gehen, so nützt das doch wenig, wenn die Wirtschaftspolitik letztendlich von ausländischen Kreditgeber:innen bestimmt wird.

Gefährliche Sparpolitik

Noch ist unklar, in welche Richtung sich Tunesien nach dem aktuellen Putsch-oder-nicht-Putsch entwickelt. Ob dies der Beginn einer besseren oder autoritäreren Zukunft ist, sollte weder überstürzt noch von sogenannten Expert:innen aus dem Ausland beurteilt werden, die sich zu oft auf den stereotypen Dualismen Islam vs. Demokratie oder Traditionalismus vs. Moderne ausruhen. Sicher ist aber, dass nicht nur interne Probleme, sondern auch die Zwickmühle der internationalen Kredite Tunesiens Wirtschaft an den Rande des Zusammenbruchs geführt haben. Wenn sich daran nichts ändert, wird das Land sich auch unter einer neuen Regierung nicht erholen. Schon gar nicht inmitten einer Pandemie, die in Tunesien gerade katastrophal aus dem Ruder läuft, und die auch dank dem Impf-Egoismus der reichsten Länder auf eine fast ungeschützte Bevölkerung trifft.

Der IWF jedenfalls steht in den Startlöchern – wie so oft in Krisen- und Umbruchsituationen – um ein politisch und sozial destabilisiertes Tunesien mit weiteren Finanzspritzen zu erpressen. Trotz der jüngsten Ereignisse sei man bereit, die tunesische Bevölkerung weiterhin bei dem Umgang mit den Folgen der Covid-Krise zu unterstützen, hieß es in einem Presse-Statement der Institution. Eine Studie der Organisation Oxfam hat indessen ergeben, dass mehr als 80 Prozent der Corona-Kredite des IWF arme Ländern in eine gefährliche Sparpolitik drängen. „Es ist inakzeptabel, dass der IWF seine Macht nutzt, um das Leben von Menschen zu erschweren, die ohnehin schon ums Überleben kämpfen“,  erklärte die Organisation.

Millionen von Menschen blieben ohne Krankenversicherung oder Arbeitslosengeld und ohne Aussicht auf nachhaltige Erholung von der Krise. Weitere Proteste sind damit vorprogrammiert. Es bleibt abzuwarten, inwieweit diese sich zukünftig auch gegen die internationalen Kreditgeber:innen richten werden und ob die Begeisterung im globalen Norden für die tunesische Meinungsfreiheit und Demokratie dann weiter anhalten wird.

 

Mehr Arbeiten der Illustratorin Kat Dems finden sich auf ihrem Instagram-Account oder auf ihrer Webseite.

 

 

Hannah El-Hitami, Jahrgang 1991, ist freie Journalistin in Berlin und schreibt vor allem über arabische Länder, Migration und koloniales Unrecht. Sie studierte Arabische Literatur und Kultur in Marburg und war Volontärin des Amnesty Journals. www.hannahelhitami.com/  
Redigiert von Maximilian Ellebrecht, Johanna Luther