04.12.2020
Zerrbild Iran – Von einem Klischee zum nächsten
„In dem heute so beliebten Narrativ existieren in Iran zwei total separate Lebenswelten: eine in der Öffentlichkeit und eine im Untergrund.“ Doch die Realität ist komplexer. Grafik: Paul Bowler
„In dem heute so beliebten Narrativ existieren in Iran zwei total separate Lebenswelten: eine in der Öffentlichkeit und eine im Untergrund.“ Doch die Realität ist komplexer. Grafik: Paul Bowler

Deutsche Medien behaupten, sie hätten „den echten Iran“ gefunden – abgekoppelt von staatlicher Obrigkeit. Die Realität ist aber komplexer als die illegale Technoparty in Teheran, zu denen Reporter*innen Zugang haben, findet Omid Rezaee.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne Des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

„Das wahre Leben findet im Untergrund statt.“ So oder so ähnlich lautet der Tenor regelmäßig, wenn deutsche, oder europäische und nordamerikanische Medien über Iran berichten. Dabei folgen die Texte nahezu alle demselben Schema. Die Geschichte fängt damit an, wie wir Iran durch die Medien so kennen: dass es ein düsteres Land wäre, in dem alle Frauen schwarz verhüllt seien, überall religiöse Gesänge zu hören wären und man als Frau nicht allein durch das Land reisen könnte. Dann kommt der*die Autor*in zur „Wahrheit“: eigentlich sei Iran ein buntes Land, in dem Frauen sich farbig kleiden und junge Männer und Frauen zusammen feiern. Auf illegalen Partys, die im Untergrund stattfinden, trinke man Alkohol und lausche „westlicher“ Musik.

Häufig handelt es sich bei solchen Texten um Reportagen. Der*die Autor*in beschreibt die Szene so, als ob er*sie die erste Person wäre, die dieses lange wohlgehütete Geheimnis nun gelüftet hätte. Mit dem alten Klischee vom schattenumwobenen Land wird dabei berechtigterweise aufgeräumt, doch es wird durch ein nicht weniger klischeehaftes Zerrbild ersetzt: das vom „anderen“, „wahren“ Iran.  

Woher der Sinneswandel wohl ursprünglich kommt? Wahrscheinlich vor allem daher, dass das alte Bild nicht zu dem passt, was ausländische Journalist*innen vor Ort erleben. Ursache und Wirkung verstärken sich dabei gegenseitig: Weil Iran inzwischen nicht mehr so gefährlich dargestellt wird, reisen Reporter*innen und Intellektuelle häufiger dorthin – und haben, von ihren eigenen Erfahrungen irritiert, ein neues Stereotyp geschaffen.

In dem heute so beliebten Narrativ existieren in Iran zwei total separate Lebenswelten: eine in der Öffentlichkeit und eine im Untergrund. Erstere werde von staatlichen Medien verbreitet, während die Bevölkerung mehrheitlich das „echte“ Iran lebe, das in der Öffentlichkeit aber nicht präsent sei.

Nur ein Teil der Realität

Dass sich dieses reduzierte Bild so großer Beliebtheit erfreut, mag unter anderem daran liegen, dass sich Journalist*innen und Leser*innen durch eine solche Darstellung selbst bestätigt fühlen. Frauenproteste, Filme, in denen Menschen Jeans tragen und iranische Migrant*innen, die überwiegend wenig religiös sind: Manch eine*r könnte solche Themen, die nur einen Teil der iranischen Realität abbilden, fälschlicherweise als Beweis für die Überlegenheit eigener Wertvorstellungen interpretieren.

Doch auch iranischen Migrant*innen gefällt diese Darstellung. Sie reproduzieren eine solche Erzählung, da sie impliziert, dass die Menschen in Iran nett und modern seien und nur der Staat böse. Für Iraner*innen im Ausland, die andauernd dazu aufgefordert werden zu berichten, wie das Leben in Iran sei, ist diese Version viel angenehmer – auch für mich selbst. Wer will schon mit einem Land in Verbindung gebracht werden, von dem Menschen annehmen, dass es von Grund auf böse und rückständig sei? Ein Land, von dem sich das Klischees hartnäckig halten, wie dass auf Straßen mit Kamelen geritten wird oder dass alle Mädchen bereits mit 14 Jahren zwangsverheiratet werden.

Um ehrlich zu sein, würde ich das Narrativ der „zwei Leben“ am liebsten selbst als „den echten Iran“ verkaufen. Wäre ich Mediziner oder Programmierer geworden, hätte ich mich sicherlich damit begnügt, solch eine leichte Erklärungen parat zu haben. Doch als Journalist sehe ich mich dazu verpflichtet, iranische Lebensrealitäten in all ihrer Komplexität darzustellen. So ein Anspruch macht mir die Sache natürlich nicht leicht: Letztendlich ist es in Alltagsgesprächen ungeheuer schwierig, ein Land, das viermal größer als Deutschland ist und 85 Million Einwohner*innen hat, zufriedenstellend zu erklären. Auch eine Person wie ich, die das beruflich macht, freut sich nicht, wenn sie auf jeder Geburtstagsparty gefragt wird, ob dies und das über Iran stimme.

Die Lebenswelt der Privilegierten

Noch ein Faktor hat in der Entstehung des neuen Bilds von Iran eine bedeutende Rolle gespielt: Die Reporter*innen und Journalist*innen, die nach Iran reisen, begegnen dort in der Regel einem bestimmten Milieu von Iraner*innen. Aufgrund fehlender Sprachkenntnisse haben sie in erster Linie Zugang zu den gebildeten Iraner*innen, die gut Englisch sprechen und einen ähnlichen Lebensstil führen wie sie selbst. Im Endeffekt geht es also nicht darum, zu wem die ausländischen, weißen Reporter*innen Zugang haben, wenn sie über Iran berichten wollen, sondern umgekehrt: Die Berichterstattung wird davon bestimmt, welche Iraner*innen zu diesen Journalist*innen Zugang haben.

Diese privilegierte Gruppe – ob sie nun in der Mehr- oder Minderheit ist, ließe sich stundenlang diskutieren – lebt in Großstädten, hat Erfahrung mit weißen Ausländer*innen und kann sich eloquent ausdrücken. Kurz gesagt: Sie treffen quasi ausschließlich jene Iraner*innen, die solche Partys feiern können, wie es sie auch in Berlin gibt. Die Kehrseite dieser Realitätsverzerrung ist, dass das Ausmaß der Repression im Lande kleingeredet wird: Es ist, als ob mittelalterlichen Regelungen nur noch auf dem Papier existieren würden und sie in der Praxis alle Bürger*innen umgehen würden. Obwohl Iran eigentlich kaum vielfältiger sein könnte, haben deutsche Medien der Öffentlichkeit eine reduktionistische Vorstellung vermittelt.

Zeit für einen Wandel in den Redaktionen

Dabei kommt das neue Narrativ vom „wahren Leben im Untergrund“ der komplexen Realität nur wenig näher als die antiquierte Vorstellung der Kamelreiter*innen. Wie alle Länder dieser Welt kennt Iran nicht bloß zwei Lebenswelten, sondern tausende unterschiedlichste Lebensentwürfe. Es gibt diverse Milieus mit verschiedensten Problematiken und Auseinandersetzungen. Logischerweise haben Menschen im Herzen Teherans andere Probleme als die Schüler*innen an der türkischen Grenze. Am südlichen Stadtrand Teherans geht es vollkommen anders zu als in den schicken Frisiersalons im Norden der Hauptstadt, von denen ausländische Fotojournalist*innen so gerne Bilderserien in der Zeitung veröffentlichen.

Leider haben sich die Medienhäuser inzwischen so sehr auf ihre Vorstellung von Iran eingestellt, dass sie ignorieren, was nicht in ihr simplifiziertes Bild passt. Aus eigener Erfahrung weiß ich leider zu gut, wie schwer es ist, im deutschen Raum Iran-Geschichten unterzubringen zu Themen wie dem ländlichen Leben, sozialen Konflikten, ethnischen Minderheiten, Bildung, Umwelt oder Armut (von Storys über die Auswirkungen internationaler Wirtschaftssanktionen mal abgesehen). Vielleicht wäre es an der Zeit, dass die Redaktionen die Reporter*innen, die sie in die Region schicken, dazu ermutigen, nicht nur über Partys und Musik in den reichen Bezirken Teherans zu berichten.

 

 

Omid Rezaee ist ein iranischer Journalist. 2012 verließ er seine Heimat, nachdem er aufgrund seiner journalistischen und politischen Tätigkeiten einige Monate im Gefängnis verbracht hatte. Bis Ende 2014 berichtete er aus dem Irak vor allem über den Krieg gegen den sogenannten Islamischen Staat. 2015 kam er nach Deutschland und schreibt seitdem...
Redigiert von Maximilian Ellebrecht, Anna-Theresa Bachmann