05.10.2015
Februniye Akyol Akay – zwischen Kampf und Hoffnung. Eine Bürgermeisterin im Südosten der Türkei
Februniye Akyol Akay in ihrem Amtssitz in Mardin. Photot: Privat.
Februniye Akyol Akay in ihrem Amtssitz in Mardin. Photot: Privat.

Februniye Akyol Akay, aramäische Christin, regiert seit 2014 als Bürgermeisterin der Stadt Mardin im Südosten der Türkei, gleichberechtigt in einer Allianz mit dem 71-jährigen kurdischen Stammesfürsten Ahmet Türk. Sie ist 26 Jahre alt und die einzige christliche Bürgermeisterin der Türkei. Ein Interview zur derzeitigen politischen Situation von Uta Freyer

Alsharq: Frau Akyol Akay, wie ist Ihre Einschätzung der Beziehungen zwischen Kurden in der Türkei und der türkischen Regierung? Das Verhältnis ist ja im Moment ziemlich angespannt.

Februniye Akyol Akay: Der kurdische Kampf für die Anerkennung ihrer Rechte dauert nun schon hundert Jahre. Die kurdische Bewegung hat sich in dieser Zeit politisch organisiert, sie haben verschiedene Parteien gegründet und die bewaffnete Bewegung PKK. Insbesondere die letzten 40 Jahre waren sehr angespannt, geprägt von Kämpfen und vielen Toten. Nicht nur in der PKK, auch in der Bevölkerung gab es unzählige Opfer.

In den letzten drei Jahren hatte sich die Situation spürbar verbessert, es gab aktive Friedensbemühungen von beiden Seiten, die Friedensverhandlungen wurden ernsthaft geführt. Seit den Parlamentswahlen im letzten Juli, in denen die HDP die 10-Prozent-Hürde überwunden hat und ins Parlament eingezogen ist, ist die Lage jedoch wieder sehr gespannt.

Das liegt daran, dass die Regierungspartei AKP den Erfolg der pro-kurdischen HDP nicht hinnehmen kann, nicht akzeptieren kann, dass sie die absolute Mehrheit im Parlament verloren hat. Erdoğan muss jetzt in Koalition mit Oppositionsparteien gehen, um weiterhin genug Entscheidungsgewalt zu haben. Nun stachelt er Konflikte an, verursacht bewusst Spannungen in der Bevölkerung, um zu erreichen, dass er bei den Neuwahlen am 01. November wieder mehr Stimmen erhält. Das ist seine Strategie, um seinen Verlust der letzten Wahlen auszugleichen.

Aramäer in der Türkei Februniye Akyol Akay ist geboren und getauft unter dem aramäischen Namen Fabronia Benno, den sie jedoch offiziell nicht führen darf. Stattdessen hat der türkische Staat ihr den Namen Akyol verordnet. Die Aramäer, auch Assyrer genannt, sind syrisch-orthodoxe Christen. Rund 3000 Christen leben heute noch in der südostanatolischen Gebirgsregion um Midyat, aus der auch Fabronia stammt. Dort befinden sich die ältesten Klöster der Welt und noch heute wird die Sprache Jesu, Aramäisch, gesprochen. Fast alle aramäischen Christen, deren Anzahl früher 50 000 betrug, sind aus der Türkei insbesondere nach Europa ausgewandert. Sie werden in der Türkei nicht als Minderheit anerkannt.

Die Kurden werfen der türkischen Regierung vor, nicht aktiv genug gegen die Bewegung des „Islamischen Staates“, IS, vorzugehen. Teilen Sie diese Auffassung?

Natürlich teile ich die Auffassung der Kurden. Ich habe das mit eigenen Augen gesehen, dass die türkische Regierung den IS unterstützt. Als ich an der syrischen Grenze war, um den Kampf um Kobane zu unterstützen, sah ich die IS-Anhänger ungehindert die Grenze von der türkischen Seite nach Syrien überqueren. Die IS-Kämpfer haben unseren Autokonvoi angegriffen, Menschen, die dort waren, um Kobane zu unterstützen.

Das türkische Militär schaut tatenlos zu, wenn der IS gegen die Kurden kämpft, sogar, wenn die Kämpfe auf türkischem Boden stattfinden. Es gab bewaffnete Autos der IS-Kämpfer in Syrien, das waren Autos, die die Türkei bereitgestellt hatte. Nicht aus einem anderen Land – nein – aus der Türkei! Man kann also überall deutlich erkennen, dass das türkische Parlament keine klare Stellung gegen den IS bezieht.

Wie schätzen Sie die Strategie des türkischen Staates ein, warum bekämpfen sie den IS nicht direkt? Welches Vorgehen erhoffen Sie sich von der türkischen Politik im Vorgehen gegen die Bewegung des Islamischen Staates?

Der IS ist nicht nur gefährlich für andere Länder, sondern genauso eine der größten Gefahren für die Türkei. Die Türkei unternimmt jedoch nicht einmal etwas gegen Treffen auf türkischem Boden, bei denen der IS sich in der Türkei organisiert – die türkische Politik müsste schon in der Türkei anfangen, gegen die Treffpunkte, die IS-Gruppen nutzen, vorzugehen. Sie müssten einfach das, was sie in der Theorie sagen, in die Praxis umsetzen: In Bezug auf Syrien, in Bezug auf die türkische Innenpolitik.

In Suruc fand am 20. Juli ein Treffen statt, zu dem junge Leute aus Istanbul anreisten – nicht nur Kurden, auch andere Aktivisten -, um die Bevölkerung aus Kobane zu unterstützen. Unmittelbar während ihrer Pressekonferenz explodierte eine Bombe. 33 oder 34 Menschen wurden dabei getötet. Der dreijährige Friedensprozess zwischen der Türkei und den Kurden ist seit dem Tag des Attentats in Suruc unterbrochen.

Ich glaube, dass in Wirklichkeit nicht IS Urheber dieses Attentats war. Aber die türkische Regierung behauptete dies, weil es in ihre Strategie passt, und kündigte gleichzeitig ein entsprechendes militärisches Vorgehen gegen den IS an. In der Praxis greifen sie dann jedoch die PKK und die kurdische Bevölkerung an. Sie haben lediglich nach einem Vorwand gesucht und unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den IS bekämpfen sie nun die Kurden. Die türkische Politik zielt ausschließlich darauf ab, wie sie die kurdische Unabhängigkeitsbewegung eindämmen können. Das kann einfach nicht sein. Der IS ist eine barbarische Gruppe, die jeden gefährdet. Nicht nur die Kurden, sondern jeden.

Was erwarten Sie in der derzeitigen politischen Situation von den Kurden? Wie sollte sich die kurdische Fraktion in die Friedensverhandlungen einbringen?

Die Kurden tun, was sie in der derzeitigen politischen Situation tun müssen. Wenn Sie der Lage aufmerksam folgen, können Sie sehen, dass die Kurden immer noch laut nach Frieden rufen. Die HDP ruft nach Frieden, auf der internationalen Ebene genauso wie auf der innenpolitischen Ebene. Die Kurden schreien danach, dass die Kämpfe aufhören. Es ist die türkische Regierung, die immer wieder angreift, ohne dass die Kurden etwas tun können. In diesem Krieg ist das simple Fußvolk das Opfer, sie werden umgebracht, so wie man das derzeit in Cizre beobachten kann.

Die Spannungen sind ja nicht erst nach den Wahlen im Juli aufgekommen. Auch schon vor den Wahlen gab es Bombenattentate, es gab gewaltsame Stürmungen der Parteibüros der HDP vor und nach den Wahlen, und Attentate auf die Zivilbevölkerung hier in der Region. Die HDP ist bemüht, mit ihren Anstrengungen zur Weiterführung der Friedensverhandlungen alle mit ins Boot zu holen: die kurdische Bevölkerung, die von der türkischen Politik sehr enttäuscht ist, und die PKK, damit die Kämpfe beendet werden. Die einzige Antwort der Regierung auf diese Bemühungen sind jedoch Angriffe und Bomben.

Es ist also nicht so, dass die Kurden der Auffassung sind, dass der Friedensprozess gescheitert wäre. Die PKK hat öffentlich erklärt, dass sie nicht angreifen werden, sich allerdings im Falle eines Angriffs verteidigen werden. Sie werden also selbst keinen Kampf beginnen, aber weiterhin Präsenz zeigen, solange, bis die Friedensverhandlungen wieder offiziell aufgenommen werden.

Seit der Gründung des türkischen Staates 1923 versucht die Türkei, die Minderheiten in der Türkei gegeneinander auszuspielen. Ein Beispiel dafür sind die Ereignisse vom 06./07. September 1955, als der türkische Staat gewaltsam gegen Christen in Istanbul vorging, so dass diese nach Griechenland und in andere Länder geflohen sind. Die türkische Politik will keine Christen in der Türkei. In der Geschichte kann man deutlich erkennen, dass sie Moslems gegen Christen ausspielen, auch die Yesiden gegen die Alewiten. Es ist immer dieselbe Politik, die sich wiederholt: Die Kontrolle über Minderheiten zu erlangen, indem man sie gegeneinander ausspielt. Diese politische Strategie wird aktuell wieder gegen die Kurden angewendet: Die Regierung hetzt jetzt wieder die türkische gegen die kurdische Bevölkerung auf, um ihre Macht zu sichern. Was können die Kurden noch machen? Sie versuchen alles, sie versuchen die militärischen Auseinandersetzungen zu vermeiden, sie schreien nach Frieden. Es reicht, was sie für den Friedensprozess tun!

Die pro-kurdische „Demokratie der Völker“, HDP Die HDP wurde 2012 von gemäßigt linken, überwiegend kurdischen Gruppen als Schwesterpartei der DBP gegründet und zog im Juli 2015 in das türkische Parlament ein. Obwohl das türkische Kommunalwahlrecht es nicht vorsieht, hat die Partei als Modellcharakter alle Leitungspositionen mit quotierten Doppelspitzen besetzt; es regiert also eine Frau gleichberechtigt mit einem Mann. Diese Doppelbesetzung der Bürgermeisterposten hat im Kurdengebiet eine Reihe junger Frauen an die Macht gebracht; eine Frauenquote hat in der Türkei mit ihrer patriarchalen Struktur keine andere Partei.

Frau Akyol, Sie sind Aramäerin. Kurden und Aramäer hatten in der Vergangenheit keine guten Beziehungen zueinander. Sie persönlich haben allerdings angefangen, mit der kurdischen Bewegung zu kooperieren. Was hat diese Veränderung veranlasst?

Vor 1950 und im Osmanischen Reich gab es starke Bestrebungen für eine türkisch-islamische Ausrichtung. Im Zuge dessen wurden die Kurden dieser Region instrumentalisiert, sie versuchten, Kurden zu islamischen, fanatischen Menschen zu formen und sie gegen andere Minderheiten aufzuhetzen. Da ging es nicht nur um uns Aramäer, sondern auch um andere nicht-islamische Minderheiten. Die Strategie hatte Erfolg, die kurdische Bevölkerung kämpfte gegen andere Gruppierungen, die nicht derselben Religion angehörten, gegen Aramäer, Yesiden, gegen alle anderen. Im Jahr 1915 fand ein Genozid statt, „Sayfo“ genannt. In dem Massaker wurden unzählige Christen ermordet und andere Minderheiten in Mesopotamien, die hier schon seit tausenden von Jahren lebten. Auch die Kurden waren an dem Massaker beteiligt, ich würde sagen, dass sie eine Gehirnwäsche durchgemacht hatten, sie waren vom islamisch-türkischen Staat dazu gebracht worden.

Danach jedoch, in den letzten 40 Jahren, setzte sich die kurdische Bewegung für eine Demokratisierung des Landes und für die kommunale Entscheidungsfreiheit der Gemeinden hier in Mesopotamien ein. Das sind nicht nur die Kurden, die zu der Bewegung zählen, es gehören auch Angehörige anderer Religionen und Ethnien zu der Bewegung.

Die Kurden haben in der Vergangenheit Fehler gemacht, sie haben mein Volk umgebracht. Aber sie stehen dazu, sie haben sich öffentlich entschuldigt, und ich denke, wir müssen jetzt zusammenhalten gegen eine Politik, die uns Minderheiten auseinander bringen will.

Wir leben hier alle seit tausenden von Jahren zusammen, und ich glaube daran, dass wir Frieden miteinander schließen können.

Wie ist es für Sie, als Frau in der Politik zu sein, bezogen auf die Kommunalpolitik, aber ebenso auf internationaler Ebene?

Das ist eine schöne Frage (lacht). Ich möchte dazu noch mal etwas ausholen, weil die Frage kaum mit wenigen Worten beantwortet werden kann, und weil es mir ein Anliegen ist, dieses Thema in die Welt zu bringen.

Ich wünsche mir, dass unser System der Doppelspitzen im Bürgermeisteramt ein Beispiel für die Welt wird. Dieses Modell gibt es bisher nur hier, nirgends anders auf der Welt: Seit der letzten Kommunalwahl im Juni 2014 sind alle Bürgermeisterposten in der Region doppelt besetzt mit einer Frau und einem Mann. Es gibt keine Unterschiede zwischen uns, wir entscheiden alles gleichberechtigt.

Allerdings akzeptiert die türkische Verwaltung mich in meinem Amt nicht. Sie schickt von mir unterschriebene Dokumente wieder an uns zurück. Diese Erfahrung machen auch all die anderen Städte hier, Nusaybin, Diyarbakir, überall, wo die HDP regiert: Die Unterschriften der weiblichen Bürgermeisterinnen werden nicht anerkannt.

Als die kurdische Bewegung vor 40 Jahren begann, war das nicht nur eine Bewegung für die Freiheit der Kurden, es ging genauso um die Befreiung der Frauen: es ist eine Bewegung aller Menschen, die sich für Demokratie aussprechen. Es war meine Entscheidung, dieses Amt anzutreten. Ich sehe es als große Verantwortung, das in die Welt zu bringen, und das war für mich nicht leicht. Es ist mir aber eine Ehre, hier in dieser Position als Frau zu sitzen, und ich werde versuchen, meine Arbeit so gut wie möglich auszuführen.

Die Frauen in dieser Region leiden an Benachteiligung. Wie lautet ihre Strategie, um die Situation zu verbessern?

Ich möchte diesbezüglich nochmals auf die kurdische Freiheitsbewegung zurückkommen, die vor 40 Jahren begonnen hat. Es ging in der Bewegung nicht nur um die Freiheit der Kurden, sondern auch, und ganz besonders, um die Freiheitsbewegung der Frauen. Es geht darum, das Bewusstsein der Frauen zu erwecken, dass sie nicht weniger wert sind als Männer.

Als Bürgermeisterin von Mardin ist es mir sehr wichtig, mich für Frauenzentren hier in der Region, in Mardin und in anderen Kleinstädten, die zur Kommune gehören, einzusetzen. Wir fangen auf der lokalen Ebene an, das Bewusstsein zu wecken, so dass die Frauen anfangen, das Problem selbst zu bekämpfen – nicht körperlich natürlich, sondern im Bewusstsein, im Erkennen des Problems. Wir haben Frauenzentren gegründet, die Frauen besuchen können, um Kurse zu absolvieren und um über ihre Probleme und psychischen Belastungen zu reden.

Wir versuchen auch, Frauen, die Gewalterfahrungen erlebt haben und zu uns kommen, zu unterstützen, indem wir mit ihrem Mann sprechen. Wenn das nicht hilft, versuchen wir, andere Autoritäten zu involvieren, auf die der Mann sich einlässt. Es gibt zwar viele Gesetze, aber viele davon greifen hier in der Region nicht. Alteingesessene Autoritäten aus Familien, die hier einen guten Stand haben, werden eher gehört.

In dieser Region herrscht seit Tausenden von Jahren ein System, in dem die Männer über die Frauen gestellt sind. Es wird nicht einfach werden, das aufzubrechen. Das Thema ist nicht nur ein spezielles Problem dieser Region, es ist ein Problem des gesamten Nahen Ostens. Auch im Westen gibt es diese Probleme, aber dort sind sie nicht so ausgeprägt wie hier.

Hört man sich in anderen Kanälen zu dem Thema um, könnte man zu dem Schluss gelangen, die Situation hier sei sehr schlecht. Ja, wir haben große Probleme, aber mit dem Kampf um Freiheit und Demokratie sind es in erster Linie die Frauen, die auf die Straße gehen. Die Situation beginnt langsam, sich zu verbessern, und wir werden unsere Maßnahmen mit großer Ernsthaftigkeit weiter verfolgen.

Die Revolution und der Freiheitskampf um Kobane zeigen der Welt, dass wir hier sehr starke Frauen haben, die etwas bewegen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Artikel von Uta Freyer