19.01.2015
Die Muslimbruderschaft in Ägypten - Demokraten unter Vorbehalt. Eine Rezension
Der Muslimbruder Mursi gewinnt die ägyptischen Präsidentschaftswahlen (2012). Foto: J. Rashad (CC BY-NC-SA 2.0)
Der Muslimbruder Mursi gewinnt die ägyptischen Präsidentschaftswahlen (2012). Foto: J. Rashad (CC BY-NC-SA 2.0)

Der kometenhafte Aufstieg der ägyptischen Muslimbrüder nach dem Sturz Mubaraks 2011 faszinierte die Welt ebenso wie ihr tiefer Fall im Sommer 2013. Doch was verbirgt sich dahinter? In ihrem Werk „Die Muslimbruderschaft – Porträt einer mächtigen Verbindung“ macht Annette Ranko die Bruderschaft, ihre Geschichte und Programm einem breiten Publikum zugänglich. Eine Rezension von Henning Schmidt.

Ranko erzählt die Geschichte der Muslimbrüder chronologisch und richtet die Aufmerksamkeit zunächst auf Hasan al-Bannā, den Gründer der Bruderschaft. Deutlich zeigt Rankos Darstellung, dass es dem Lehrer al-Bannā, als er die Muslimbrüder 1928 gründete, zunächst nicht um die Erlangung politischer Macht ging. Sein Ziel war vielmehr, den Ägyptern ihre Würde wiederzugeben, die ihnen seiner Ansicht nach durch die britische Kolonialmacht geraubt wurde. Den Schlüssel dazu sah al-Bannā in islamischer Erziehung und Ausbildung, gepaart mit sozialen Leistungen. Sein langfristiges Ziel bestand zu dieser Zeit darin, die Ägypter zu besseren Muslimen zu erziehen. Die frühen Muslimbrüder waren demnach keine politische Partei, sondern eher eine islamische Wohlfahrtsorganisation.

Politisierung im Zeichen des Antikolonialismus und massive Repression unter Nasser

Im weiteren Verlauf ihrer Chronologie erläutert Ranko knapp, aber stets schlüssig, wie sich die Muslimbrüder im Laufe der 1930er Jahre, beeinflusst von wachsenden antikolonialen Protesten und der sich verschärfenden arabisch-jüdischen Spannungen, zunehmend politisierten. Anfang der 1940er Jahre bildete die Bruderschaft dann sogar einen bewaffneten Geheimapparat. Dieser verübte Anschläge auf Briten und Ägypter, denen man Kollaboration mit den Briten vorwarf.

1949 wurde al-Bannā schließlich durch den ägyptischen Geheimdienst ermordet. 1954 nutzte Gamal Abdel Nasser zudem ein fehlgeschlagenes Attentat auf sich, um die Muslimbruderschaft zu verbieten und ihre Anhänger zu Tausenden ins Gefängnis zu werfen. In der Folge radikalisierte sich ein Teil der Bruderschaft und schloss sich Sayyed Qutb an, einem der wichtigsten Gründerväter des modernen Islamismus.

Wiederaufstieg zur wichtigsten Oppositionskraft unter Mubarak

Bis zu diesem Punkt vermittelt das Buch vor allem Basiswissen. Darüber hinaus geht jedoch die Darstellung, wie die Muslimbrüder unter Sadat zwar aus den Gefängnissen frei kamen, ihre Bedeutung als führende oppositionelle Kraft aber zunächst nicht wiedererlangten. Dies geschah erst vor dem Hintergrund der Ermordung Sadats, der das islamische Lager in einen gewaltbereiten und einen gemäßigten Flügel spaltete, der innerhalb der staatlichen Institutionen zu operieren versuchte. Detailliert rekonstruiert Ranko im Folgenden die Strategie der Bruderschaft, die ab 1984 in den formalen politischen Prozess eintrat. Da sie offiziell verboten blieb, stützte sie sich auf Wahlbündnisse mit legalen Akteuren und bewies dabei großen Pragmatismus über ideologische Grenzen.

Erster Partner der Bruderschaft war die säkular-nationalistische Wafd-Partei, die unter Nasser noch zu den Erzrivalen der Bruderschaft gezählt hatte. Es folgten Bündnisse mit der Arbeitspartei (al-Amal) und der liberalen al-Ahnar Partei. Ein weiteres wichtiges Element, mit dem die Muslimbrüder ihren Einfluss auch außerhalb des Parlaments ausbauten, bestand in der Repolitisierung der Berufsverbände. Diese wurden laut Ranko ab den 1990er Jahren zu einer wichtigen Plattform, innerhalb derer Muslimbrüder, Linke und Liberale miteinander diskutierten und sich inhaltlich annäherten. Nach einer fünfjährigen repressiven Phase, in der sie aus den Berufsverbänden wieder herausgedrängt wurde, gelang es der Bruderschaft ab dem Jahr 2000, zu einem zentralen Akteur der Protestbewegungen zu werden, die schließlich 2011 Mubaraks Sturz erzwangen.

Um dieses Ziel zu erreichen, suchte die Bruderschaft unter dem Schlagwort „Partizipieren nicht Dominieren“ die Zusammenarbeit mit nicht-islamischen Kräften. Für die Linken und Liberalen machte laut Ranko die schiere Größe des Graswurzelnetzwerkes die Zusammenarbeit attraktiv. Niemand konnte so umfassend zu Demonstrationen mobilisieren wie die Muslimbrüder und somit über Erfolg oder Misserfolg einer Aktion entscheiden. Zusätzlich brachten sich die Muslimbrüder als parlamentarischer Arm der Protestbewegung in Stellung, was ihr aus Rankos Sicht auch sehr gut gelang: Mohamed al-Baradei ging im Vorfeld der Parlamentswahlen 2010 eine Kooperation mit den Muslimbrüdern ein. Somit widerspricht Ranko der These, die Muslimbrüder seien erst spät auf den Protestzug von 2011 aufgesprungen. Aufgrund ihrer erfolgreichen Strategie sei die Bruderschaft 2011 zwar nicht von allen, aber doch vielen Ägyptern als legitimer Teil der revolutionären Opposition anerkannt worden.

Neue Bündnisse innerhalb der Bruderschaft

Neben der veränderten Strategie nach außen identifiziert der Band auch Veränderungen innerhalb der Bruderschaft als entscheidend für diese Entwicklungen. Die alte, durch den Gründervater al-Bannā und die Unterdrückung unter Nasser geprägte Generation kooperierte nun mit jüngeren Mitgliedern, die in den 1970er Jahren an den Hochschulen gelernt hatten, mit anderen Akteuren politische Bündnisse einzugehen. So überließ die Führung der Muslimbrüder der jungen Genration zum Beispiel die Gestaltung der Internetseiten der Bruderschaft. Ohne diese Zusammenarbeit der Generationen, stellt Ranko klar, wäre die dominierende Rolle der Muslimbruderschaft in den Protestbewegungen der 2000er Jahre nicht möglich gewesen.

Demokratie mit islamischem Referenzrahmen

Breiten Raum in Rankos Darstellung nimmt die Auseinandersetzung mit der Programmatik der Bruderschafft ein. Anhand der Programmschriften der Bruderschaft wird gezeigt, wie sich die Muslimbrüder ab den 1990er Jahren allmählich für die Demokratie erwärmten und ihr Staatskonzept einer islamischen Demokratie entwickelten. Die Scharia ist für die Muslimbruderschaft dabei die oberste Quelle der Gesetzgebung. Ihr Scharia-Verständnis unterscheidet sich aber deutlich von dem radikaler Islamisten, wie etwa den Taliban. Zwar sehen die Muslimbrüder die Scharia in Fragen von Glaubensriten und islamischer Moral als unabhängig von Raum und Zeit an, bei Interaktionen zwischen Individuen in sozialen, politischen und ökonomischen Fragen jedoch handhaben die sie die Scharia flexibel. Dadurch bestehen große Spielräume, um Probleme im Alltag selbst zu regeln.

Von entscheidender Bedeutung sind die vier Scharia Prinzipien Gerechtigkeit, Freiheit, Beratung und Gleichheit. Ranko argumentiert, dass den Muslimbrüdern in Bezug auf diese Prinzipien die Integration demokratischer Konzepte in ihr Denken gelingt. So akzeptiert die Bewegung demnach prinzipiell die Machtrotation durch freie Wahlen, Parteienpluralismus, Gewaltenteilung, Rechtstaatlichkeit und Parlamentarismus. Doch der Band arbeitet auch das grundsätzlich widersprüchliche Verhältnis der Muslimbrüder zur westlichen Demokratie heraus. So verankern die Muslimbrüder ihre Freiheitsvorstellungen und Definition des Staatsbürgers klar im Islam.

Damit kommt es automatisch zu einer Einschränkung der Rechte von Bürgern, die nicht Muslime sind: Zwar sind Christen und Juden dem klassischen muslimischen Rechtsverständnis folgend aktiv und passiv wahlberechtigt, alle religiös konnotierten Ämter dürfen sie jedoch nicht ausüben. Dies betrifft auch das Amt des Staatspräsidenten, da dieser wichtige religiöse Funktionen ausübt. Ob Christen das Richteramt erlaubt ist, ist dagegen umstritten, weil ja die Scharia die Grundlage aller Gesetzgebung bilden soll. In Sachen Gleichberechtigung der Geschlechter zeigt Ranko zudem Licht und Schatten auf: Einerseits soll „die Frau“ sich auf ihre „Kernaufgabe“, die Erziehung der nächsten Generation, konzentrieren. Teilhabe am Arbeitsleben ist ihr nur insofern gestattet, wie ihre Aufgaben in der Familie nicht darunter leiden. Ihre Rechtsstellung wird von den Muslimbrüdern demnach immer dann beschnitten, wenn sie die öffentliche Moral betrifft. Hier verficht die Bruderschaft ein weitgehend wörtlich am Koran orientiertes, ultra-konservatives Gesellschaftsbild. Andererseits aber gelten auch für Frauen die Meinungs-, Versammlungs-, Demonstrations- und Organisationsfreiheit ohne Einschränkungen. Demnach gilt für Frauen das universelle Wahlrecht; aktiv für das Präsidentenamt dürfen sie jedoch nicht kandidieren.

Letztlich, so bilanziert Ranko, treten die Muslimbrüder für eine islamische Demokratie ein, die mit westlichen Vorstellungen nur teilweise kompatibel ist.

Ziel unabhängige Außenpolitik

Ebenso wie den innenpolitischen Vorstellungen widmet Ranko auch der außenpolitischen Entwicklung der Gruppe ein Kapitel. Ausführlich wird gezeigt, wie die Bedeutung der Außenpolitik für die Muslimbrüder zugenommen hat, besonders seit dem Beginn der zweiten Intifada im Jahr 2000. Zugleich stellt das Buch aber auch klar, dass sich aus der Programmatik der Muslimbrüder kaum außenpolitische Konzepte destillieren lassen. Prinzipiell gehe es ihnen dabei darum, zu gewährleisten, dass Ägypten vom Westen als gleichberechtigter Partner behandelt wird. Vom Westen versucht man sich zudem abzusetzen, was Ranko auf die Angst vor einer kulturellen Überfremdung innerhalb der Muslimbrüder zurückführt. Oberstes Ziel ist demnach die Wiedererlangung der Stellung als Regionalmacht, wofür vor allem die Türkei als Vorbild dient.

Ein interessanter Aspekt, den das Buch den Leserinnen und Lesern auf diese Weise vor Augen führt, ist die Doppelbödigkeit des außenpolitischen Diskurses der Bruderschaft. Einerseits akzeptiert sie geltende Verträge und fährt einen „pragmatischen Kurs“. Andererseits aber wird die Anhängerschaft mit einem emotionalen Diskurs bedient, der vor allem auf die Situation in Israel und Palästina eingeht und Israel mit scharfer Rhetorik angreift. Jedoch bleibt es bei Rhetorik, denn wie Ranko ausdrücklich festhält, hat die Bruderschaft seit Anfang der 1980er Jahre keine Angriffe auf Israel mehr verübt. Das Abkommen von Camp David wird de facto akzeptiert.

Bewegung mit vielen Gesichtern

Spannend für Neueinsteiger und Experteninnen gleichermaßen ist das vierte Kapitel des Buches. Hier beschreibt Ranko Begegnungen mit verschiedenen Mitgliedern der Bruderschaft und ermöglicht den Leserinnen und Lesern damit Einblicke ins Innere der Organisation. So zeigt das Buch sehr schön auf, wie vielfältig die Basis der Muslimbrüder ist. Dies gerät bei der Analyse des Phänomens Muslimbruderschaft häufig aus dem Blickfeld.

Da ist zum Beispiel Ahmed, der junge Aktivist, der an der Internetseite der Muslimbrüder mitarbeitete und keine Berührungsängste mit nicht-islamistischen Kräften hat. Auch sein Scharia-Verständnis ist wesentlich liberaler als in der Bruderschaft üblich. Ein anderer Fall ist Khaled. Er studiert an der al-Azahr Universität, beschreibt sich als tief religiös und ordnet sich widerspruchslos der Muslimbruderschaft und ihrem Führungsbüro unter. Huba, Tochter eines hochrangigen Muslimbruders, beklagt ihrerseits die „Verrohung der Sitten“ und findet, dass laszive Musikvideos verboten werden sollten. Hussein aus der älteren Generation geht es wiederrum kaum um Politik. Er betont die Wichtigkeit von Bildungsarbeit und dass es im Islam vor allem um Barmherzigkeit gehe. Gamal dagegen ist ein typischer Vertreter der Generation der Bruderschaft, die seit den 1970ern aktiv ist. Ihm geht es weniger um Religion, sondern um Reformen und Demokratie. Dafür geht er auch Bündnisse mit nicht-islamistischen Kräften ein. Dem Abgeordneten Hassan schließlich geht es primär darum, etwas gegen die Armut in seinem Wahlkreis zu unternehmen.

Steiler Aufstieg und schneller Fall

Warum sind die Muslimbrüder 2013, nach nur einem Jahr an der Macht, krachend gescheitert und heute wieder verboten? Hierfür identifiziert Ranko mehrere Faktoren. Nach ihren Wahlerfolgen änderte sie ihre Strategie und kooperierte fortan nicht mehr mit Säkularen und Linken. Stattdessen arbeitete sie verstärkt mit den ultrakonservativen Salafisten aus der al-Nur-Partei zusammen. Zusätzlich geriet die für gesellschaftliche Offenheit eintretende Generation der 1970er innerhalb der Bruderschaft in die Defensive. Mursi stand für einen konservativen Flügel, dem die Fähigkeit zur breiten sozialen Kommunikation mit Linken und liberalen Kräften abging. Gerade diese Fähigkeit wäre aber nötig gewesen, um als Präsident aller Ägypter akzeptiert zu werden. In der Folge, so Ranko weiter, isolierte sich die Muslimbruderschaft fast vollständig von Liberalen und Linken.

Nach ihren Wahlsiegen sei die Bruderschaft der Meinung gewesen, nicht mehr auf Bündnisse angewiesen zu sein. Deutlich wurde diese Haltung bei der Bildung von Mursis Kabinett. Hier wurden keine Vertreter der liberalen oder linken Opposition berücksichtigt. Zum endgültigen Bruch kam es dann bei der Verfassungsgebenden Versammlung, bei der die Muslimbrüder eine Verfassung nach ihrem Gusto durchdrückten. Gewissermaßen das Fass zum Überlaufen habe dann das Unvermögen der Muslimbrüder gebracht, Antworten auf Ägyptens massive wirtschaftlichen Probleme zu finden. Der Absturz der Muslimbrüder ist für Ranko insgesamt Folge eines grundsätzlichen Politikversagens. Die Muslimbrüder hätten nicht erkannt, dass sie nicht der einzige politische Akteur mit Anhängerschaft im Volk sind. Aus dieser Fehlwahrnehmung leitete die Bruderschaft aus ihren Wahlsiegen nach der Revolution das Mandat für sich ab, das „Neue Ägypten“ im Alleingang nach ihren Präferenzen zu formen. Dies brachte dann das Volk und die Armee gegen sie auf.

Resümee

Annette Ranko liefert einen stets gut lesbaren und fachlich fundierten Überblick über Geschichte, Entwicklung und Programmatik der Muslimbrüder. Aufgrund seiner Entstehung während und kurz nach den Ereignissen der Revolution kann der Band jedoch keine vertiefte Analyse des Revolutionsverlaufs abgeben. Überwiegend rekonstruiert er ihn nur. Für eine solche Analyse wird vermutlich der zeitliche Abstand zu den Ereignissen noch wachsen müssen. Ein großes Problem ist dieser Mangel jedoch nicht. Ziel des mit 164 Seiten Umfang kompakten Bandes ist es, dem breiten Lesepublikum einen Überblick über das Phänomen Muslimbrüder zu bieten. Diese Aufgabe erfüllt der Band sehr gut. Wer bislang noch keine Vorkenntnisse hat und sich mit überschaubarem Zeitaufwand eine solide Grundlage zum Thema Muslimbrüder anlesen möchte, dem sei das Buch wärmstens empfohlen. Allen anderen bietet der Band vom vierten Kapitel abgesehen nur wenig Neues.

Annette Ranko: Die Muslimbruderschaft: Porträt einer mächtigen Verbindung, Berlin, 2014. 164 Seiten.

Hat Politikwissenschaft mit Fokus auf Westasien und Nordafrika in Marburg studiert und arbeitet als Radio-Journalist in Potsdam. Für dis:orient bespricht er Romane und Sachbücher. Foto: Jörg Pitschmann