29.12.2019
„Die Wurzel der Proteste ist der Neoliberalismus”

Acht Jahre nach dem „Arabischen Frühling“ fordern die Menschen wieder einen Systemwechsel. Im Interview erklärt Professor Gilbert Achcar, warum die globale Krise des Neoliberalismus in Westasien und Nordafrika ihren stärksten Ausdruck findet.

2019 war ein globales Protestjahr. Die allermeisten Aufstände aber gab es in Westasien und Nordafrika (WANA). Bereits im Dezember 2018 erhob sich der Sudan, darauf folgte Algerien. In Ägypten und Irak gingen Menschen im letzten Herbst auf die Straße, danach schwappte die Protestwelle in den Libanon und auch nach Iran. Trotz Unterschiede ähneln sich die Forderungen in vielerlei Hinsicht: Die Menschen wollen Lösungen für die schlechte Wirtschaftslage, Umverteilung, ein Ende der Korruption und mehr politische Teilhabe. Rückblickend wirkt 2019 damit wie ein zweiter „Arabischer Frühling“, oder genauer: wie die zweite Welle eines langfristigen revolutionären Umbruchs.

Gilbert Achcar verfolgt diese Entwicklungen genau. Er ist Professor für Internationale Beziehungen und Entwicklungspolitik an der SOAS, University of London, und schreibt unter anderem zur internationalen Politik der Länder in WANA, amerikanischen Außenpolitik und zum islamischen Fundamentalismus. Zu den Aufständen in der arabischen Welt erschien von ihm zuerst The People Want, eine umfassende Bestandsaufnahme der Entwicklungshemmnisse in der Region (2013 bei University of California Press). Im Jahr 2016, als die demokratischen Hoffnungen in WANA bereits begraben schienen, warnte er davor, die antirevolutionäre Welle militärischer Diktaturen und religiöser Fundamentalisten als letztes Wort zu verstehen (Morbid Symptoms bei Stanford University Press). Im Interview erklärt er, warum eine neoliberale Wirtschaftspolitik gekoppelt mit den repressiven Regimen in der Region eine explosive Mischung ergeben.

Ob Hong Kong oder Chile, Ecuador oder Frankreich: 2019 gab es Proteste und Aufstände in verschiedenen Teilen der Welt. Sudan, Algerien, Libanon und Irak: Am Unruhigsten war es in Westasien und Nordafrika. Gibt es etwas, dass all diese Proteste verbindet?

Ja, die Verbindung geht auf das Jahr 2011 zurück. Damals inspirierte der „Arabische Frühling” zum Beispiel die Indignados in Spanien oder die Occupy-Bewegung in den USA. Heute können wir eher von einem synchronen Verlauf sprechen. Die Aufstände der arabischen Welt, gepaart mit den Protesten anderswo zeigen, dass es eine globale Krise des Neoliberalismus gibt. Diese Krise setzte mit der Finanzkrise 2008 ein. Ein Resultat der Krise ist der Aufstieg der extremen Rechten. Mehr und mehr führt diese Krise aber auch zu sozialen Explosionen. Das müsste natürlich auch progressiven Kräften Aufschwung geben. Das ist, was Chile, Ecuador und die Länder Westasiens und Nordafrika verbindet: Hinter diesen Aufständen stecken die Konsequenzen der letzten Dekaden des Neoliberalismus.

Aber es geht doch bei den Aufständen in der arabischen Welt nicht nur um ökonomische Fragen. Steht da nicht genauso ein Streben nach Demokratie und Mitbestimmung im Vordergrund?

Das ist nicht zu trennen. Die unmittelbaren Auslöser der Aufstände sind zwar immer verschieden. Sie mögen sozialer oder politischer Natur sein. Aber die Auslöser sind nur der Zunder auf ein politisches und ökonomisches Pulverfass, das schon seit langem existiert. Denn in Westasien und Nordafrika sind die zerstörerischen Folgen des Neoliberalismus am stärksten zu spüren. Die Jugendarbeitslosigkeit in der Region ist zum Beispiel die höchste der Welt. Wenn sich die politischen Systeme der Region mit dem Markfundamentalismus neoliberaler Ideologie verbinden, dann kommt es zu einer Entwicklungsblockade.

Was sind das für politischen Systeme?

Zuerst mal ist die Region von Rentierstaaten geprägt. Also Staaten, die den größten Teil ihres Einkommens aus nichtproduktiven „Renten” beziehen, in den allermeisten Fällen Öl und Gas. Zweitens sind die Staaten der Region patrimonial geprägt. Das heißt, der Staat ist mehr oder weniger das exklusive Eigentum einer bestimmten Gruppe, zum Beispiel einer Familie. Das gilt auch für „neopatrimoniale” Staaten, wo es zwar formale liberale Regierungsinstitutionen gibt, die aber von einem hohen Grad an Nepotismus und Korruption geprägt sind.

Und was passiert, wenn man diese Systeme mit der Ideologie radikaler Marktfreiheit verbindet?

Man erhält das Schlechteste aus beiden Welten. Privates Kapital hat keinen Anreiz, langfristig und produktiv in die Wirtschaft zu investieren. Stattdessen fließt Kapital in kurzfristige, spekulative Investitionen. Es geht um schnellen Profit. Das bedeutet, dass es kein Wirtschaftswachstum gibt. Das wiederum ist einer der Hauptgründe dafür, dass die Jugendarbeitslosigkeit in der Region so hoch ist. Um auf die Anfangsfrage zurück zu kommen: Es gibt eine globale Krise des Neoliberalismus. Aber in Westasien und Nordafrika ist diese Krise am ausgeprägtesten. Und deswegen gibt es hier die meisten Aufstände.

Blicken wir auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Region selbst. Im Libanon rufen die Demonstrant*innen: „Vom Libanon zum Irak, von Baghdad nach Beirut, das hier ist eine Revolution”. Warum soll das eine Revolution sein? Welche Forderungen werden geteilt?

Auf dem regionalen Level gibt es ein ganz unmittelbares Bewusstsein dafür, dass wir es mit einer regionalen Krise und nicht verschiedenen nationalen Krisen zu tun haben. Was in Sudan und Algerien anfing, geht jetzt im Irak und Libanon weiter. Darüber hinaus kann es gut sein, dass der junge und gebildete Teil der Protestierenden auch ein Bewusstsein für die globale Dimension der Krise hat.

Zum Libanon und Irak: Hier ist die Gemeinsamkeit natürlich, dass beide Länder auf einem konfessionellen System aufbauen. Die dominanten Kräfte in beiden Systemen sind direkt mit Iran verbunden. Deswegen sind die Proteste im Irak so anti-iranisch geprägt. Im Libanon wird das nicht so offen formuliert, weil die Menschen konfessionelle Spannungen und Gewalt fürchten. Aber alle denken an Iran, wenn sich die Hisbollah gegen die Proteste stellt.

In Iran gibt es ja auch einen Aufstand, der brutal niedergeschlagen wird...

In gewissem Sinne sind die sozioökonomischen Probleme in Iran ähnlich wie die in der arabischen Welt. Aber Iran ist ein sehr spezieller Staat: Mit Ausnahme des Vatikans ist es die einzige Theokratie in der gesamten Welt. Es ist die Herrschaft religiöser Männer. Mit den Pasdaran [Revolutionsgarden, Anm. d. Red.] hat diese Herrschaft auch ihren eigenen religiös-ideologischen Apparat. Das ist eine Parallelarmee und eine Parallelökonomie, sehr ideologisch und eng mit dem Regime verwoben. Deswegen ist es so schwer, dieses Regime umzuwerfen.

Aber die US-Sanktionen gegen Iran spielen doch sicher eine gesonderte Rolle?

Die Sanktionen verstärken die sozialen Probleme in Iran, aber sie verursachen sie nicht. Der Grund ist auch hier die massive Ungleichheit, die durch neoliberale Politik herbeigeführt wird. In den letzten neoliberalen Jahrzehnten hat die Ungleichheit weltweit radikal zugenommen. Die Sanktionen verschärfen das Problem: Die Kosten der Sanktionen tragen die Armen in Iran, aber an der Staatspitze bereichern sich die Eliten. Das ist ein wesentlicher Grund, warum die Menschen in Iran auf die Straße gehen.
Zum Vergleich: Die US-Sanktionen gegen Kuba waren über längere Zeit viel härter. Aber dort gab es eine Solidarität zwischen den Regierenden und den Regierten. In Iran aber ist die soziale Ungleichheit so groß, dass von Solidarität mit der Regierung gegen die USA so einfach nicht die Rede sein kann.

Nun gibt es in der Region noch einen anderen religiös geführten Rentierstaat, nämlich Saudi-Arabien, den Gegenspieler Irans. Warum sehen wir dort keine breiten Aufstände?

Auch in Saudi-Arabien gab es seit 2011 Aufstände. Aber Saudi-Arabien ist einer der repressivsten Staaten der Erde. Totalitär. Und auch einer der reichsten: Proteste werden mit Staatsgewalt und aufgedrehtem Geldhahn unterdrückt. Der neue Kronprinz öffnet das Land jetzt auch für gewisse kulturelle Freiheiten. Auch das sind Mittel und Wege, sozialen Frust zu kanalisieren. Aber all das hilft nur kurzfristig: Über kurz oder lang wird es auch in Saudi-Arabien zu sozialen Explosionen kommen. Es gibt eine massive Arbeitslosigkeit im Land. Der Reichtum dort ist verrückt, aber die Armut ist es auch.

Was wäre die Lösung für die Entwicklungsprobleme in der Region?

Die Lösung muss radikal und umfassend sein. Erstmal muss sich die Wirtschafts- und Entwicklungspolitik komplett wandeln. Sie muss sich an den Bedürfnissen der breiten Bevölkerung orientieren. Außerdem muss der Wandel ökologisch nachhaltig sein. Deswegen müssen die Staaten der Region wieder eine massive Rolle im Wirtschaftsleben spielen. Aber die Staaten dürfen dabei nicht mehr den Interessen ihrer schmalen Eliten gehorchen. Sie müssen einer breiten demokratischen Kontrolle unterworfen werden. Die letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass wir uns auf den privat geführten Kapitalismus in der Region nicht verlassen können.

Daniel ist seit 2019 bei dis:orient dabei. Aktuell ist er an der School of History der University of Leeds angestellt und hat Lehraufträge an der SOAS in London, wo er auch promovierte. Zuvor hat er in Bremen, Magdeburg und Montpellier studiert und bei einer deutschen NGO in Jerusalem gearbeitet.
Redigiert von Maximilan Ellebrecht