26.01.2021
Es geht am Ende um alles
Mariana Karkoutly Bild: Privat
Mariana Karkoutly Bild: Privat

Warum die Aufhebung des Abschiebestopps nach Syrien nicht nur Syrer:innen sondern auch Deutsche etwas angeht. Ein Kommentar.

„Syrien ist nicht sicher! Keine Deals mit Assad!“ hallt es Anfang Dezember 2020 in die klirrende Kälte vor dem Bundesinnenministerium in Berlin unter den Masken hervor. Eine Gruppe syrischer und deutscher Aktivist:innen steht vor dem Ministeriumsgebäude mit Schildern und Transparenten. Sie demonstrieren gegen die Aufhebung des Abschiebestopps nach Syrien, die ab dem 1. Januar 2021 Gültigkeit hat. Ihre Hände klammern sich an Pappschilder, auf denen steht „Keine Deals mit Massenmördern“ und „Keine Abschiebung in Folterstaaten“.

Die graue Kälte an diesem Morgen war wie ein Vorbote für die eiskalte Entscheidung, welche die Innenminister:innen ein paar Tage später fällten: der Abschiebestopp nach Syrien läuft zum 31.12.2020 aus. Das bedeutet, dass Straftäter:innen und sogenannte Gefährder:innen nach Einzelfallprüfungen ab 2021 nach Syrien abgeschoben werden dürfen. Wie das allerdings gehen soll, ist völlig unklar, da Deutschland keine diplomatischen Beziehungen zum Assad Regime unterhält.

Nach Syrien abzuschieben ist also derzeit nicht nur praktisch unmöglich, sondern es ist auch das völlig falsche Signal. Die Wahlkämpfe 2021 auf Landes- und Bundesebene scheinen eher der ausschlaggebende Faktor für die Entscheidung der Unionspolitiker:innen zu sein. Denn eins sollte mittlerweile klar sein: Rückkehrer:innen werden vom Assad Regime als Feinde angesehen und dementsprechend behandelt. Syrischen Geflüchteten in Deutschland ist klar, dass eine Rückkehr riskant ist. Das Syrische Netzwerk für Menschenrechte (SNHR) dokumentierte bereits 62 Verhaftungen von Zurückgekehrten  aus dem Libanon, allein von Januar bis September 2020.

Diese Entscheidung ist auch aus einem anderen Grund fatal: Menschenrechte erlöschen nicht, weil jemand straffällig wird.  Vor allem der Krieg gegen den Terror scheint diese Tatsache bedauerlicherweise immer wieder aufzuweichen. Doch immer wieder ist durch renommierte Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch klargestellt worden, dass in Assad Gefängnissen massiv gefoltert und gemordet wird. Unterdessen wird in den Programmen deutscher Entwicklungszusammenarbeit Rechtsstaatlichkeit großgeschrieben. Was für eine Vorbildfunktion hat das Wirken deutscher Innenpolitik?  „Wenn es geht, vermeiden wir diese Standards“ - könnte man daraus lesen, wenn Deutschland lieber in Folterstaaten abschiebt, statt Straffälligen den Prozess zu machen.

„Syrien ist nicht sicher“

Die Demonstration vor dem Bundesinnenministerium ist eine von vielen, die die Kampagne „Syria Not Safe“, also „Syrien (ist) nicht sicher“ initiiert hat. In dieser Kampagne haben sich Aktivist:innen vor zwei Jahren unter dem Dach der deutschen Organisation „Adopt a Revolution“ zusammengeschlossen, die in Berlin ansässig ist und auf die wichtige Arbeit der syrischen Zivilgesellschaft aufmerksam macht. Bereits zu jener Zeit war den Aktivist:innen klar, dass sie sich in ihrer Arbeit zunehmend auf deutsche Innenpolitik konzentrieren müssen, um nicht, wie im Falle des zutiefst unsicheren Iraks oder Afghanistans längst üblich, Abschiebungen zu ermöglichen, sagt Mariana Karkoutly, eine junge Syrerin, die die Kampagne mit organisiert.

Begonnen hat die Kampagne, als sich 2018 die Innenminister:innen darauf einigten, den Abschiebestopp nach Syrien alle sechs Monate zu überprüfen und zu analysieren, ob gewisse Gebiete in Syrien sicher für Rückführungen seien. Die deutschen und syrischen Aktivist:innen formten eine Koalition mit Familien von Gefangenen und Verschwundenen, wie den Familien für die Freiheit, sowie Anwält:innen und anderen Initiativen.

Es gehe vor allem darum, „deutschen Politikern zu vermitteln, warum Syrien nicht sicher ist“, sagt Mariana. Das Auswärtige Amt stellt im Gegensatz zu Innenpolitiker:innen immer wieder klar, dass Sicherheit in Syrien nicht davon abhängt, wohin man geschickt wird, sondern wer man ist beziehungsweise als wer man wahrgenommen wird. Soll heißen, es geht vor allem darum, aus welcher Familie man stammt, welche Beziehungen man hat, aus welchem Stadtteil man kommt, oder ob der eigene Name aus irgendeinem Grund auf der gewaltigen Liste von mindestens 1.4 Millionen gesuchten Syrer:innen auftaucht.

Das syrische Paradox in Deutschland

Gleichzeitig, mit der Diskussion um diese innenpolitische Entscheidung, wird in Deutschland der weltweit erste Strafprozess gegen ehemalige Regimeangehörige geführt. Seit April 2020 stehen Anwar R. und Eyad A. – zwei ehemalige Funktionäre des Allgemeinen Geheimdienstdirektorats von Syriens Präsident Baschar al-Assad – in Koblenz vor Gericht.

Anwar R. steht unter dem Verdacht, zwischen April 2011 und September 2012 als Mittäter für die Folter von mindestens 4.000 Menschen, die Tötung von 58 Menschen und der sexuellen Gewalt in der Haftanstalt der sogenannten Al-Khatib-Abteilung in Damaskus verantwortlich zu sein. Sein Mitarbeiter Eyad A. ist hingegen wegen Beihilfe zu Folter in mindestens 30 Fällen angeklagt.

Es sind nicht ein paar Einzeltäter:innen, sondern es ist das syrische Regime, in dessen Auftrag gefoltert wird - Tausendfach mit Todesfolge. Angesichts dessen, was man über die Verhältnisse in Syrien allein aus diesem Verfahren erfährt, ist die Entscheidung der Innenminister:innen umso grotesker.

Dieses Paradox empfinden Syrer:innen besonders schmerzlich in den letzten Tagen. Besonders diejenigen, die sich politisch engagieren und sich trauen, öffentlich zu sprechen über das, was sie und andere erlebt haben. Einer von ihnen ist der Aktivist Samer Al Hakim. Er bekam im Dezember 2018 von der Stadt Nürnberg für sein ehrenamtliches Engagement den „EhrenWert-Preis“ verliehen. Der Preis wird unter anderem von den Nürnberger Nachrichten mit gefördert.

Al Hakim gab den Preis nun aus Protest zurück und schrieb in seinem Statement: „Die Berichterstattung der Nürnberger Nachrichten in den letzten Tagen über Abschiebungen in den Folterstaat Syrien hat mich erschüttert und tief verletzt. Sie banalisiert eines der schlimmsten Folterregime der Welt, verhöhnt seine unzähligen Opfer, ignoriert einen immer noch andauernden Massenmord, wirbt für eine klare Verletzung der Menschenrechte, stellt eine überwiegend friedliche syrische Community unter Generalverdacht und heizt Rassismus gegen Migrant:innen an[...].“[1]

Dubioser Volkswille

Dass es gar keinen Druck aus der Bevölkerung gibt, spricht Mariana auch klar an: „Ich sehe nicht, dass die Deutschen auf die Straße gehen und Abschiebungen nach Syrien fordern. Trotzdem sagen die Innenminister:innen in unseren Gesprächen mit ihnen, dass sie diese Entscheidung treffen, um den Willen der Bevölkerung abzubilden. Aber das sehe ich nicht so: Ich sehe im Gegenteil eine übermäßige Berichterstattung der Medien, wenn ein syrischer Flüchtling straffällig wird, auch wenn sie einen sehr kleinen Anteil der Straffälligen darstellen.“

Entgegen dieser medial aufgebauschten Wahrnehmung sieht die Realität anders aus. So bestätigte das Bundeskriminalamt bereits 2018, dass Geflüchtete aus Kriegsgebieten und Konfliktregionen in Deutschland seltener straffällig werden als Asylbewerber:innen aus friedlicheren Teilen der Welt.

Im Jahr 2017 kamen zwar 35.5 Prozent aller Geflüchteten und Asylsuchenden aus Syrien, unter den tatverdächtigen Zuwanderer:innen lag ihr Anteil aber lediglich bei 20 Prozent. Auch 2020 bestätigte das BKA dies wieder: „Der Anteil der Fälle mit tatverdächtigen Zuwanderern aus Syrien, Afghanistan und dem Irak war weiterhin niedriger als der Anteil dieser Nationalitäten an der Gruppe der Zuwanderer“, hieß es in ihrer jährlichen Kriminalstatistik im Kontext von Zuwanderung für das Jahr 2020.

Eine Entscheidung, die alle trifft

„Wir haben irgendwie befürchtet, dass der Abschiebestopp vielleicht nicht verlängert wird. Aber als es dann wirklich feststand, waren wir trotzdem geschockt.“ Mariana sagt aber im selben Atemzug, dass sie weitermachen wird. Sie entwickeln gemeinsam mit spezialisierten Anwält:innen Ideen für eine Beratung von Syrer:innen, die abgeschoben werden sollen.

„Verbrecher oder nicht, niemand sollte solchen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sein, wie sie in Syrien existieren. Ehrlich gesagt, mache ich mir aber um alle Sorgen.“ Denn es geht am Ende auch darum, dass das Kippen des Abschiebestopps für Gefährder:innen und Verbrecher:innen mittel- beziehungsweise. langfristig dazu führt, dass auch andere abgeschoben werden können.

Was bedeutet es aber, dass wir in Deutschland offensichtlich trotz dieser Fakten keine Bedenken haben in einen Folterstaat abzuschieben? Für Mariana liegt es daran, dass die „rechte Ideologie uns tief in diese Debatte getrieben hat und sogar die Politik der Bundesregierung antreibt.“ Deutschland mit seinen rechtsstaatlichen Verfahren und Prinzipien, und einem in den letzten Jahren immer stärker werdenden Profil beim Weltrechtsprinzip, nimmt also wegen einer Handvoll Straffälliger Abstand von Menschenrechten.

Die Unfähigkeit der Innenminister:innen, gemeinsam für diese universal geltenden Rechte zu handeln, zeigt, wie weit wir uns schon daran gewöhnt haben, Werte, die nicht verhandelbar sind, zu relativieren. Und das ist nicht nur für Geflüchtete gefährlich, sondern geht uns alle an.

[1] Hier geht es zu Samer Al Hakims kompletten Brief.

 

 

 

Anna Fleischer koordiniert das Syrien-Programm der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut.
Redigiert von Henriette Raddatz, Anna-Theresa Bachmann