30.04.2021
Ein Massaker zur Primetime
Augen auf: Geschichtsumdeutung zur Primetime. Illustration: Kat Dems.
Augen auf: Geschichtsumdeutung zur Primetime. Illustration: Kat Dems.

2013 räumte das ägyptische Regime gewaltvoll ein Protestcamp in Kairo und zementierte damit seine Machtübernahme. Nun deutet eine der beliebten Ramadan-Serien den Vorfall zugunsten der Sicherheitskräfte um, beobachtet Hannah El-Hitami.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne Des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Eine schöne Frau mit Schmollmund in Gefahr. Ein Haufen skrupelloser, bärtiger Bösewichte, die Fackeln schwingen und „Allahu Akbar“ schreien. Und ein Supercop der Marke Vin Diesel, der letzteren – natürlich nur mit legitimen, gewaltarmen Mitteln – das Handwerk legt. So oder so ähnlich möchte die ägyptische Militärregierung das Rabaa-Massaker erinnert wissen. Und nun gibt es zum ägyptischen Gedächtnistheater auch endlich den passenden Streifen im Fernsehen. Die aktuelle Fernsehserie „Die Wahl 2“ zeigt eine verzerrte Version der brutalen Räumung des Protestcamps am Rabaa al-Adawiya Platz in Kairo durch die Sicherheitskräfte vor etwa acht Jahren.

Traditionell schauen Ägypter:innen während des Fastenmonats Ramadan jede Menge Serien, und so erscheinen zu dieser Zeit die hochkarätigsten Streifen. Die Produktion „Die Wahl 2“ der regimenahen Medienfirma Synergy nutzt dieses Jahr jene Aufmerksamkeit, um einen Schandfleck in Ägyptens post-revolutionärer Regimegeschichte in ihrem Sinne umzudeuten.

Im August 2013 fand am Rabaa al-Adawiya Platz in Kairo ein Polizeieinsatz statt, den Human Rights Watch als eine der brutalsten Massenhinrichtungen von Demonstrant:innen in der jüngeren Weltgeschichte bezeichnete. Der Einsatz zielte darauf ab, das Protestcamp von Anhänger:innen der Muslimbruderschaft aufzulösen, die dort die Wiedereinsetzung des Ex-Präsidenten Mohammed Mursi forderten.

Der Kandidat aus den Kreisen der Muslimbruderschaft war ab Juni 2012 für ein Jahr der erste demokratisch gewählte Präsident Ägyptens. Dann putschte ihn das Militär unter dem heutigen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi aus dem Amt. Weil seine Anhänger:innen das nicht akzeptieren wollten, belagerten sie wochenlang den Platz nahe der Rabaa al-Adawiya Moschee im Osten von Kairo. 85.000 Männer, Frauen und Kinder waren am 14. August vor Ort, als die Sicherheitskräfte eingriffen und etwa 1000 Menschen töteten, viele durch Kopfschüsse. Tausende weitere wurden verletzt.

Das Rabaa-Massaker in völlig anderem Licht

Die fünfte Folge der Serie „Die Wahl 2“ rückt dieses Ereignis in ein völlig anderes Licht. Die Serie ist zwar nicht frei im Netz verfügbar, der Ausschnitt über die Räumung des Platzes interessanterweise aber schon. Der Titel „Alle Details über die Räumung von Rabaa“ lässt auf den ersten Blick nicht einmal erahnen, dass es sich hierbei um eine fiktive Darstellung handelt. Der Dokumentarfilmeffekt wird verstärkt durch Aufnahmen mit dem Hinweis „Reale Filmaufnahmen“, die zwischen die gedrehten Szenen gemischt sind. Englische Untertitel machen das regimefreundliche Narrativ der Ereignisse um den Rabaa-Platz auch einem internationalen Publikum zugänglich.

Die Kamera folgt einer Gruppe von Polizisten, die den Rabaa-Platz räumen sollen. Während sie sich vorsichtig dem Platz nähern, kündigen sie immer wieder ihre Absicht an, keine scharfe Munition zu verwenden und allen friedlichen Demonstrant:innen ein sicheres Verlassen des Platzes zu ermöglichen.

Die Anhänger:innen der Muslimbruderschaft werden hingegen als skrupellos und brutal dargestellt. Mal drücken sie naiven Mitmenschen Waffen in die Hand und hauen dann ab. Mal fordern sie die Anwesenden dazu auf, sich für den Märtyrertod bereit zu machen. Gleich zu Beginn töten ihre Scharfschützen gezielt Polizeibeamte. Und eine Aufnahme zeigt sogar einen vermummten Demonstranten, der selbst einen seiner Mitstreiter erschießt, um seinen Tod anschließend der Polizei in die Schuhe zu schieben. So kann man die 1000 Toten im Protestcamp natürlich auch erklären.

Die Toten sind „nur“ Islamist:innen

Ein ehrenhafter und hochprofessioneller Sicherheitsapparat gegen die verrohten und rückständigen Islamisten: ein Bild, das Diktatoren in Westasien und Nordafrika seit vielen Jahren gerne bedienen. Ihre Armeen und Einheitsparteien gehen aus dieser Erzählung als einzige Alternative zum Jihadismus hervor. Damit haben sie nicht nur Teile ihrer eigenen Bevölkerungen überzeugt, sondern auch Europa und die USA, die im Namen der Terrorismusbekämpfung seit vielen Jahren repressive Regime unterstützen. Ägypten war letztes Jahr der größte Empfänger deutscher Kriegswaffen.

Kein Wunder also, dass das Rabaa-Massaker weltweit kein allzu großes Aufsehen erregt hat. Die Toten waren ja „nur“ Islamist:innen. Was übrigens nicht heißt, dass eine Militärregierung wie die in Ägypten sich vom Islam distanziert. Im Gegenteil versucht sie sich durch konservative Gesetze und zum Beispiel das Vorgehen gegen die LGBTQ*-Community einen frommen Anstrich zu verpassen und als Hüterin der Religion aufzutreten. Auch dieses Verhalten findet sich in der Serie wieder, als die Sicherheitskräfte während ihres Eingriffs im Protestcamp Korane einsammeln und in Sicherheit bringen.

Der Gründungsmythos des Sisi-Regimes

„Das Regime braucht immer wieder Feinde und Verschwörungen, um seinen Machterhalt zu rechtfertigen“, schreibt der Politologe Maged Mandour. „Aktionen der Massenunterdrückung sind notwendig, um seinen Anhängern zu beweisen, dass diese Feinde existieren.“ Mandour argumentiert, dass die Räumung von Rabaa der Gründungsmythos des Sisi-Regimes sei. Das Regime habe es geschafft, einen solchen Hass auf die Muslimbruderschaft in der Bevölkerung zu schüren, dass diese den Putsch und das Massaker akzeptierte und sogar guthieß.

„Die Strategie war nicht nur, gesellschaftliche Unterstützung für staatliche Repression zu erschaffen, sondern einen Akt des gemeinschaftlichen Tötens zu erzeugen“, so Mandour. Wenn die Gewalt Wille der Bevölkerung ist, so die Logik, dann ist sie legitim. Dann kann sie als zweite Revolution dargestellt werden, ein Narrativ, das die Sisi-Regierung gerne gegen jede Kritik vorbringt.

„Niemand kann sich einem Volk widersetzen, das sich zweimal erhoben hat, 2011 und 2013, um zwei Regierungen zu stürzen“, sagte Präsident Al-Sisi kürzlich in einem Interview mit der WELT. „Und das Volk kann sich noch ein drittes oder viertes Mal erheben, wenn es mit der Regierungsführung nicht einverstanden ist.“ Die Toten vom Rabaa-Platz und die aktuell etwa 60.000 politischen Gefangenen im Land scheint der ehemalige Oberbefehlshaber der ägyptischen Streitkräfte zu diesem „Volk“ nicht dazuzurechnen.

Mehr Arbeiten der Illustratorin Kat Dems finden sich auf ihrem Instagram-Account oder auf ihrer Webseite.

 

Hannah El-Hitami, Jahrgang 1991, ist freie Journalistin in Berlin und schreibt vor allem über arabische Länder, Migration und koloniales Unrecht. Sie studierte Arabische Literatur und Kultur in Marburg und war Volontärin des Amnesty Journals. www.hannahelhitami.com/  
Redigiert von Maximilian Ellebrecht, Anna-Theresa Bachmann