31.01.2022
„Diese tänzerische Form des Denkens ist vom Staat unerwünscht“
Der Tänzer und Choreograph Ali Moini tanzt im Stück "Man Anam Ke Rostam Bovad Pahlavan" mit seinem mechanischen Gegenüber. Bild: tanzpol
Der Tänzer und Choreograph Ali Moini tanzt im Stück "Man Anam Ke Rostam Bovad Pahlavan" mit seinem mechanischen Gegenüber. Bild: tanzpol

Tanzpol, 2021 in Berlin gegründet, bietet der Darstellung von zeitgenössischen Formen des Tanzes mit Bezug zu Iran eine neue Plattform. Dis:orient sprach mit Ashkan Afsharian und Johanna Kasperowitsch, den Gründer:innen von tanzpol.

Weitere Informationen zu kommenden tanzpol-Veranstaltungen finden sich auf der Webseite und auf Instagram.

Ashkan und Johanna, wie steht es um zeitgenössischen Tanz in Iran?

Ashkan: Die Situation ist kompliziert. Der Staat unterstützt diese Kunstform nicht, aber es gibt kein Gesetz, das zeitgenössischen Tanz verbietet. Man kann tanzen, bloß nicht alles. Manche Dinge sind erlaubt, andere nicht. Wenn man nicht dort aufgewachsen ist, kann man nicht verstehen, wo diese Grenzen liegen. Menschen im Ausland sagen oft, dass Tanz in Iran verboten ist. Das ist nicht der Fall.

Johanna: Genau das macht es schwierig. In einem Jahr denkst du: „Das ist erlaubt, das habe ich auf der Bühne gesehen, vielleicht kann ich es auch machen.“ Es gibt Korridore und Grenzen, die sich fortgehend verschieben.

Gibt es hier Unterschiede zwischen Männern und Frauen?

A: Ich denke, es ist schwieriger für Frauen. Das liegt nicht am Tanz an sich, sondern daran, dass es für Frauen in Iran in allen Bereichen schwieriger ist. Ich kenne allerdings viele Frauen, die trotzdem als Choreograph:innen arbeiten.

J: Und für Frauenkörper ist es schwieriger. Als Mann oben ohne auf der Bühne aufzutreten geht vielleicht noch eher durch. Als Frau wäre das überhaupt nicht möglich.

Gibt es so etwas wie staatlich geförderten Tanz?

A: Nein, das gibt es nicht. Bestimmte Formen des Tanzes können jedoch als Teil von Theateraufführungen staatliche Unterstützung erfahren. Hier gibt es Themen, zumeist religiöser Natur, die der Staat und die Regierung für gut befinden. In diesem Bereich ist recht viel erlaubt, weil er als solcher akzeptiert wird. Diese Stücke würde ich als eine Mischung aus folkloristischen Elementen iranischer Volkstänze, von denen es viele verschiedene Formen gibt, und Ballett beschreiben. Es gibt natürlich nicht nur solche Stücke, aber das sind die Stücke, die Förderung erhalten können.

J: Zu den Elementen des Balletts ist zu sagen, dass klassisches Ballett in der Schah-Zeit beliebt war. Tänzer:innen, die in einer Ballettkompanie gearbeitet haben, haben nach der Revolution Wege gesucht, wie sie in ihrer Profession weiterarbeiten können. Diese Personen sind häufig am Theater gelandet, mit seinen religiösen und historischen Themen. Hier haben sie jedoch auch versucht, ihre Ballettkenntnisse und Körper mehr einzubringen. Ich denke, das stellt einen Grund dar, warum jene Theaterstücke oft balletig wirken.

Inwiefern ist Tanz in Iran politisch?

J: Ich würde sagen, zeitgenössischer Tanz, wie wir ihn kennen, ist ein Phänomen des globalen Nordens. Er kommt aus Europa und den USA. Die Leute, die sich damit beschäftigen, setzen sich in diesem Sinne mit etwas Westlichem auseinander und in diesem Moment ist es auch etwas Politisches. Ansonsten wäre es nicht so brisant. Aber nicht jede Auseinandersetzung mit Tanz muss deshalb etwas Politisches zum Inhalt haben. Trotzdem ist allein die Auseinandersetzung dieser Art mit dem eigenen Körper schon politisch in Iran.

A: In Iran lassen sich Politik und Gesellschaft nicht trennen. Als ich noch in Iran war, haben wir gesagt: „Alles ist politisch, egal was du machst, und sei es auch nur Einkaufen gehen“ (lacht). Ich würde Johanna zustimmen und ergänzend sagen, dass diese Art des Tanzes als unvereinbar mit der Religion betrachtet wird. Wenn wir sagen, dass Tanz eine Art des Denkens im Kontext darstellt, dann liegt hierin das viel grundlegendere Problem.

Menschen, die diese Art des Tanzes betreiben, stellen Dinge in grundsätzlicher Weise in Frage. Du kannst beim Tanzen deine eigenen Regeln aufstellen und bestehende Konventionen hinterfragen. Diese tänzerische Form des Denkens ist vom Staat unerwünscht. Es gibt viele Tanzformen in Iran, wie die erwähnten Volkstänze, die der Staat duldet, weil sie bestimmten Regeln folgen. Aber diese Art des zeitgenössischen Tanzes wird seitens des Staates als Gefahr wahrgenommen, weil sie Menschen mit ähnlichen Denkweisen verbindet.

Welche Szene für zeitgenössischen Tanz gibt es in Iran?

A: Ich denke eine Szene in diesem Sinne gibt es nicht. Aber es gibt Menschen, die als Tänzer:innen und Choreograph:innen arbeiten und miteinander vernetzt sind.

J: Man muss darüber nachdenken, was unter Szene verstanden wird. Eine Szene in Form von Förderungen, Orten, Studios, einschlägigen Bühnen und professionellen Netzwerken gibt es nicht. Aber es gibt eine Szene von Menschen, die untereinander vernetzt sind, wissen, wer etwas macht, sich Sachen zeigen und überlegen: „Hier kann ich vielleicht mit Tanz auftreten, hier ist eher Theater, aber ich kann möglicherweise Tanz integrieren“ – solche Sachen gibt es. Insofern kann von einer Szene gesprochen werden.

Was kann durch Tanz zum Ausdruck gebracht werden, das durch andere Kunstformen nicht ausgedrückt werden kann?

J: Tanz ist für mich die Kunstform, wo nichts zwischen dir und dem, was du machst, steht. Bei der Malerei hast du dein Bild dazwischen, bei der Musik ist es dein Instrument oder deine Stimme. Tanz stellt eine sehr nackte Kunstform dar, weil du mit deinem Körper Kunst schaffst. Und es ist sehr unmittelbar. Der Körper ist komplex, hierdurch wird die Spontanität und der Moment so wichtig. In dem Moment, wo du einen Körper in Bewegung siehst, trifft es dich ganz unmittelbar in deiner eigenen Erfahrung, weil du weißt, wie es sich anfühlt, eine bestimmte Bewegung auszuführen. Und in dem Moment, wo du es siehst, kann es dich auf einer ganz unbewussten Ebene treffen. Das ist das Schöne am Tanz. Du hast diese Verbindung und kannst sie unmittelbar nachempfinden.

A: Das Theater repräsentiert ein Thema. Es gibt Dialog und Text, die eine übergeordnete Rolle einnehmen. Tanz hingegen repräsentiert nicht. Du bist mit deinen Gefühlen im Moment, hast deinen Körper und deine Stimme, hast vielleicht auch einen Text und alles ist gleichwertig. Ich denke jedoch nicht, dass du mit Tanz etwas machen kannst, was andere Kunstformen nicht können.

Was hat es mit dem Namen tanzpol auf sich?

A: Pol heißt Brücke auf Farsi. Es geht darum eine Brücke, eine Plattform, zu bauen und Verbindungen herzustellen. Berlin ist eine zentrale Tanzmetropole in Europa und es entwickelt sich hier aktuell sehr viel. So soll etwa ein neues Tanzhaus gebaut werden, dass es in Berlin, im Gegensatz beispielsweise zum Tanztheater in Wuppertal, noch nicht in dieser Form gibt.

J: Und Pol auch im Sinne von Anziehungspol. Hier liegt die Idee zugrunde, dass Berlin ein Anziehungspol für verschiedene Menschen mit Tanzbezug darstellt. Tanzpol will verschiedene Akteur:innen mittel- und langfristig miteinander vernetzen.

Wie ist die Idee zu tanzpol entstanden?

J: Im Anschluss an meine Tänzer:innenlaufbahn habe ich meinen Master in Tanzwissenschaft gemacht und mich in meiner Masterarbeit über zeitgenössischen Tanz in Iran im weitesten Sinne auseinandergesetzt. Ich wollte hierfür Interviews führen und habe Ashkan am HZT [Hochschulübergreifendes Zentrum Tanz Berlin, Anm. d. Red.] kennengelernt. Gemeinsam ist die Idee entstanden, eine Plattform für Tänzer:innen aus Iran zu kreieren, um ihre Stücke zu präsentieren, aufzutreten, sich zu vernetzen und mit der Szene hier auszutauschen. Der Kreis hat sich mittlerweile auch auf Tänzer:innen aus Berlin und Europa erweitert.

Tanzpol setzt sich mit dekolonialen Perspektiven im zeitgenössischen Tanz auseinander. Welche Probleme bestehen hier?

J: Grundsätzlich ist es wichtig, das Konzept „Wir zeigen iranische Künstler:innen in Europa“ kritisch zu hinterfragen. Gerade im Tanz ist es ein Problem. Warum werden bestimmte Stücke eingeladen? Warum sind auf einmal Menschen aus Iran so interessant für Festivals? Handelt es sich bloß um einen Trend und in zwei Jahren ist es wieder vorbei und die Leute werden nicht mehr eingeladen? Das sind Fragen von Machtstrukturen: Wer hat wann etwas zu sagen und warum? Und wer bestimmt darüber, was gezeigt wird und was nicht? Dass diese Fragen reflektiert werden, war mir ein Anliegen.

Wie geht ihr mit diesen Machtstrukturen um?

J: Wenn du die:derjenige bist, die:der das Geld und den Ort hat, und entscheiden kannst, was gezeigt wird – dann bist du in einer Machtposition. Und diese Positionen liegen oft in Europa. Hier gibt es Gelder und Infrastruktur. Es stellt sich deshalb die Frage, wie man sich mit nicht-europäischer Kunst auseinandersetzt. Wie kuratiert man diese? Allein das Wort kuratieren bedeutet bereits, dass du aussuchst und entscheidest. Auch wir sind in der Zwickmühle, da wir entscheiden müssen und es stellt sich die Frage, auf welcher Basis entschieden wird. Eigentlich möchte ich das gar nicht machen, aber wenn ich etwas veranstalten will, komme ich natürlich nicht darum herum. Es war mir deshalb auch sehr wichtig nicht das Format à la „Deutsche Kurator:in spricht mit iranischer:m Künstler:in über deren Arbeit“ zu haben. Hier würde genau diese Position der Macht erneut reproduziert werden. Es soll offener und dialogischer vorgehen.

A: Es gibt keine konkrete Lösung hierfür, aber wenn man die Möglichkeit schafft, genau hierüber zu sprechen und unterschiedliche Perspektiven verschiedener Menschen einfängt, kann man einen guten Anfang finden.

Mit welchen Vorstellung von Iran sind iranische Tänzer:innen und Künstler:innen im Ausland konfrontiert?

A: Ich habe es schon oft erlebt und ich weiß, dass viele Tänzer:innen wie auch Künstler:innen anderer Disziplinen aus Iran ähnliche Erfahrungen machen. Du wirst als Künstler:in eingeladen und zeigst dein Stück, beispielweise zum Thema Liebe, nicht zum persischen Teppich oder zu Granatäpfeln. Die Frage, die Kolleg:innen nach der Aufführung häufig zuerst gestellt bekommen, war, wie sie sich hier ohne Kopftuch fühlen würden. Und dann schaut man sich ratlos um und muss daran denken, dass man zwei Jahre an einem Stück gearbeitet hat, eingeladen wird und hierherkommt, um die eigene Kunst zu zeigen.

Natürlich ist das Kopftuch ein wichtiges Thema in Iran, aber wir sind hier, um über unsere Kunst und unsere Stücke zu sprechen. Ich habe ähnliches auch von iranischen Regisseur:innen gehört, die immer wieder mit Fragen dieser Art konfrontiert werden und teils sehr wütend geworden sind und gesagt haben, es reicht: „Ich zeige etwas anderes als das, was ihr euch unter Iran vorstellt oder auch was euch als nicht-iranisches Thema gilt.“

J: Deshalb war es uns auch wichtig, im Namen das Wort iranisch oder iranischer Tanz nicht drin zu haben, weil es verschiedene Vorstellungen, wie etwa „Tanz ist verboten in Iran und wir machen hier etwas ganz Besonderes“, bedienen oder damit assoziieren würde. Und darum geht es nicht. Es gibt einen Iran-Schwerpunkt, ja, aber das Festival kann sich erweitern und muss nicht auf Tanz aus Iran beschränkt bleiben.

Inwiefern richten sich Künstler:innen nach europäischen, westlichen Vorstellungen und Sehgewohnheiten?

J: Das passiert häufig. Es gibt Leute, die das ganz bewusst machen, weil sie in Europa touren wollen. Sie wollen ihre Stücke prominent zeigen und entwerfen deshalb eine exotisierende Choreographie.

Welche Rolle spielt das in der Konzeption, insbesondere der Auswahl von Künstler:innen für Veranstaltungen im Rahmen von tanzpol?

A: Die grundsätzliche Idee ist es, Künstler:innen und Choreograph:innen mit iranischem Hintergrund einzuladen. Und da sind wir auf eine bestimmte Gruppe begrenzt. Wir müssen die entsprechenden Menschen außerdem fragen, ob sie überhaupt mitmachen wollen. Und natürlich stellt sich, etwas zugespitzt formuliert, die Frage, ob die:der Künstler:in oder Choreograph:in exotisch sein wollen oder nicht. Ich werde Künstler:innen und Choreograph:innen, die in diesen alten Mustern verhaftet sind, nicht einladen, da ich sie nicht reproduzieren möchte.

Könnt ihr ein Stück nennen, das euch in eurer Karriere nachhaltig beeinflusst hat?

J: Ein Schlüsselmoment stellt auf jeden Fall Alain Platel mit seinem Pina Bausch gewidmeten Stück Out of Context – for Pina dar. Das habe ich gesehen und es hat mich nachhaltig davon überzeugt, dass Tanz das ist, was ich machen will. Und dann auf jeden Fall Pina Bauschs Stücke in Wuppertal, wie Café Müller oder Le Sacre du Printemps, wo ich auch dachte: „Wow!“ Und was mir mit Anfang zwanzig sehr gut gefallen hat, heute jedoch weniger, waren die Stücke des israelischen Choreographen Hofesh Shechter. Das waren auf jeden Fall drei prägende Einflüsse. Nach den ganzen Jahren, die ich mich mit Tanz beschäftigt habe, finde ich in vielen Stücken etwas Besonderes. Es gibt nicht mehr diesen Drang nach den großen Stücken und Namen. Wenn ich heute unterwegs bin, schaue ich mir lieber kleinere Sachen an, die ich noch nicht kenne.

A: Bei mir waren es ganz unterschiedliche Phasen mit unterschiedlichen Einflüssen. Natürlich ebenfalls Pina Bausch. Das war die erste Choreographin, der ich begegnet bin und die mich bewegt hat. Für mich war es ein Entdeckungsprozess. Ich habe Videos gefunden, zum Beispiel von Steve Paxton oder Akram Khan und es war jedes Mal wie eine neue Welt. Und als ich nach Deutschland kam, hatte ich diese großen Namen wie Sasha Waltz im Kopf. Aber als ich dann auch nach und nach kleinere Stücke gesehen habe, haben die großen für mich an Bedeutung verloren. Ich habe viele kleine Stücke unbekannter Künstler:innen gesehen, die so gut gearbeitet waren und eine ganz besondere Verbindung zu mir aufbauen konnten. Und da dachte ich mir, ich brauche die großen Namen nicht mehr. Ich denke, die Zeit der Ikonen ist vorbei und es gibt viele tolle Künstler:innen.

Habt ihr Empfehlungen für diejenigen, die sich nicht mit Tanz auskennen?

J: Ich würde sagen, lass uns zwei Wochen wo hinfahren und Stücke anschauen. Ich könnte nicht sagen, lass uns das anschauen, dieses eine Stück muss man gesehen haben. Wenn man sich nicht mit zeitgenössischem Tanz auskennt und in Berlin ist, würde ich empfehlen, dass man sich etwas von Meg Stuart anschaut. Oder man geht in verschiedene Häuser. Man schaut sich zum Beispiel etwas im HAU [Hebbel am Ufer, Anm. d. Red.] an und geht anschließend in die Oper, um zu sehen, wo die Unterschiede liegen und was einem ganz persönlich gefällt. Es bleibt eine Geschmacksfrage.

A: Es ist schwierig, hier etwas zu nennen, da es sehr viele unterschiedliche Arten von Tanz gibt. Aber es gibt viele spannende und schöne Stücke, die Menschen im Rahmen von tanzpol sehen werden können (lacht).

 

 

Max hat in Berlin Politikwissenschaften und Soziologie (M.A.) studiert. Im Rahmen seines Studiums hat er sich vor allem mit außen- und sicherheitspolitischen Fragen sowie der Geschichte und Politik Irans beschäftigt. Er interessiert sich sehr für aktuelle Musik aus WANA.
Redigiert von Sophie Romy, Bruna Rohling