22.10.2019
Ein Mord, ein Krieg und deutsche Interessen
Die Golfstaaten gehören zu den engsten wirtschaftlichen und politischen Partnern der Bundesrepublik. (By abcdz2000, pxhere, licensed under CC BY 2.0, edited by Leon Wystrychowski.)
Die Golfstaaten gehören zu den engsten wirtschaftlichen und politischen Partnern der Bundesrepublik. (By abcdz2000, pxhere, licensed under CC BY 2.0, edited by Leon Wystrychowski.)

Der Mord an Jamal Khashoggi setzte die westlichen Verbündeten Saudi-Arabiens unter Druck. Wie sehen die deutschen Beziehungen zu den arabischen Regimen ein Jahr nach der Affäre aus?

Eine durch erzkonservative religiöse Eliten legitimierte Diktatur; ein Regime, das jede politische Opposition, Frauen und Minderheiten unterdrückt, das mit seinen Milliarden Petrodollars die Staatsideologie in alle Welt verbreitet und militante Gruppen in der Region finanziert – all das ist über Saudi-Arabien seit langem allgemein bekannt. Und doch gehört das Königreich zu den engsten Verbündeten des „freien Westens“. Die zahlreichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit der saudischen Führung im In- und Ausland riefen über Jahrzehnte nicht mehr hervor als folgenlose Verurteilungen durch Menschenrechtsorganisationen und verschämte Kritik einiger EU-Staaten sowie der UN. Kein Wunder also, dass auch der von den Saudis geführte Krieg im Jemen lange nur wenig interessierte. Das änderte sich erst nach dem spektakulären Mord am saudischen Journalisten Jamal Khashoggi vor einem Jahr.

Vom Mord zu den Sanktionen

Bis heute sind nicht alle Umstände der Tat geklärt. Zweifelsfrei belegt ist, dass er am 2. Oktober 2018 das saudische Konsulat in Istanbul betrat, um Unterlagen für seine geplante Hochzeit abzuholen, und das Gebäude nicht mehr lebendig verließ. Laut einem UN-Sonderbericht hatten die Planungen zu seiner Ermordung vier Tage vorher begonnen, nachdem er dort die Papiere beantragt hatte. Was sich an dem Tag selbst abspielte, ist in dem Bericht auszugsweise wiedergegeben. Die Ausschnitte, die sich auf türkische Audioaufnahmen stützen, lesen sich wie ein Krimi. Die offensichtliche Grausamkeit war der Grund, weshalb man sich im Westen gezwungen sah, Schritte gegen das Königshaus einzuleiten. Die Staats- und Regierungschefs der einflussreichsten EU-Länder verurteilten das saudische Vorgehen. Nun stand mit einem Mal die Frage im Raum, wie man mit einem solchen Regime weiterhin zusammenarbeiten könne. Mitte November entschied die Bundesregierung schließlich, keine weiteren Rüstungsgüter an jene Staaten zu liefern, die unter saudischer Leitung Krieg im Jemen führten.

Wenn auch nur inoffiziell bestätigt, so war doch offensichtlich, dass dieser Schritt vor dem Hintergrund des Todes von Khashoggi erfolgte. Der Entschluss entsprach zwar dem im Februar vereinbarten Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD. Wie NGOs und die Opposition jedoch immer wieder kritisierten, hatte die Bundesregierung in den folgenden Monaten keine Anstalten gemacht, diese Vereinbarung umzusetzen. Erst der Fall Khashoggi baute den nötigen Druck auf. Dies entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn man bedenkt, dass die Familie Khashoggi in den 1980er Jahren ein Milliardenvermögen mit Waffengeschäften machte. Jamals Onkel nämlich, Adnan Khashoggi, lieferte damals im Zuge der Iran-Contra-Affäre als Mittelsmann US-amerikanisches Kriegsgerät an den Iran.

Ein Stellvertreterkrieg?

Vor allem aber befürwortete Khashoggi selbst den Krieg im Jemen und folgte dabei dem saudischen Narrativ, wonach es darum gehe, iranischen Einfluss zurückzudrängen. Dieser Darstellung folgen im Westen zwar die meisten Regierungen und Medien, zahlreiche Expert*innen aber äußern ihre Zweifel. So zeigte sich etwa Charles Freeman, der unter George Bush Senior Botschafter in Saudi-Arabien war, überzeugt, dass Teheran erst durch die Politik Riads im Jemen aktiv geworden sei. May Darwich vom GIGA-Institut sieht die Ansarullah-Milizen, die auch als »Houthis« bezeichnet werden, als einen autonom agierenden Akteur, auf den der Iran nur bedingten Einfluss habe. Zwar gilt mittlerweile als sicher, dass sowohl libanesische Hizbullah- als auch iranische Ausbilder seit Längerem im Land sind. Allerdings konnten Waffenlieferungen aus Teheran bis heute nicht bewiesen werden. Der Nahost-Experte Michael Lüders bezweifelt unter Verweis auf den jemenitischen Journalisten Mohammed Aysh, dass aufgrund der Seeblockade der saudischen Koalition überhaupt noch Waffen ins Land kommen können.[1]

Der Islamwissenschaftler Said AlDailami, der im Zuge der Recherchen für sein Buch „Jemen: Der vergessene Krieg“[2] unter anderem mit jemenitischen Militärexperten sprach, meint dagegen auf Nachfrage von Dis:orient: „Im Krieg gibt es immer Wege, wie man Waffen und anderes Gerät ins Land schmuggeln kann.“ Trotzdem weist auch er darauf hin, dass im Jemen schon vor Jahrzehnten das Waffengeschäft blühte. „Saada zum Beispiel, wo die Houthis herkommen, hat schon immer den größten Waffenmarkt des Landes gehabt. Und die Waffen kamen von überall her, auch aus Saudi-Arabien.“ Entsprechend seien die Milizen gar nicht so sehr auf iranische Lieferungen angewiesen. Auch er stellt zudem das Bild des Stellvertreterkrieges infrage. Mittlerweile betrachteten zwar die Fraktionen um die Ansarullah den Iran als Alliierten, allerdings seien die Bündniskonstellationen in diesem Krieg dynamisch und opportun. „Wer heute zu dieser Partei gehört, kann morgen zu einer anderen gehören.“ Vor allem aber ist laut AlDailami die eigenständige jemenitische Identität viel zu ausgeprägt, um sich mit einer ausländischen Macht, sei es mit dem Iran oder einem anderen arabischen Land, zu identifizieren.

Die Bundesregierung dagegen folgt ebenfalls der verbreiteten Darstellung eines Stellvertreterkonflikts. Während die UNO bereits im Februar 2016 von der aktuell  größten humanitären Katastrophe der Welt sprach, erklärte der wirtschaftspolitische Sprecher der CDU/CSU im Bundestag, Joachim Pfeiffer, im Juli desselben Jahres, er sei „froh“ über den saudisch geführten Kriegseinsatz. Angela Merkel hatte über Jahre wiederholt die Golfregime, aber auch Ägypten, als „Stabilitätsanker“ in der Region bezeichnet. Ägypten ist wegen des Suezkanals enorm wichtig für den internationalen Seehandel. Saudi-Arabien wiederum gilt als Gegengewicht zum Iran. Wie AlDailami betont, gilt letzterer auch in Deutschland seit der Revolution von 1979 als Instabilitätsfaktor und als Feind des Westens. Daran hätte auch die relative Annäherung der EU seit dem Atom-Abkommen 2015 nur geringfügig etwas geändert.

Mit Sicherheit gute Geschäfte

Von mindestens ebenso großer Bedeutung für die Haltung der Bundesregierung zu den Regimen dürfte der ökonomische Faktor sein. Das Handelsvolumen zwischen der BRD und den Staaten der saudischen Allianz betrug 2018 rund 27,5 Milliarden Euro.[3] Laut Auswärtigem Amt sind die VAE Deutschlands größter Handelspartner. Außerdem liegen Ägypten und Saudi-Arabien zwar weit hinter Russland, zählen aber immerhin noch zu den zehn wichtigsten Erdöl-Lieferanten der Bundesrepublik.

Am prominentesten und zugleich kontroversesten sind jedoch die deutschen Rüstungslieferungen. Die Bundesrepublik gehört bekanntlich global zu den größten Waffenexporteuren und rangiert regelmäßig auf Platz drei oder vier der Weltrangliste. 2017 genehmigte die Bundesregierung Rüstungsausfuhren in 128 Länder. Zwischen 2014 und 2015 verdoppelte sich der Wert der Exporte nahezu auf 7,85 Milliarden Euro. Seither ist er nur unwesentlich gesunken. Im selben Zeitraum war auch das Exportvolumen in sogenannte Drittländer, also nicht EU- oder NATO-Mitglieder, um nahezu 100 Prozent gestiegen. Wieviel Geld mit Waffengeschäften in der Region zu holen ist, macht Markus Bickel, Chefredakteur des deutschen Amnesty Journals, in seinem Buch Die Profiteure des Terrors deutlich. 2016 hätten „die Rüstungsetats von Ägypten im Westen, über Israel, die Staaten des Golf-Kooperationsrats (GCC) bis Iran“[4] rund 190 Milliarden Dollar betragen. Angesichts dieser Summen wundert es kaum, dass von den Top-Ten-Importländern deutscher Waffen in den Jahren 2013 bis 2017 sechs in Westasien und in Nordafrika liegen: Algerien, Katar, Israel, Saudi-Arabien, Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE).[5] Die drei letztgenannten sind am Jemen-Krieg beteiligt.

Trotzdem schien sich die Bundesregierung unter dem Druck der öffentlichen Meinung schließlich gegen die Interessen der Rüstungsindustrie zu stellen. Allerdings befand sich bereits im Koalitionsvertrag ein Schlupfloch, auf das Kritiker*innen hinwiesen: Dort heißt es nämlich, man werde „keine Ausfuhren an Länder genehmigen, solange diese unmittelbar am Jemen-Krieg beteiligt sind.“[6] Die NATO-Partner USA, Frankreich und Großbritannien, die der Kriegs-Koalition assistieren, sind wie selbstverständlich ohnehin von der Regel ausgenommen. Zudem sollten auch alle bereits genehmigten Exporte ausgeliefert werden. Damit gingen allein in der ersten Jahreshälfte 2019 weiterhin Rüstungsgüter im Wert von über einer Milliarde Euro an sieben Staaten der Kriegsallianz. Im März wurde mit dem Argument, man müsse den europäischen Partnern gegenüber „solidarisch“ sein, verkündet, Ausfuhren von Kriegsgerät, an dem andere EU-Staaten mitgewirkt hätten, müssten weiterhin genehmigt werden. In der Realität hatten deutsche Firmen längst Wege gefunden, Einschränkungen für Waffenlieferungen zu umgehen. So hatte die New York Times bereits im Dezember 2017 nachgewiesen, dass eine Tochterfirma des Essener Konzerns Rheinmetall auf Sardinien Bomben herstellte, die Saudi-Arabien im Jemen gegen Zivilist*innen einsetzte.

Interessen statt Werte

Während erbittert über das Thema der Rüstungsexporte gestritten wurde, geriet im April dieses Jahres die Information in die Öffentlichkeit, dass die Bundeswehr in Kürze sieben saudische Offiziersanwärter ausbilden würde. Der Vertrag hierüber war von Verteidigungsministerin van der Leyen Ende 2016 in Riad vereinbart und im folgenden April unterzeichnet worden – knapp zwei Jahre nachdem der Krieg im Jemen begonnen hatte und zwei Monate bevor ihr Parteikollege Pfeiffer seine Unterstützung für den saudischen Militäreinsatz bekundete. Zwar enthält der Vertrag eine Ausstiegsklausel, nach der die Bundesregierung ihn innerhalb von sechs Monaten einseitig aufkündigen könnte.[7] Stattdessen erklärte sie Anfang September, dass es nach fast einem Jahr Aussetzung nun an der Zeit sei, die Kooperation zwischen saudischer und Bundespolizei wieder aufzunehmen. Diese Zusammenarbeit besteht laut eigenen Angaben in der „Modernisierung des saudischen Grenzschutzes“. Die längste Grenze teilt das Königreich mit dem Jemen und hält sie im Zuge seiner illegalen und verheerenden Blockade geschlossen. Von Seiten der Bundeswehr wie auch Regierungspolitikern wird bei Kritik an der Zusammenarbeit mit autoritären Regimen gerne betont, es gehe bei der Ausbildung ausländischer Soldaten stets auch um die „Vermittlung demokratischer Prinzipien“. Die Aussage von Regierungssprecher Steffen Seibert, die deutsche Außenpolitik sei eben nicht nur werte-, sondern eben auch interessengeleitet, scheint da um einiges glaubhafter. Wie der Friedensforscher Werner Ruf auf Nachfrage betont, müsse die intensive Zusammenarbeit mit den arabischen Regimen vor dem Hintergrund gesehen werden, dass „sich Deutschland zunehmend als große Macht und Spieler im sich herausbildenden multipolaren System“ begreife.

Mitte September teilte die Bundesregierung mit, dass die Waffenlieferungen an Saudi-Arabien weiter ausgesetzt blieben. Dafür wurde in der ersten Oktoberwoche bekannt, dass ausgerechnet den VAE der Kauf von Zubehör für Luftabwehrraketen genehmigt wurde. Die Bundesregierung stützt sich dabei auf das Schlupfloch der „unmittelbar Beteiligten“, weil die Emirate angeblich die meisten Truppen aus dem Jemen abgezogen hätten. Nachprüfbar ist das nicht. Die Rüstungsindustrie aber scheint durch diese Schritte Morgenluft zu schnuppern. Kurz nach Bekanntwerden der Exportfreigabe an die VAE ging der Chef der Airbus-Rüstungssparte, Dirk Hoke, in die Offensive und forderte, die Bundesregierung müsse endlich ihren Kurs in Sachen Waffenexporte an Saudi-Arabien ändern. Damit meinte er freilich, dass sie wieder zum status quo von vor einem Jahr zurückkehren solle. Folgt die Bundesregierung diesem Ruf, war die Sanktionierung Saudi-Arabiens nur ein kurzes Zwischenspiel im Kurs einer “schrittweisen Aufweichung der restriktiven Rüstungsexportpolitik“,[8] den Markus Bickel rund anderthalb Jahre vor dem Mord an Khashoggi als langfristigen Trend ausgemacht hatte.

[1] Michael Lüders: Armageddon im Orient. Wie die Saudi-Connection den Iran ins Visier nimmt, München 2018, S. 175 f.

[2] Said AlDailami: Jemen. Der vergessene Krieg, München 2019.

[3] Die Zahlen stützen sich in erster Linie auf das Auswärtige Amt. Nur in den Fällen Marokko, Jordanien und Bahrain lagen lediglich Daten zu 2017 vor, weshalb hier auf Angaben des Außenwirtschaftsportals Bayer zurückgegriffen wurde.

[4] Markus Bickel: Die Profiteure des Terrors. Wie Deutschland an Kriegen verdient und arabische Diktaturen stärkt, Frankfurt (Main) 2017, S. 26.

[5] Rosa-Luxemburg-Stiftung (Hg.): «Kein Panzer geht in Kriegsgebiete», S. 21, 37. (www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Argumente/lux_argu_Waffenexporte16_dt_11-18.pdf)

[7] Bekanntmachung der deutsch-saudischen Vereinbarung über die Ausbildung saudischen militärischen Personals in Einrichtungen der Bundeswehr. (www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl218s0193b.pdf%27%5D__1570377243695)

[8] Bickel: Profiteure des Terrors, S. 14.

Leon studiert Geschichte und Orientalistik/Islamwissenschaft an der Ruhr-Uni Bochum mit den Schwerpunkten Politik und Neuere und Neueste Geschichte. Bislang besuchte er Ägypten, die Türkei, Iran, Israel, Palästina und Oman.
Redigiert von Christopher Resch, Adrian Paukstat