13.05.2017
Eiertanz in Saudi-Arabien: Von Merkel, Menschenrechten und Munitionsfabriken
Luftangriff in Sanaa, Jemen, am 11. Mai 2015. Foto: Ibrahem Qasim/Flickr (cc-by-sa 2.0)
Luftangriff in Sanaa, Jemen, am 11. Mai 2015. Foto: Ibrahem Qasim/Flickr (cc-by-sa 2.0)

Merkels Besuch in Saudi-Arabien läutet ein neues Kapitel bilateraler Zusammenarbeit ein. Gleichzeitig verschlechtert sich die Menschenrechtslage im Land und das saudische Militär bombardiert die jemenitische Zivilbevölkerung. Deutschland sollte seinen wachsenden Einfluss besser nutzen, kommentiert Hauke Waszkewitz.

Bundeskanzlerin Angela Merkel reiste Ende April nach Saudi-Arabien. Ziel der Reise war es, ein neues Kapitel engerer wirtschaftlicher und politischer Zusammenarbeit einzuleiten. Aufgrund niedriger Ölpreise, begonnen im Sommer 2015 durch neue Fracking-Technologie, sah sich die Golfmonarchie gezwungen, ihre Wirtschaft zu diversifizieren, um der starken Abhängigkeit vom Ölpreis zu entkommen. Das Interesse an wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit Deutschland schoss in die Höhe.

„Vision 2030“ heißt das saudische Reformprojekt, von welchem sich deutsche Unternehmen wie Siemens oder die Deutsche Bahn Milliardenprofite durch Infrastruktur- und Modernisierungsprojekte versprechen. Darüber hinaus hat Saudi-Arabien großes Interesse an deutscher Energie-, Umwelt- und Wassertechnologie, ein Segen für die exportabhängige deutsche Wirtschaft. Als wäre dies nicht genug des Guten, hatte Riad einige Tage vor dem Besuch Berlin mitgeteilt, dass Saudi-Arabien keine weiteren Waffen in Deutschland mehr erwerben wolle; man sei sich der politischen Restriktionen bei Waffenverkäufen bewusst, respektiere diese und lege größeren Wert auf gute wirtschaftliche Zusammenarbeit.

Menschenrechtsverletzungen in Saudi-Arabien

Alles könnte so einfach sein. Hätte Saudi-Arabien nicht eine lange Liste an Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Gefangenenmisshandlung, Geschlechterdiskriminierung, willkürlicher Verhaftungen und, seit neustem, Verletzungen humanitären Völkerrechts. Während Kanzlerin Merkel den politischen Fortschritt im Land, besonders im Bereich der Frauenrechte, lobte, wie die Zulassung von Frauen zu Handelskammern und das Wahlrecht für Frauen bei Kommunalwahlen, zeichnete Amnesty International 2017 ein anderes Bild des Königreichs. 2016 war von einem unverhältnismäßig harten Vorgehen gegen politische Dissidenten und Menschenrechtsaktivisten gekennzeichnet und das Jahr 2017 scheint noch düsterer zu werden.

Bereits im Januar kam es zu einer Reihe von Verhaftungen. Ahmed al-Mushaikhass wurde wegen seines Aktivismus gegen die ungerechte Behandlung der östlichen Provinzen Saudi-Arabiens inhaftiert. Sein Bruder Yusuf wurde wenig später hingerichtet. Essam Koshak, ein Menschenrechtsaktivist und Blogger, kam drei Tage später, am 8. Januar, ins Gefängnis; das Recht auf einen Anwalt wird ihm seither verweigert. Nur zwei Tage später wurde Abdulaziz al-Shubaily, ein Mitglied der mittlerweile verbotenen ACPRA (Saudi Civil and Political Rights Association) sowie Aktivist und Blogger, inhaftiert und musste sich vor einem Sondergericht verantwortlichen – das eigentlich für Terror- und Spionageakte zuständig ist. Darüber hinaus erhielt Amnesty zahlreiche Berichte über Folter, Misshandlung von Inhaftierten und Diskriminierungen der schiitischen Minderheit im wirtschaftlich benachteiligten Osten des Landes. Des Weiteren dürfen Frauen immer noch nicht Auto fahren und benötigen einen männlichen Vormund für nahezu alle offiziellen Angelegenheiten.

Illegal sogar nach saudischem Recht

Nun ist es nicht die Aufgabe der Bundeskanzlerin, durch die Welt zu reisen und Staatsoberhäuptern anzuordnen, wie sie ihr Land umzukrempeln haben. Andererseits hat sie sehr wohl das Recht, und auch die Verantwortung, brutale Missstände anzusprechen. Folter, die Verfolgung politischer Aktivisten und der rechtlose Status von Frauen befinden sich klar außerhalb relativ-kultureller Normen und dürfen nicht als „lokale Folklore“ akzeptiert werden. Dies sollte nicht bedeuten, dass deutsche Unternehmen nicht mit saudischen kooperieren können. Ein Siemens-Manager kann und sollte sich sowieso nicht in innenpolitische und normative Abläufe anderer Länder einmischen. Enge wirtschaftliche Beziehungen sind sogar nützlich dazu beizutragen, den Einfluss auf gesellschaftlichen Wandel zu verstärken. Wirtschaftliche Diversifikation führt häufig zu einer geringeren Einkommensungleichheit und ein zunehmendes internationales Umfeld kann normative Standards verändern.

Darüber hinaus kann es sehr wohl Aufgabe der Bundeskanzlerin sein, Saudi-Arabien dazu aufzufordern, seine eigenen Gesetze einzuhalten. Das Königreich hat 1997 die internationale Konvention gegen Folter unterzeichnet und ist somit an deren Bestimmungen gebunden; Folter ist dementsprechend nach saudischem Recht verboten, wenn auch unklar definiert. Ebenso haben Gefangene in Saudi-Arabien das Recht auf einen Anwalt, auf ein ordentliches Gericht und auf eine menschenwürdige Behandlung im Gefängnis. Anstelle solche Themen zielgerichteter anzugehen, kam leider nur leere Phrasendrescherei wie „wir werden weiter am Brett der Menschenrechte bohren“ von der Kanzlerin. Zu den sich mehrenden Berichten über Folter kommt das brutale und unverhältnismäßige Vorgehen des saudischen Militärs. Seit mehr als zwei Jahren fliegt Saudi-Arabien Bombenangriffe im Jemen gegen Aufständische, wobei ein Großteil der Opfer Zivilisten sind.

Der Konflikt im Jemen

Der jemenitische Bürgerkrieg hat seine komplexen Wurzeln in, nebst anderer Faktoren, sozioökonomischen Differenzen zwischen dem ehemaligen Nord- und Südjemen, sowie Spannungen zwischen seiner sunnitischen Mehrheit und der zaiditischen Minderheit im Land. Der Konflikt spitzte sich zu, als Houthi-Rebellen, eine paramilitärische schiitische Organisation, im Januar 2015 den damaligen Präsidenten Abdrabbuh Mansur Hadi unter Hausarrest stellten und begannen, schrittweise die Kontrolle über die Hauptstadt Sanaa zu erlangen. Präsident Hadi floh im März 2015 nach Saudi-Arabien, welches, alarmiert durch den potenziellen Einfluss Irans im Nachbarland, die Kriegstrommeln rührte.

Am 26. März 2015 begann eine Koalition aus Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain, Kuwait, Katar, Ägypten, Jordanien, Marokko, Senegal, dem Sudan und Überresten der jemenitischen Armee, unter saudischer Führung Luftangriffe gegen die Houthi-Rebellen zu fliegen. Gleichzeitig errichtete die Koalition eine Seeblockade um Houthi-Territorien mit US-amerikanischer Hilfe. Westliche Staaten, inklusive Deutschland, sowie China und die Türkei unterstützen das saudische Vorgehen politisch und erkennen weiterhin Hadi als rechtmäßigen Präsidenten des Jemen an.

Verletzungen humanitären Völkerrechts

Das große Problem der anhaltenden, saudischen Operation ist, dass die saudische Luftkampagne Zivilisten und Soldaten gleichermaßen bombardiert. Action on Armed Violence (AOAV), eine britische NGO, die Daten über den Einsatz von Explosionswaffen, also Bomben, Raketen, Artilleriegranaten usw. und deren Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung sammelt, zog eine schockierende Bilanz. Laut AOAV gab es 11.800 Opfer solcher Waffen im Jemen in den letzten beiden Jahren, 76 Prozent hiervon waren Zivilisten. 69 Prozent aller Opfer kamen durch Luftangriffe zu Tode. Da die Houthi-Rebellen über keine Flugzeuge verfügen, ist davon auszugehen, dass diese 8142 Menschen durch Einsätze der saudischen Koalition starben. 85 Prozent aller Opfer von Explosivwaffen kamen in dicht besiedelten Gebieten, etwa Marktplätzen, Wohngegenden oder Moscheen, ums Leben. Das Yemen Data Project (YDP) sammelt Informationen über alle Arten von Gewalt im Jemen. Diese Daten ergeben, dass bereits im September 2016 mindestens 942 Angriffe auf Wohngebiete, 114 auf Marktplätze, 34 auf Moscheen, 147 auf Schulgebäude, 26 auf Universitäten und 378 auf Infrastruktureinrichtungen stattgefunden haben. Dies sind keine legitimen militärischen Ziele.

Zusätzlich hat die saudische Koalition sogenannte „Doppelschläge“ durchgeführt, etwa jenen auf eine Beerdigungsprozession am 8. Oktober 2016, bei dem 140 Personen ums Leben kamen und weitere Hunderte verletzt wurden. Bei solchen Angriffen wird zunächst das eigentliche Ziel bombardiert, gefolgt von einem zweiten Angriff, im Falle der genannten Beerdigung acht Minuten später, um zu Hilfe eilende Kombattanten und medizinisches Personal zu töten. Doppelschläge setzt ebenfalls die syrische Armee regelmäßig ein. Doppelschläge, Angriffe auf zivile Einrichtungen sowie Angriffe gegen militärisches Personal hors de combat, also kampfunfähige Einheiten, verletzen humanitäres Völkerrecht oder „Kriegsrecht“. Saudi-Arabien ist Mitgliedstaat der Genfer Konventionen über humanitäres Recht I – IV sowie der Zusatzprotokolle I und II und entsprechend an deren Bestimmungen gebunden. Auch Houthi-Rebellen verletzten humanitäres Völkerrecht und töten und verletzen Zivilisten; außerdem existieren Berichte über Moscheen und Schulen, die von Houthi-Rebellen als Kommandozentren genutzt werden. Auch hier hätte die Kanzlerin zielgerichtet die Luftangriffe gegen zivile Ziele kritisieren können, an Stelle von weiteren leeren Forderungen wie „ein Ende aller Kampfhandlungen und eine politische Lösung für das Land“. Dieses ist selbstverständlich wichtig, allerdings so weit von der Realität entfernt, dass es sinnvoll wäre, die politische Energie auf Einzelthemen zu konzentrieren.

Europäische Waffenexporte nach Saudi-Arabien

Auch wenn Saudi-Arabien angekündigt hat, 2017 keine Waffen in Deutschland beantragen zu wollen, hat das Geschäft doch in den vorherigen Jahren geblüht. 2016 belief sich der Gesamtwert deutscher Waffenexporte nach Saudi-Arabien auf 529 Millionen Euro, womit das Königreich Platz drei auf der Liste einnimmt, hinter Algerien auf Platz eins mit Exporten im Wert von 1.4 Milliarden Euro und den USA auf Platz 2 mit 1.2 Milliarden.

Britische Waffenexporte nach Saudi-Arabien für 2016 beliefen sich sogar auf 3,3 Milliarden Pfund und, als wäre dies nicht genug, kam ans Licht, dass britische Streumunition und Streubomben im Jemen eingesetzt wurden. Großbritannien ist, so wie auch Deutschland, seit 2010 an das internationale Abkommen gegen Streumunition gebunden, welches unter anderem die Produktion sowie den Einsatz und Verkauf von Streumunition untersagt. Es folgte ein politisches Erdbeben in Großbritannien; Oppositionspolitiker bezeichneten den Einsatz britischer Waffen gegen Zivilisten als „widerlich“ und die fortlaufende Unterstützung für Saudi-Arabiens Kampagne „heuchlerisch“. Die Streubomben wurden zwar 2010, also bevor Großbritannien an die Bestimmungen der Konvention gebunden war, verkauft, stellen jedoch ein Ernst zu nehmendes Beispiel dar, wie europäische Waffen im Einsatz gegen Zivilisten enden können.

Waffenexporte aus EU-Staaten unterliegen den strikten Richtlinien des European Union Code of Conduct on arms exports von 1998, bestätigt durch die gemeinsame Position des europäischen Rates 2008/944/CFSP. Waffen dürfen nicht exportiert werden, wenn ein „klares Risiko“ besteht, dass der Käuferstaat die Waffen für interne Repressionen oder Aggressionen gegen ein anderes Land einsetzt. Darüber hinaus muss der Käuferstaat den Verpflichtungen humanitären Völkerrechts nachkommen.

Es scheint, als habe Saudi-Arabien diese Kriterien in den Augen politischer Entscheidungsträger bis einschließlich 2016 zur Genüge erfüllt, trotz der sich mehrenden Beweise für Verletzungen humanitären Völkerrechts und brutaler interner Repression. In der Vergangenheit hatte die Bundesregierung Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien damit verteidigt, dass diese den „legitimen Schutz- und Sicherheitsinteressen“ Saudi-Arabiens dienen. Es scheint, dass in den Augen der Bundesregierung wahllose Bombardements ziviler Einrichtungen dies miteinbezieht.

Selbst wenn Exporte untersagt werden, bedeutet dies noch lange nicht ein Ende aller Transaktionen. Deutsche und europäische Waffentechnologie findet ihren Weg nach Saudi-Arabien und in andere Krisenregionen. Direktinvestitionen und Geschäfte über Tochterunternehmen tauchen nicht in der Statistik deutscher Rüstungsexporte auf. Als Beispiel: 2015 wurde eine neue Munitionsfabrik in Saudi-Arabien eröffnet, die 300 Artilleriegranaten und 600 Mörsergranaten pro Tag produzieren kann. Der südafrikanische Munitionshersteller Rheinmetall Denel Munition (RDM) war maßgeblich in das Projekt involviert und stellt Pulver, Hülsen und Zünder bereit. RDM Aktien gehören zu 51 Prozent dem Düsseldorfer Technologiekonzern Rheinmetall.

Was bedeutet das alles für Deutschland?

Es bedeutet, dass der Eiertanz weiterhin getanzt wird. Deutschland und Saudi-Arabien sollten weiterhin wirtschaftlich kooperieren und ihre Zusammenarbeit ausbauen. Deutschland muss gleichzeitig weiterhin politischen Druck auf Saudi-Arabiens Regierung in Bezug auf Menschenrechte und den Militäreinsatz im Jemen ausüben. Mit wachsenden wirtschaftlichen Verflechtungen kann gesellschaftlicher Wandel leichter beeinflusst werden. Und es wäre ein guter Anfang, wenn sowohl Saudi-Arabien als auch die Bundesregierung ihren eigenen rechtlichen Verpflichtungen nachkämen.