15.05.2013
Die Wiedergeburt der Muslimbrüder? - Syrien ist nicht Hama
Eine informelle Siedlung in einem Vorort von Damaskus, 2010. Keine Infrastruktur und die Ignoranz seitens der Behörden- diese Orte wurden zum Brennpunkt der syrischen Revolution 2011. -Foto: Autorin
Eine informelle Siedlung in einem Vorort von Damaskus, 2010. Keine Infrastruktur und die Ignoranz seitens der Behörden- diese Orte wurden zum Brennpunkt der syrischen Revolution 2011. -Foto: Autorin

Was 1982 in Hama begann, wird seit 2011 in Syrien fortgesetzt: Ein Aufstand gegen des Baath-Regime, in dem Islamisten eine bedeutende Rolle spielen. Dieser Vergleich liegt nahe und er wird auch von Teilen der syrischen Opposition offensiv vertreten. Doch eine genauere Betrachtung zeigt, dass sich im Laufe von 30 Jahren vieles verändert hat. 1982 konnte sich Hafiz al-Assad auf die Landbevölkerung stützen, heute stützt sich sein Sohn Baschar auf die städtische Oberschicht.

Die Gestalt und Struktur des syrischen Widerstands haben sich nachhaltig verändert, seit im März 2011 der Volksaufstand begann. Spätestens mit der Militarisierungder Rebellion, also der damit verbundenen Bewaffnung von Zivilisten, haben islamistische und salafistische Elemente an Einfluss gewonnen. Es ist daher naheliegend, eine historische Kontinuität zu sehen zwischen der jetzigen Protestbewegung und dem bewaffneten Aufstand in Hama 1982, der überwiegend einem bewaffneten Arm der syrischen Muslimbruderschaft zugeschrieben wird.

Die Rhetorik des Regimes hat diesen vermeintlichen Zusammenhang von Beginn an bedient und die zunächst friedlichen Demonstrationen als von den Muslimbrüdern gesteuert dargestellt: „Wir haben die Muslimbruderschaft seit den 1950ern bekämpft und wir kämpfen heute immer noch gegen sie“. Dafür erstellte das Regime sogar eine gefälschte Internetseite der Bruderschaft, auf welcher diese die Verantwortung für „terroristische Angriffe“ übernahmen, die Damaskus im Dezember 2011 erschütterten. „Die Ironie hieran ist, dass die Rolle der syrischen Muslimbruderschaft in den Protesten zu diesem Zeitpunkt eigentlich marginal war, doch so ist ihr Profil anschließend spektakulär gestiegen“, erklärt Raphael Lefèvre in seinem Buch über die Muslimbruderschaft.

"Baschar wird sterben, Hama aber nicht"

Historische Rückbezüge konnte man aber auch schon sehr früh bei den Demonstranten selbst wahrnehmen. Bereits wenige Tage nach den ersten Demonstrationen in der Stadt Daraa im März 2011 begannen die ersten Kundgebungen in Hama, also jener Stadt, in der 1982 der damalige Präsident Hafiz al-Asad einen Aufstand gegen sein Regime brutal niederschlug. Damals kamen je nach Schätzung zwischen 20.000 und 60.000 Personen ums Leben. Fast jede Familie in Hama hat demnach noch eine Rechnung offen mit dem Regime. Der Spruch der Demonstranten: „Wir werden nicht zulassen, dass das Massaker von 1982 wiederholt wird“, ist wie eine Eigenaufforderung zu verstehen. Andere rufen: „Hafiz ist gestorben, Hama aber nicht. Baschar wird sterben, Hama aber nicht.“

Dieses Bewusstsein für die Vergangenheit darf jedoch nicht mit einem geschichtlichen Determinismus verwechselt werden, wonach der seit zwei Jahren anhaltende Aufstand lediglich eine Fortsetzung und Rache für das Massaker 1982 sei. Ohne die syrische Revolution auf sozioökonomische Ursachen reduzieren zu wollen, ist hier aber ein genauerer Blick auf die soziale Basis des Aufstands, der 1979 entbrannte und bis zu seiner Niederschlagung 1982 andauerte, und die soziale Basis der seit 2011 andauernden Revolution, notwendig.

Es mag verwundern, dass die Forschung immer noch uneins ist, wie die Ereignisse der 70er und 80er Jahre zu interpretieren sind. Die eine Seite sieht das Ansteigen der Gewalt in jenen Jahren als Reaktion auf die andauernde Unterdrückung des Islamismus durch das sich säkular gebende Baath-Regime. Andere weisen diese These zurück: Sie erkläre nicht, warum die Gewaltausbrüche damals relativ plötzlich kamen. „Vor allen Dingen kann sie nicht erklären, warum es den Islamisten gelungen ist, einen beträchtlichen Teil der Gesellschaft zu mobilisieren, obwohl der organisierte Islamismus in Syrien immer nur einen relativ kleinen Anhang hatte“, schreibt Hans Günter Lobmeyer. Der Politikwissenschaftler sucht deswegen den Grund des Konflikts in gesellschaftlichen Prozessen, die durch die Baath-Politik ausgelöst wurden und mit ökonomischen und sozialen Problemen einhergingen.

Islamisten vertreten nicht die Sunniten, das Regime vertritt nicht die Alawiten

Ansätze, die den Aufstand damals als „islamistisch“ bezeichnen, konzentrieren sich fast ausschließlich auf die religiöse Herkunft der Akteure, ohne jedoch ihren sozialen Ursprung und ihr Handeln genauer zu betrachten. Gleiches trifft zu, wenn die jetzige syrische Revolution als „sunnitischer Aufstand“ umschrieben wird. Diese Simplifizierung entlang religiöser und konfessioneller Linien ist unzureichend. Ein Blick auf die seit den 1980ern gewachsenen Säulen, die das Regime auch heute noch stützen: wie etwa die städtischen sunnitischen Händler und religiösen Figuren; jüngstes Beispiel ist der vor kurzem bei einem Anschlag getötete hohe Geistliche Muhammad al-Buti, verdeutlicht das.

Es wäre auch falsch, die Proteste der Muslimbrüder nach der Machtübernahme des Regimes im Jahr 1963 als Konflikt zwischen religiösen Kräften und säkularen Machthabern zu deuten. Die damaligen Proteste, die von Bazaris und Geschäftsleuten getragen wurden, richteten sich nämlich weniger gegen die „Gottlosigkeit“ des Regimes, sondern waren Proteste gegen wirtschaftspolitische Maßnahmen wie Verstaatlichung, welche die wirtschaftliche und soziale Position der Protestierenden gefährdet hätte.

Die Aufstände von vor 40 Jahren sind also im Kontext der ökonomischen und gesellschaftlichen Umstrukturierung des Regimes seit den 60er Jahren zu verstehen. Ergebnis damals war die Marginalisierung der bis dahin weitgehend dominanten sunnitisch-urbanen Bourgeoisie. Die Maßnahmen des Regimes richteten sich somit auch gegen die Gesellschaftsgruppe als soziale Klasse, nicht als sunnitisches Gesellschaftssegment.

Die Islamisten waren zu der Zeit vor allem stark unter den sunnitischen Städtern, Bazaris und Kleinhandwerkern. Ihre strategischen gesellschaftlichen Bündnisse waren nach Meinung des Politikwissenschaftlers Lobmeyer weniger segment- als klassenspezifisch zu verstehen. Neben ihren traditionellen Verbündeten unterstützten die Islamisten etwa den Streik der Rechtsanwälte, Ingenieure und Ärzte.

Aber gleichzeitig unterstützten erhebliche Teile der sunnitischen Gemeinschaft das Regime: die Mehrheit der Landbevölkerung. Damit wäre es vielleicht am korrektesten, die syrische Gesellschaft als entlang sozio-ökonomischer Klassen gespalten zu bezeichnen. Aus dieser Perspektive betrachtet, repräsentieren Islamisten heute wie 1980 ebenso wenig die sunnitische Gemeinschaft, wie das Regime die alawitische Gemeinschaft vertritt, resümiert Lobmeyer.

Terror und Gegenterror

Auch wenn es ein Zusammenschluss von Islamisten war, der 1976 den Jihad gegen das Regime erklärte, so argumentierte die Muslimbruderschaft nicht auf einer religiösen Diskursebene: Sie wetterte gegen das Regime als (politische) Minderheit. Dabei ging es nicht etwa um die Scharia. Das Credo war vielmehr neo-liberal: so wenig Staat wie möglich, um so einen starken Anti-Sozialismus heraufzubeschwören. Auch viele der Verstaatlichungen nach dem Staatsstreich von 1963 durch das junge Baath-Regime wollten sie rückgängig machen. Das Programm war also deutlich politisch-ökonomisch ausgerichtet und nicht politisch-religiös. Auch dies ist ein Grund, warum die Wirtschaftspolitik von Hafiz al-Asad mit seinem Machtantritt 1971 weit weniger radikal als die seines Vorgängerregime ausfiel, um damit die sunnitische Bourgeoisie für sich zu gewinnen.

Im Frühjahr 1980 kam es dennoch zum ersten Versuch der islamistischen Offensive, einen Volksaufstand zu initiieren, mit Massendemonstrationen in Hama, Homs, Aleppo, Idlib und Dair al-Zour. Geschäftsleute und Bazarhändler streikten. Nur die Verteidigungsbrigaden Rifat al-Assads, Hafiz‘ jüngeren Bruders, konnten diese Ausbrüche von öffentlichem Ungehorsam beenden.

Wirtschaftskrise und Inflation um das Jahr 1978 führten zu einem sinkenden Lebensstandard großer Teile der syrischen Bevölkerung. Der Anteil der städtischen Armen stieg enorm. Aber auch die Mittelschicht lebte verstärkt in „armen Verhältnissen“: 68 Prozent der städtischen Bevölkerung lebte arm, weitere zehn Prozent konnten als „Lumpenproletariat“ gesehen werden, welches überwiegend durch Landflucht entstandenwar. Vor diesem sozioökonomischen Hintergrund müssen die weiteren Geschehnisse verstanden werden.

Ab Mitte der 70er Jahre führten das Regime und islamistische Aktivisten einen Krieg mittels Terror und Gegenterror, der bald an bürgerkriegsähnliche Zustände erinnerte und in den Ereignissen von Hama 1982 gipfelte – und das vorläufige Ende des militärischen Widerstands gegen das Regime bedeutete.

Fred Lawson, Nahostwissenschaftler mit Syrien-Fokus, grenzt die soziale Basis für den „Hama-Aufstand“ stark ein und versucht so zu erklären, warum die Aufstände gerade in Hama so heftig waren, sich aber nicht auf andere Teile Syriens ausbreiteten. So habe sich der bewaffnete Kampf vor allem seitens der Händler und Kleinhandwerker gegen die Regierungsprogramme zur großflächigen Industrialisierung gerichtet.

Die Rache der ländlichen Gebiete

Nichtsdestotrotz hat sich die Strategie der Muslimbrüder seither radikal verändert. In den 1980er Jahren befand sich die soziale Basis der Gruppe in urbanen Zentren wie Damaskus, Aleppo, Hama und Homs. Das Regime war vor allem in den ländlichen Gebieten gut verwurzelt und verfügte daher über eine Massenbasis – im Gegensatz zur Muslimbruderschaft. Diese Situation hat sich gewandelt. Mit der wirtschaftlichen Öffnung des Landes und der Neoliberalisierung seiner Ökonomie sicherte sich das Baath-Regime vor allem bei der neuen Bourgeoisie einen starken Rückhalt und erschuf gar eigene Klassen, die durch „Netzwerke von Privilegien“ an das System in Damaskus gebunden wurden.

Dass die Aufstände in Daraa ausbrachen, einer ehemaligen Hochburg der Baathisten in den ländlichen Gebieten Syriens, ist bezeichnend. Oft ist daher auch die Rede von der „Rache der ländlichen Gebiete“, die sich insbesondere seit der großen Dürre von 2005 vernachlässigt fühlten. Damals mussten mehrere Tausend Menschen aufgrund des Wassermangels und der katastrophalen Wasserpolitik der Regierung aus den vertrockneten Gebieten flüchten. Ihnen blieb oft nichts anderes übrig, als zu den Armen in den Vororten, oft informelle oder illegale Siedlungen mit schlechter Infrastruktur, zu ziehen. Die Mieten in Städten wie Damaskus und Aleppo waren schon lange zu hoch für die Flüchtlinge.

Ökonomische Zwänge brachten auch immer mehr Damaszener dazu, in diese informellen Siedlungen zu ziehen. Kein Zufall also, dass die Revolution vor allem in den städtischen Vororten, die sich wie Armutsgürtel um Damaskus und Aleppo ziehen, seit inzwischen mehr als zwei Jahren besonders hartnäckig ist: die Menschen in Orten wie Duma und Daraya hatten schon lange nicht mehr viel zu verlieren. „Die Baath-Partei abzulehnen“, resümiert Lefèvre, „könnte deswegen für die Bewohner der ländlichen Gebiete Syriens heißen, ihren historischen Rivalen zu umarmen: die Muslimbruderschaft.“

Andererseits trifft aber auch zu, dass die Damaszener Bourgeoisie und Geschäftsleute nach 30 Jahren Kooptierung durch das Regime eine von den ländlichen Gebieten ausgehende Bewegung zum Sturz des Regimes mit großem Misstrauen sehen. Die Revolutionäre brauchen aber deren Unterstützung, um die Revolution erfolgreich zu Ende zu bringen.

Die Unterdrückung ökonomischer Sorgen hatte bereits in den 60er Jahren zu Ausschreitungen geführt, ebenso in den 80er Jahren. Damals wie heute gilt: Die Aufstände sind weniger als Ausdruck islamistischer Tendenzen zu verstehen, sondern müssen als das Hervortreten sozialer und wirtschaftlicher Antagonismen verstanden werden, aus denen islamistische Kräfte Kapital schlagen können.

Zum Weiterlesen (zitierte Autoren):

Lawson, F. H. (1982) Social Bases for the Hamah Revolt. MERIP Reports 110, S. 24-28.

Lefèvre, R. (2013) Ashes of Hama. The Muslim Brotherhood in Syria. London: C. Hurst & Co. Ltd.

Lobmeyer, H. G. (1990) Islamismus und sozialer Konflikt in Syrien. Berlin: Das Arabische Buch.

Lobmeyer, H. G. (1995) Opposition und Widerstand in Syrien. Hamburg: Deutsches Orient-Instituts.